Gäbe es eine höhere Gerechtigkeit ohne irdischen Anker, könnten sich die Kurden als Sieger der Geschichte fühlen. Noch nie, so hat es den Anschein, war die Zeit günstiger, einen kurdischen (National-)Staat zu gründen. Schon ist von einem Großkurdistan die Rede, das Gebiete im Nordirak, in Südostanatolien, in Nordsyrien bis zum Nordwesten des Iran erfasst, wo es mit der Republik von Mahabad 1946 kurzzeitig die erste Kurden-Souveränität gab. Es würde ein neues Staatswesen entstehen, während ringsherum Staaten das Zeitliche segnen wie der Irak und Syrien oder existenziell gefährdet sind wie der Libanon oder abdanken wie Libyen oder als Besatzungsgebiet vor sich hin dämmern wie die Westbank und Gaza. Die Umbrüche im Nahen Osten wie in Nordafrika, die von der Arabellion 2011 bis zum Bürger- und Glaubenskrieg in der Levante reichen, erzählen von einer territorialen Neuordnung – Ausgang offen.
Vom Ausmaß und der Radikalität her könnte es diese Zäsur mit dem aufnehmen, was nach dem Ersten Weltkrieg durch die Selbstaufgabe und Zerstörung des Osmanischen Reiches ausgelöst wurde. Mehr noch, die jetzige Neuordnung wäre ohne die vor hundert Jahren weder denkbar noch erklärbar. Was sich rächt, sind die Sünden einstiger Staatenbildung im Orient und in Kleinasien, die von Willkür und Großmachtinteressen mehr beherrscht war als dem Vermächtnis – dem konfessionellen wie ethnischen – der Region. So ist die Levante (Syrien, Jordanien, Libanon, Irak) unter einen Pflug geraten, den nicht allein die Kombattanten des Islamischen Staates (IS) durch die arabische Landschaft ziehen. Es mag banal klingen, aber die seit dem Arabischen Frühling aufgebrochenen Konflikte sind auch eine Konsequenz jener politischen Geografie, wie sie einem Subkontinent nach dem Ersten Weltkrieg verordnet war.
Nach 1918 zerfiel nicht nur Österreich-Ungarn, mutierte nicht allein die Zarendynastie nach Revolution und Bürgerkrieg zur 1922 ausgerufenen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Das Osmanische Reich musste gleichfalls bezeugen, dass die Zeit der multinationalen Imperien vorbei, stattdessen die der Nationalstaaten angebrochen sei. Als in Europa, 1919 dekretiert durch den Versailler Vertrag, aus der Erbmasse Habsburgs souveräne Staaten wie die Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien und Österreich (als direkter Nachfahre der Donaumonarchie) entstanden, gab es im Nahen und Mittleren Osten einen vergleichbaren Vorgang. Mit dem Abkommen von Sèvres (1920) zwischen den Siegermächten des Weltkrieges und der Regierung in Konstantinopel unter Großwesir Ferid Pascha wurde das Osmanische Reich förmlich gesprengt, auf dass es für alle Zeit versunken bleibe.
Die Grenzen von Sèvres
Es gingen daraus 17 Staaten oder staatsähnliche Einheiten hervor, die entweder wie Griechenland und Armenien Gebiete zugesprochen bekamen oder wie Palästina zur Heimstätte des jüdischen Volkes erklärt wurden. Letzteres ein Schachzug, der bis in die Gegenwart nachwirkt. In Paris und London rechnete man damit, dass die Juden dank solcher Privilegierung in der Region keinen Freund, aber jede Menge Feinde finden und daher westliche Alliierte brauchen würden. Die Toten mehrerer Nahostkriege belegen – das war kein Irrtum.
