Es soll kein Schauprozess sein, was sich vor genau 70 Jahren, am 8. September 1939, im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Danzig abspielt. Es soll kurzer Prozess gemacht werden mit 28 Beamten der polnischen Post, die am 1. September 1939 ihr Haus am Danziger Hevelius-Platz stolze zwölf Stunden lang gegen eine deutsche Übermacht verteidigt haben. Die erst aufgeben müssen, als die Angreifer das zerschossene Gebäude in Brand setzen. Alfons Flisykowski, Maximilian Cygalski, Konrad Grotha und 25 ihrer Kollegen werden der Freischärlerei beschuldigt. Sie hätten sich als „Franktireure“ gegen reguläre deutsche Heeresverbände zu Wehr gesetzt, wirft ihnen Ankläger Hans-Werner Giesecke im Gerichtssaal vor, und damit gegen die Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) verstoßen. Einen Tag vor dem Prozess haben Stoßtrupps der Heeresgruppe Nord nach einer Woche vergeblichen Anrennens die polnischen Stellungen auf der Westerplatte bei Danzig gestürmt, hat in Berlin das Reichssicherheitshauptamt unter Federführung von Reinhard Heydrich ein Programm zur „Ausschaltung der polnischen Intelligenz“ beschlossen. Danzig selbst, die ehemalige Freie Stadt, schäumt vor „Heim-ins Reich-Hysterie“.
Wer sind die Angreifer?
Der Angriff auf die polnische Post beginnt am 1. September 1939 etwa zur gleichen Zeit wie die Beschießung der Westerplatte durch das deutsche Schlachtschiff Schleswig-Holstein. Kurz vor fünf Uhr versuchen Danziger Polizei und SS-Heimwehr das Gebäude zu stürmen – es sind keine Soldaten, demzufolge keine Kombattanten im Sinne der Anklage vom 8. September 1939. Die Postangehörigen geraten in eine Notwehr-Situation und sind berechtigt, sich zu verteidigen. Das Recht auf eine polnischen Post im Freistaat ist seit 1919 durch den Vertrag von Versailles geregelt und durch den Hohen Kommissar des Völkerbundes garantiert (1939 ist das der Schweizer Diplomat Carl Jacob Burckardt, dem Danzigs Gauleiter Forster am 31. August 1939 rät, „zur eigenen Sicherheit“ die Stadt schnell zu verlassen). Diese Rechtsgüter sind nicht deshalb über Nacht hinfällig, weil mit dem Überfall auf Polen geltendes Recht gebrochen wird.
Von einer Kriegserklärung an ihr Land – wenn es die denn gäbe – können die Postler ohnehin nichts wissen. Die NS-Führung der Stadt Danzig hat am 1. September gegen 4.00 Uhr alle Verbindungen der Post zu Außenwelt gekappt. Und überhaupt – wie sollen die Verteidiger am Hevelius-Platz am Morgen des 1. September erkennen, wer sie angreift? Polizei, Hilfspolizei? Die Paramilitärs von der Heimwehr? Soldaten der Wehrmacht?
Der Blitzkrieg fällt aus
Als kurz vor fünf Uhr der erste Angriff beginnt, zersprengen Haftladungen das Haupttor, gleichzeitig soll das Gebäude auf der Rückseite vom Paketlager her aufgerollt werden. Zwei Stoßtrupps der Danziger Polizei dringen dort ein, aber nicht vor. Ihnen schlägt heftiges MG-Feuer entgegen, schon nach wenigen Minuten ist alles vorbei, zwei der Angreifer sind tödlich getroffen, es gibt fünf Schwerverletzte, mit denen offenbar niemand gerechnet hat, denn weder Sanitäter noch Krankenwagen stehen bereit. Der gerade zum Kommandeur der Danziger Polizei ernannte SS-Oberführer Johannes Schäfer muss einsehen, an der polnischen Post fällt der Blitzkrieg aus. Im Handstreich lässt sich das Gebäude nicht nehmen. Vorerst bleiben nur die Belagerung und die Maschinengewehr-Salven eines Panzerspähwagens der Heimwehr. Kurz vor acht Uhr wird das Feuer der Eroberer ganz eingestellt und erst jetzt damit begonnen, einen Lautsprecherwagen durchs Viertel Hevelius-Platz, Rittergasse und Altstädter Graben zu schicken. Alle Bewohner müssen umgehend ihre Häuser verlassen. Die Evakuierung wäre vermutlich längst erfolgt, hätte es sich beim Angreifer von Anfang um die Wehrmacht gehandelt. Gegen „reguläre Verbände“ wie diese als „Freischärler widerrechtlich gekämpft“ zu haben, lautet der Vorwurf von Ankläger Giesecke im Danziger Landgericht.
