Frankreich Die Präsidialdemokratie erweist sich als unfähig, sozialer Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen. Deshalb stößt die V. Republik an ihre Grenzen
In Paris tobten die schwersten Krawalle. Insgesamt 1700 Demonstranten wurden landesweit festgenommen
Foto: Abdul Abeissa/AFP/Getty Images
Wird Sicherheitspersonal mit einer solchen Verschwendungssucht aufgeboten wie gerade in Frankreich, lässt das an die Schlachtordnung eines Bürgerkrieges denken. Was der Cordon Sanitaire aus Polizeiketten, Räumpanzern und Tränengasgranaten in Paris auch immer verhindern sollte, eines bleibt ihm verwehrt: den Eindruck zu tilgen, dass der Protest vieler Einzelner mehr denn je zur landesweiten Erhebung geführt hat. Sie wird zum Sinnbild, wohin Gesellschaftssysteme und deren politische Schirmherrn geraten, die Millionen Menschen ein Leben in Würde und ohne Abstiegsangst verweigern. Wer dagegen aufsteht, hat es zunächst einmal nicht verdient, auf seine Zivilisationstauglichkeit oder Political Correctness hin überprüft zu werden. Gibt es bei den Mensch
schen in gelber Weste parteipolitisch, genderpolitisch, migrationspolitisch, klimapolitisch und so weiter etwas zu beanstanden? Oder geht alles in Ordnung? Sind sie links oder rechts? Gesteuert von linken oder rechten Demagogen? Die Erhabenheit des Röntgenblicks, der Deutungshoheit vor Lernbereitschaft setzt, blendet eines aus: In Frankreich hat sich die präsidiale als Spielart der bürgerlichen Demokratie als unfähig erwiesen, elementaren Normen der sozialen Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen. Auf die Spitze getrieben wurde dieser systemimmanente Offenbarungseid durch die präsidiale Hoffart eines Emmanuel Macron, der soziale Zumutungen für Wohltaten hält.Sturm auf die BastilleDie dadurch bewirkte Diskreditierung seiner Regierung ist keine Empfehlung zur Mediation, erst recht nicht, wenn die an diesem Wochenende offenbarte Dragoner-Mentalität des Staates auf Härte setzt und provoziert. Die Dialogangebote von Premier Édouard Philippe werden trefflich konterkariert durch Innenminister Christophe Castaner, der die Gelbwesten als ein „Monster“ bezeichnet, „das seinen Erschaffern entkommen“ sei. Dabei sollte ihm auffallen, es könnte das neoliberale Märchen sein, das die Geister verdient hat, die es rief. Man darf schon an Bertolt Brechts Metapher vom reißenden Strom erinnern, den jeder gewalttätig nenne, aber das Flussbett vergesse, das ihn einenge.Zum Sturm auf die Bastille kam es am 14. Juli 1789 erst, als Gouverneur de Launay als Kommandant dieser Zwingburg seinen Soldaten befahl, Artilleriesalven auf die Bürger zu schießen, die sich vor dem Gebäude versammelt hatten. In der dichtgedrängten Menge wurden über hundert Menschen getötet. Dieses Blutbad trieb die Aufständischen zur Weißglut. Erst dann begann der Angriff und hatte Erfolg, was im Übrigen bis heute zum Nationalfeiertag gefeiert wird.Nomenklatura der AnarchieJean-Luc Melénchon, Führer der Linkspartei La France Insoumise, hat im Interview mit dem Sender BFMTV angemerkt: „Die Gewaltausbrüche sind ein Ritual, und man hat den Eindruck die von den Behörden getroffenen Maßnahmen sind genau dafür gemacht.“ Zugleich spricht er von einer „Revolution des Bürgers“. Weil es mit der „Macronie“ vorbei sei, würden sich „die Dinge soweit entwickeln, dass eine offene politische Krise unausweichlich ist“. Man solle endlich verstehen, dass „der Schrei einer neuen Epoche zu hören ist. Es ereignet sich gerade französische Geschichte, das ist keine kleine Störung Ihrer parlamentarischen Arbeit“, rief Melénchon am 6. Dezember vor der Nationalversammlung in Richtung der Bänke von La République en Marche (LREM), der Präsidentenmehrheit, die ein politisches Domestikendasein fristet.Die Gelbwesten sind keine Nomenklatura des Anstands, sondern der Anarchie, weil Aufstände, die Volksbewegungen zu verdanken sind, gar nicht anders sein können und stetem Wandel unterworfen sind, aufstehen und fallen, führen und verführen, geschlagen werden und zurückschlagen. „In Zeiten der Revolution“, schreibt Lenin, „lernen Millionen und aber Millionen Menschen in jeder Woche mehr als in einem Jahr gewöhnlichen trägen Lebens“.Laut jüngster Umfragen des renommierten Institut français d'opinion publique (ifop) wird der Protest von 70 bis 80 Prozent der Franzosen nicht zuletzt deshalb unterstützt, weil er die Regierung gezwungen hat, den Rückzug anzutreten und die vorgesehene Erhöhung der Treibstoffpreise zurückzunehmen.Wer sich nicht wehrtAls die Gewerkschaften CGT und CFDT wochenlang, geordnet, angemeldet, machtvoll, im wesentlichen friedfertig gegen Macrons Arbeitsmarktreformen oder die Teilprivatisierung der Eisenbahngesellschaft SNCF demonstrierten, blieb ihnen vergleichbarer Erfolg verwehrt. Wenn nun den „Gelbwesten“ mit dem Marsch auf Paris, mit brennenden Autos und geplünderten Geschäfte, gelingt, was den Gewerkschaften nicht gelungen ist, sagt das viel aus über ein Verständnis von Demokratie, das soziale Interessen als lästige Ansprüche wahrnimmt, die missachtet gehören. Nehmt Euch zurück und seht zu, wo ihr bleibt! Die Quittung für derartige Ignoranz stellt Macron Präsidentschaft in Frage. Denn die „Gelbwesten“ machen den Teil der Gesellschaft sichtbar, der diesen Hochmut nicht länger ertragen will. Und der an sich denken muss, weil alles andere die soziale Existenz bedroht. Wer sich nicht wehrt, hat schon verloren. Und das womöglich unwiderruflich.Kniefall des MonarchenLudwig XVI. hielt es für geboten, am 15. Juli 1789, einen Tag nach der Einnahme der Bastille durch das Volk, das Pariser Rathaus aufzusuchen, um dem neuen Souverän des Citoyen die Reverenz zu erweisen und sich die Brust mit einem Streifen Stoff schmücken zu lassen. Es zeigte zwischen den Rändern Rot und Blau, den Farben der Stadt Paris, das Weiß als Farbe des Königs. Ludwig stammelte unsicher, sein Volk könne immer „auf seine Liebe“ zählen, was Königin Marie Antoinette zu der Bemerkung trieb, gar nicht gewusst zu haben, dass sie mit einem „Bürgerlichen“ verheiratet sei. Emmanuel Macron wird für seine „Liebeserklärung“ sicher nach anderen Ausdrucksformen suchen – zum Beispiel einen Rücktritt. Erspart bleiben wird sie ihm nicht.
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