Nach europäischen Maßstäben schien Hugo Chávez als linker, machtbewusster Caudillo aus der Zeit gefallen. Man versah ihn gern mit dem Stigma eines demagogischen Populisten, der den großen Aufritt liebte, die vereinnahmende Geste, den autoritären Habitus. Revolutionäre gelten heute gemeinhin als lächerliche Figuren. Ein Auslaufmodell eben, das einer spätbürgerlich- hedonistischen Gesellschaft zu sehr nach Straße und Erde riecht. Allenthalben wird beklagt, wie ein schmarotzender, finanzgetriebener Kapitalismus aus dem Ruder läuft und ganze Generationen schachmatt setzt. Aber deshalb zum Erneuerer, zum Umstürzler werden? Vielleicht liegt es an Brechts Lob des Revolutionärs, dem der Dichter bescheinigt, den Kampf um den Lohn
um den Lohngroschen und das Teewasser zu organisieren. Und sich dann auch noch um die Macht im Staat zu kümmern. Sehr viel auf einmal, aber darum geht es.Weil das so ist, war Hugo Chávez aus der Zeit gefallen und seiner Zeit voraus. Er wagte, was nur wenige in seiner Position riskiert hätten. Er brach mit der Geschichte Venezuelas, die Millionen zum sozialen Siechtum verurteilt hatte. Und er tat das so überzeugend, dass diese Millionen ihm folgten, weil sie sich gewürdigt fanden von seiner Bolivarischen Revolution. Die nie vom demokratischen Weg abkam. Chávez Präsidentschaften seit 1998 gingen ausnahmslos auf Wahlen zurück. Gewalt kam von seinen Gegnern. Damit sind nicht nur die Putschisten vom 12. April 2002 gemeint, die ihn aus dem Weg räumen wollten und im Namen schuldbeladener Eliten handelten, denen die Privilegien abhanden kamen. Einem ökonomischen Gewaltakt kam auch eine Kapitalflucht gleich, die sofort mit der ersten Chávez-Präsidentschaft Ende 1998 begann und mit 90 Milliarden Dollar das Dreifache der damaligen Auslandsverschuldung Venezuelas betrug, während zwei Drittel der Venezolaner unter der Armutsgrenze lebten. Um so mehr verdienen die ersten Maßnahmen aus dem Jahr 1999 erinnert zu werden: Es gab Renten für alle Venezolaner über 65, einen besseren Kündigungsschutz, eine Begrenzung der Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden und eine medizinische Betreuung, die nichts mehr kostete.Dafür musste es sich Chávez gefallen lassen, im Namen eines abendländischen Wertekanons als „Sozialdiktator“ diffamiert und mit Gaddafi oder Benito Mussolini verglichen zu werden. Hoffentlich hat ihn auch das in seiner Konsequenz bestärkt.Es ist dem Visionär Chávez zu verdanken, dass sich Lateinamerika heute mit nie gekanntem Selbstbewusstsein präsentiert, den USA die Stirn bietet und ein Verständnis von Souveränität in sich trägt, das die Befreier vom spanischen Kolonialismus im 19. Jahrhundert beflügelt hat. Deshalb berief sich Chávez von Anfang an auf Nationalhelden wie Simon Bolivar oder José Marti und hielt sich an ihre Idee von der Integration der Völker. Vom Geist des patriotischen Aufbruchs inspiriert, fand er Gehör, erwarb sich Respekt und konnte Gleichgesinnte überzeugen: Evo Morales, den ersten indigenen Präsidenten Boliviens, wie den klugen Wirtschaftsreformer Rafael Correa an der Spitze Ecuadors. Mit dem Bolivarismus des 21. Jahrhunderts sympathisierten das Brasilien des einstigen Gewerkschaftsführers und späteren Präsidenten Lula da Silva, das linksperonistische Argentinien oder das von der linken Frente Amplio regierte Uruguay. Selbst Präsident Santos hat für das mehr den USA verbundene Kolumbien nach dem Tod des Comandante gewürdigt, wie der den Wandel eines Kontinents vorangetrieben habe. Wollte man sich dafür der Worte des chilenischen Dichters Pablo Nerudas aus seinem Großen Gesang bedienen, müsste man die Worte über jenen Baum zitieren, „dessen Wurzeln voller Leben“ und „von Blut genährt“ sind – „der Baum der Freien, der Erdenbaum, der Wolkenbaum, der Baum des Brots.“ Dieses Vermächtnis des Hugo Chávez lebt fort. Das Bedürfnis nach Selbstbestimmung wird Lateinamerika kaum je wieder aufgeben.Doch was wird aus Venezuela? Aus einem Chávismo ohne Chávez? Der Regierungsstil, wie ihn dieser Präsident bis zu seiner Erkrankung gepflegt hat, erlaubte keine alternativen Führungspersönlichkeiten. Erst im Dezember, vor dem letzten Flug zur Behandlung nach Kuba, hat ein sichtlich müder Staatschef zu verstehen gegeben, dass er sich Vizepräsident Nicolas Maduro als Nachfolger wünsche. Doch wie sich der ehemalige Fallschirmjäger Chávez in 14 Regierungsjahren im Staat Venezuela durchgesetzt hat, tat er es auch in den eigenen Reihen. Lange Zeit gelang es ihm, die Strömungen des Bolivarismus nicht auseinander driften zu lassen, sondern zu moderieren. Ob das auch Maduro vermag? Die 2008 gegründete Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) trat bisher eher als Wahlverein in Erscheinung und blieb Programmatik schuldig. Durch parteiinterne Voten wurde entschieden, wer für einen Gouverneursposten oder ein Bürgermeisteramt kandidiert. Die PSUV wirkt wie eine Klientel-, nicht eine Avantgarde-Partei, die sich ausreichend um Alliierte wie die PTT (Vaterland für alle) oder die Kommunistische Partei (PCV) bemüht, die beim Putsch 2002 jene Massen von Demonstranten mobilisierten, die Chávez’ Rückkehr in den Präsidentenpalast erzwangen.Belastungen, möglicherweise Zerreißproben für die Post-Chavisten sind absehbar, gab es doch unter Chávez keinen Strukturwandel für die venezolanische Ökonomie. Die Sozialprogramme wurde aus üppigen Erdöleinnahmen finanziert. Doch kann die Praxis einer radikalen Umverteilung allein noch kein allzeit belastbares ökonomisches Prinzip für ein eigenständiges Gesellschaftsmodell sein, wie es dem Revolutionär Hugo Chávez mit seinem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ vorschwebte.