Eine Feuerwand
Kurz nach neun Uhr entschließen sich die Polizeikommandeure, Artillerieunterstützung von der im Raum Danzig stationierten 3. Armee anzufordern. Als daraufhin die „Gruppe Eberhardt“ am Hevelius-Platz mit zwei Feldhaubitzen aufkreuzt, tritt jene Zäsur im Kampf um die Post ein, die nach Lesart des Kriegsgerichts den Widerstand der Postbeamten zur „Partisanen-Aktion gegen deutsche Soldaten“ macht.
Doch auch mit Artillerie-Feuer gelingt es nicht, die Post sturmreif zu schießen, obwohl inzwischen ein Scheunentor großes Loch die Fassade entstellt. Gegen 17.00 Uhr – die Ufa hält nun seit zwölf Stunden das Geschehen für die nächste Wochenschau und die Geschichte des Großdeutschen Reiches fest – reagieren die Polen noch immer nicht, als sie per Lautsprecherwagen auf Polnisch aufgefordert werden, das Gebäude mit erhobenen Händen zu verlassen. Ihr letztes Maschinengewehr hämmert weiter, und SS-Oberführer Johannes Schäfer weiß, auch jetzt noch wäre ein erneuter Sturmangriff ein hohes Risiko. So wird ein Tankwagen zum Hevelius-Platz gefahren, der sich kurz nach 17 Uhr unter Feuerschutz der Post nähert und Benzin in die Kellerräume des brennenden Gebäudes pumpt, die danach in Brand geschossen werden.
Was jetzt geschieht, dürfen die Ufa-Leute zwar filmen, aber nie auf irgendeine Leinwand bringen. Eine Feuerwand schießt an der Fassade und im Treppenhaus empor, in dem sich der größte Teil der Verteidiger verschanzt hat. Fünf Menschen verbrennen sofort, ihre Leichen lassen sich später nicht mehr identifizieren, sechs Verteidiger sterben Stunden, Tage oder Wochen später an ihren schweren Brandverletzungen. Erst jetzt kapitulieren die Überlebenden. Direktor Jan Michon kommt als erster, ein weißes Tuch schwenkend, aus dem Gebäude und stolpert ein paar Schritte über Schutt und Trümmer, bis ihn ein tödlicher Bauchschuss trifft.
Ein solcher Feind
Das Kriegsgericht von Danzig gibt kein Pardon. Nach acht Stunden Verhandlung, in denen nicht einmal jeder der 28 Angeklagten gehört wird, spricht Kriegsgerichtsrat Bode am Abend des 8. September 1939 das Urteil und verhängt 28 mal die Todesstrafe. Ein zweites Verfahren gegen die zehn, zu diesem Zeitpunkt noch verletzt in einem Lazarett liegenden Post-Verteidiger endet gleichfalls mit der Höchststrafe. Gnadengesuchen an den Gerichtsherren, das Oberkommando des Heeres, wird nicht stattgegeben. „Ein solcher Feind ist jeder Niedertracht fähig und verdient keine Schonung“, heißt es aus der Umgebung des Oberkommandierenden, Generaloberst von Brauchitsch. Die Angeklagten machen für sich geltend, als Beamte des polnischen Staates seien sie zur Verteidigung des Gebäudes am Hevelius-Platz verpflichtet gewesen. In der Nacht vom 31. August zum 1. September habe ihnen Direktor Michon eine Order der Regierung in Warschau verlesen, es gelte die Post zu halten, bis die Pommerellische Armee unter General Bortnowski für Entsatz sorge.
Am 4. September 1939 hat der Leitartikel im Danziger Vorposten schon die Richtung vorgegeben, in die auch das Kriegsgericht zu marschieren gewillt ist: „Die polnischen Franktireurs haben den unwiderlegbaren Beweis für die schwersten Rechtsbrüche Polens gegen Danzig erbracht.“ Nach dem Krieg wird sich herausstellen, dass die Danziger Polizei am 3. Juli 1939 letzte Feinarbeiten an ihrem Angriffsplan auf die polnische Post erledigt hatte. Am 5. Oktober 1939 erschießt ein Exekutionskommando der Wehrmacht die 38 Polen im Norden des Danziger Vororts Langfuhr in der Nähe eines Friedhofs. Die Leichen werden in einem bereits vorbereiteten Massengrab verscharrt,
das erst 1992 gefunden wird.
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