Schlechtere Beziehungen als im Kalten Krieg

Funkstille Die NATO und Russland meiden von nun an den direkten Kontakt. Was bedeutet es für die internationale Sicherheit, wenn Missverständnisse nicht mehr ausgeräumt werden können?
Auch in den vergangenen Jahren (hier ein Bild von 2015) waren NATO-Schiffe im Schwarzen Meer unterwegs. Damals herrschte allerdings noch keine Funkstille zwischen NATO und Russland
Auch in den vergangenen Jahren (hier ein Bild von 2015) waren NATO-Schiffe im Schwarzen Meer unterwegs. Damals herrschte allerdings noch keine Funkstille zwischen NATO und Russland

Foto: Daniel Mihalescu/AFP via Getty Image

In diesen Tagen ist wieder ein amerikanisches Kriegsschiff ins Schwarze Meer eingelaufen, das russischen Marineeinheiten aus dem Weg gehen oder ihnen gefährlich nahekommen kann. Beides hat es in den vergangenen Jahren gegeben. Diesmal äußerte sich sogar Präsident Putin und erklärte, man könne dieses Gefährt wie einen Gast durch das Fernglas beobachten oder ins Fadenkreuz eines Verteidigungssystems nehmen. Auf einer zwischen der NATO und Russland mittlerweile nach oben offenen Eskalationsskala sind, wie es scheint, jederzeit Worst-Case-Szenarien denkbar. Inwieweit und ob sie rechtzeitig verhindert werden, kann eine Frage der Kommunikation sein. Es ließe sich klären, wie lange bleibt das Schiff in einem Gewässer, für das allein wegen des Russland-Ukraine-Konflikts sensible Sicherheitsinteressen gelten. Welche Route wird es eingeschlagen? Und so weiter.

Der Erinnerung wert

Seit dieser Woche fehlt ein Kanal, den man dafür nutzen könnte, seit die Vertretung Russlands bei der NATO in Brüssel und die NATO-Mission in Moskau bis auf Weiteres geschlossen bleiben. Auch der NATO-Russland-Rat kommt als Clearing Point nicht in Frage, er existiert nur noch auf dem Papier. Dass Beziehungen nicht unter-, sondern abgebrochen werden, bestätigt die Logik der Jahrzehnte seit 1990. Womöglich das Unwiderrufliche der Entfremdung. Der Verzicht auf Verständigung in einem erneut bipolaren Europa kann ein irreparabler Verlust sein. Es sollte daher keine dahingesagte Floskel, sondern eine höchst beunruhigende Gewissheit sein, dass es nicht einmal im Kalten Krieg so zerrüttet zuging. Leider hat die Verdrängung und Ignoranz elementarer Menschheitsfragen wie der über Frieden und Krieg durch einen leichtlebigen Zeitgeist verschüttet, was der Erinnerung wert ist. Und was im Kalten Krieg – trotz der Unversöhnlichkeit des Ost-West-Gegensatzes – möglich und hilfreich war.

Es gab die Verhandlungen über die gegenseitige Verminderung von konventionellen Streitkräften und Rüstungen in Europa (MBFR). Sie fanden ab 1973 über Jahre hinweg zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO in der Wiener Hofburg statt. Anführen ließen sich die Sondierungen über eine chemie- und kernwaffenfreie Zone in Mitteleuropa. Dazu kamen stets Gespräche der USA und Sowjetunion über ihre strategischen Arsenale. Indem man sie zuletzt mit den START-Verträgen limitierte, wurden diese Potenziale auch verifiziert und kontrolliert. Man konnte sich schlecht über Obergrenzen einigen, ohne zu wissen, was der andere im Depot hatte. Noch nach dem Kalten Krieg kam im Jahr 1992 zwischen der NATO und den einstigen Staaten des östlichen Bündnisses der „Vertrag über den Offenen Himmel“ zustande, der das Recht auf und die Ankündigungspflicht von Beobachtungsflügen über fremden Territorien regelte. Erst traten vor einem Jahr die USA aus der Open-Sky-Übereinkunft aus, im Juni 2021 folgte Russland.

Minimum an Vertrauen

Diese Foren und Ebenen, dazu Diskursangebote wie die Münchner Sicherheitskonferenz, dienten vorzugsweise einem Zweck, sie sollten Konflikte verhindern helfen, die aus Missverständnissen und fehlender Kommunikation entstehen. Und sie sollten die Mittel abschöpfen oder in Grenzen halten, durch deren Gebrauch Konflikte in Kriege übergehen konnten. Über jeden der aufgezählten Ost-West-Kanäle wurde die direkte Begegnung gesucht, um wenigstens ein Minimum an gegenseitigem Vertrauen zu bemühen. Es mag simpel klingen, aber wer miteinander redet, schießt nicht, zumindest nicht gleich.

Als im November 1990 der erste, quasi postpolare KSZE-Gipfel mit der „Charta von Paris“ das Ende der Ost-West-Konfrontation beschwor, schien das auch erprobte Verhandlungsformate zu bestätigen, die nun unter neuen Vorzeichen Bestand haben sollten. Nichts dergleichen ist geschehen, aus der Aufgabe des Bewährten wurden Abstinenz und Agonie, wie diese Woche zeigt.

Der entscheidende Anstoß kam von der NATO-Osterweiterung, die Russland sicherheitspolitisch isolierte und zur Peripherie Europas degradierte. Da die marginalisierte Großmacht um ihrer Sicherheit willen Gegenmaßnahmen ergriff, hatte die NATO den Gegner, den sie wiederum um ihrer selbst willen brauchte. Wozu ein Militärpakt, der die Antwort schuldig bleibt, gegen wen er verteidigt und gegen wen seine Verbände aufmarschieren. Der Ausfallschritt nach Osten und bis an die Westgrenze Russlands wurde zur „self-fulfilling prophecy“: Wir rücken vor, Russland reagiert, wir sind bedroht. Wie im Kalten Krieg ließ sich die Legende von der russischen Gefahr produzieren. Zumal dann, als für Moskau Anfang 2014 die rote Linie überschritten war, weil die Ukraine in diese neue Bipolarität eingemeindet werden sollte. Seither ist das Verhältnis NATO-Russland auf eine abschüssige Bahn geraten, die immer steiler nach unten führt. Und die wo endet?

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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