Die anderen neuen Entitäten durchliefen als Kolonien, Protektorate oder Völkerbund-Mächten überantwortete Mandatsgebiete das Vorstadium einer Staatenbildung. An Großbritannien fielen Zypern, Mesopotamien (der heutige Irak) und Palästina; an Frankreich Syrien, der Libanon, Tunesien und Marokko, Italien hielt Libyen und die Mittelmeerinseln Rhodos und Dodekanes. Es wurden Grenzlinien gezogen, die in der Regel ein multiethnisches und multikonfessionelles Patchwork arrondierten. Ein Muster an innerem Zusammenhalt stand kaum in Aussicht, ein kolonial beherrschbares schon eher. Was es innerhalb dieser Territorien an Clan-Fehde, dynastischer Loyalität oder religiöser Dissonanz gab, fand sich von den geopolitischen Bedürfnissen Großbritanniens oder Frankreichs überlagert, wie der Fall Syrien zeigt.
Dort wurde der bedrängten, von sunnitischen Ulama über Jahrhunderte als Häretiker geschmähten Sekte der Alawiten die Chance eines Aufstiegs zuteil, den ihr die französische Mandatsmacht absichtsvoll anbot. Während das sunnitische Establishment dank der zugestandenen Hegemonie auf dem Basar domestiziert schien, konnten die besitzlosen Alawiten eine militärische oder administrative Laufbahn einschlagen und Schlüsselpositionen besetzen. Die Mandatsmacht schuf und privilegierte eine Elite, die wusste, was bei Gunstentzug verloren ging. Als arrivierte Statthalter dachten die Alawiten natürlich nicht daran, das Feld zu räumen, als 1946 die Stunde eines souveränen Syriens schlug. Aus dem Geltungswillen einer Minorität erwuchs staatliche Führungsmacht, die Millionen Sunniten in Schach hielt, besonders die Muslimbrüder. Als Anfang der achtziger Jahre unter dem Präsidenten Hafiz al-Assad der säkulare Staat der Alawiten mit brachialer Gewalt gegen einen muslimischen Gottesstaat behauptet wurde, brach ein Abgrund auf, aus dem irgendwann Bürgerkrieg emporsteigen musste.
Was von Syrien eines Tages übrig bleibt, wird nicht Syrien sein. Bestenfalls ein Rumpfstaat der Alawiten, Drusen und Christen, auf die Schutzmacht Iran und die Koexistenz mit einem neuen sunnitischen Kernstaat in der Levante angewiesen, dessen fundamentalistische Substanz davon abhängt, ob und wie der Islamische Staat (IS) zu schlagen ist. Jedenfalls verhöhnt es die Historie, wenn derzeit ausgerechnet Frankreich mit dem Sturz des Assad-Clans einen Staat schleifen will, den die Ex-Kolonialmacht besser als eigene Kreatur bereuen sollte. Auf die Idee, Geschichte derart verscharren zu wollen, käme kein Sisyphos. Und das will etwas heißen.
Es hat sich eingebürgert, dass westliche Konfliktbefunde häufig vom Augenblick zehren, der scheinbar ohne Vorleben ist. Ob in Afghanistan, in der Ukraine, im Irak oder in Syrien – Gegenwart ereignet sich im geschichtlichen Niemandsland, was Ursachenforschung erübrigt. Wer allerdings Konflikte stets nur vom Ende her denkt, kann dieselben bestenfalls eindämmen, lösen kaum. Folgerichtig entbehrt der Anti-Terror-Feldzug gegen den IS des Ausblicks. Welche politische Nachsorge wird es geben, sollten die Dschihadisten zur Kapitulation gezwungen sein? Was geschieht, wenn nicht? Wird ein neues Sèvres gebraucht?
Ein anderes Beispiel. Längst müsste Vorsorge getroffen werden, dass der Libanon nicht daran zerbricht, über eine Million sunnitische Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen zu haben, wodurch sich die innere Balance enorm verändert. Die austarierte Machtarchitektur zwischen christlichen Maroniten, sunnitischen, schiitischen und alawitischen Muslimen sowie Drusen – um die wichtigsten Gemeinschaften zu nennen –, wie sie seit der Staatsgründung von 1943 festgeschrieben ist, könnte sich erledigt haben. Führt das zum nächsten Bürgerkrieg? Auch hier wäre zu erinnern: Es gibt diesen libanesischen Staat unter anderem deshalb, weil ihn die französische Mandatsmacht ausdrücklich wollte. Vor einer Unabhängigkeit Syriens sollten vollendete Tatsachen geschaffen sein. Das während des Ersten Weltkrieges von der Entente versprochene Großsyrien sollte es auf keinen Fall geben.
So blieben die Grenzen von Sèvres den nach 1945 im Nahen Osten proklamierten Staaten erhalten. Erst einmal angeworfen, sollte die Kompressionsmaschine Nationalstaat nicht stocken, auch wenn sie stotterte. Wie vorher zu sehen, fiel es schwer, nationale Identität zu reklamieren. Was charakterisierte die syrische Nation, die territorial amputiert war? Oder die libanesische? Konnte sich die irakische wirklich auf das klassische Mesopotamien berufen?
Einen Ausweg schien in den fünfziger Jahren der Panarabismus zu weisen. Angefeuert durch die Konfrontation mit Israel als Stachel im eigenen Fleisch, sollte sich Nationenbildung im Namen der Arabischen Nation an sich vollziehen. Nicht zuletzt Ägypten und Syrien fühlten sich beseelt von dieser Vision und fusionierten 1958 zur Vereinigten Arabischen Republik (VAR), deren Tage jedoch nach dreieinhalb Jahren gezählt sein sollten, als die Dominanz Kairos in Damaskus verfemt war. Vermutlich fürchtete die alawitische Technokratie die erdrückende Umarmung durch die sunnitisch geprägten Obristen um den ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser. Bezeichnend ist, dass die Arabellion von 2011 Besseres zu tun hatte, als den Panarabismus zu reanimieren.
Um auf die Kurden zurückzukommen – der Vertrag von Sèvres gestand ihnen zwar in Artikel 64 einen eigenen Staat zu, doch sollten sie zunächst gegenüber dem im Januar 1920 gegründeten Völkerbund nachweisen, dass eine Mehrheit des kurdischen Volkes in den Siedlungszonen zwischen Anatolien, Mesopotamien und dem Kaukasus die Unabhängigkeit tatsächlich wollte. Dazu wurde eine einjährige Frist eingeräumt, die sich nicht einhalten ließ, da für ein solches Votum die Logistik und das Plazet der betroffenen Staaten fehlten. So erklärte Kemal Atatürk als Gründer der türkischen Republik, für ihn sei der Kurden-Artikel von Sèvres ohne Belang . Er empfahl Anpassung und Assimilation oder den Weg in die Diaspora – eine Auffassung, der türkische Kurden-Politik bis heute anhängt.
Kurden und Kosovaren
Wenn also nach 1920 im Orient ein Zeitalter der Nationalstaaten herauf dämmerte – eine nachholende Genese im Vergleich zu Europas 19. Jahrhundert –, blieben die Kurden relegiert. Wofür viele Ursachen zu nennen sind, aber ein maßgeblicher Grund bestand: Es gab keine Schutzmächte, deren Interessen sich mit diesem Staatsanspruch verschränken ließen, wie es unverzichtbar ist, wenn Völker nach einer staatlichen Existenzform suchen, es aber an eigenem Potenzial und externem Beistand gebricht, sie zu finden. Territorial verankerte Selbstbestimmung bedarf der Protektion oder sie scheitert. So gibt es seit 2008 einen Staat Kosovo und bis heute keinen Staat der Palästinenser, sondern israelische Besatzung auf palästinensischem Terrain.
Um beim Kosovo zu bleiben, diese neue Republik dokumentiert, wie im 21. Jahrhundert Staatenbildung und ethnische Bereinigung in Europa zueinanderfinden. Ein Vorgang, zu dem es im östlichen Teil des Kontinents bereits unmittelbar nach 1945 kam, als das Potsdamer Abkommen – wieder von Siegermächten eines Weltkrieges geschlossen – in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn dem ethnisch gefestigten Staat und einer Aussiedlung der deutschen Minderheit den Vorzug gab. Viel spricht dafür, dass sich eine vergleichbare Neuordnung augenblicklich in der Levante anbahnt, allein die Flüchtlingsströme belegen es. Freilich stehen dabei neben ethnischen besonders religiöse Identitäten im Vordergrund.
Nichts bleibt, wie es war. Was wird, taucht schon auf.
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