Selbst Särge fehlen

Auguststurm Auf den Putsch vor 20 Jahren reagiert der russische Präsident Jelzin mit einem Gegenputsch, der bis Ende 1991 dauert. Danach ist die Sowjetunion zu den Akten gelegt

Ist ein Militärputsch in der Sowjetunion möglich, fragt Leonik Gozman, Dozent für Psychologie an der Moskauer Lomonossow-Universität, am 8. November 1990 in der Schweizer Weltwoche und kleidet sein Urteil in die Gewissheit, man müsse wohl damit rechnen. Es gäbe das Bedürfnis nach der starken Macht und dem starken Mann.

Aber ist das nicht Michail Gorbatschow? Der regiert doch. Die Galionsfigur der Perestroika führt im November 1990 weiterhin als Generalsekretär die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) und herrscht zudem seit März 1990 als Präsident der UdSSR mit Sondervollmachten, die einen direkten Zugriff auf Sicherheitsdienste, Miliz und Armee gestatten. So viel konzentrierte Macht hat zuletzt Leonid Breschnew Anfang der achtziger Jahre unter sich versammelt. Wer allerdings Macht als Autorität versteht, kann schwerlich übersehen – davon blieb nicht übermäßig viel, seit Gorbatschow die sowjetische Gesellschaft vor die Alternative reformierter oder gar kein Sozialismus gestellt hat und im Chaos gelandet ist.

Bei der Parade der Werktätigen auf dem Roten Platz kommt es denn auch am 1. Mai 1990 zum Eklat. Pfiffe und Buhrufe aus den Marschblöcken hinauf zur Ehrentribüne am Kreml schockieren Gorbatschow, so dass er mit seinem Tross das Podest hoch über den Seinen umgehend räumt und verschwindet. Ein sinnfälliger Abgang, dessen prophetische Botschaft nichts schuldig bleibt – die Perestroika, besonders deren Mentor auf dem absteigenden Ast und vom Volke geschmäht.

Auslaufmodell Gorbatschow

Wie kann es auch anders sein, wenn die desolate Wirtschaftslage die Veteranen der Arbeit an Nachkriegszeiten erinnert. Man habe den Eindruck, schreibt im Mai 1990 die Komomolskaja Prawda, die als Anwalt der Reformer gilt, eine Okkupationsarmee sei durchs Sowjetland gezogen. Der Erwerb von Lebensmitteln gleicht einem Gedulds- und Glücksspiel, es gibt wenig Benzin, fast keine Zigaretten, noch weniger Alkohol. Selbst Särge fehlen, beschwert sich die Komsomolskaja. Verstorbene könnten oft nicht beerdigt werden. Es ist wie immer in Zeiten des Umbruchs – das Volk macht gern reinen Tisch, aber es scheut den leeren. Leonik Gozman befindet in der Weltwoche, der verständliche Wunsch nach Sicherheit und Stabilität nehme unter diesen Umständen „die pathologische Form der Sehnsucht nach einem Herrscher“ an.

Welch verlockender Umstand, dass es neben dem Auslaufmodell Gorbatschow jemanden gibt, der diese Sehnsucht zu erfüllen verspricht. Boris Jelzin hortet Macht und Autorität wie seine Landsleute Mehl und Reis. Als er im Juni 1991 die Wahl zum Präsidenten der RSFSR gewinnt (der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, wie sie damals noch heißt) kann ihn (fast) nichts mehr aufhalten. Als Kandidat des Politbüros Anfang 1988 in Ungnade und ein Karrieretief gefallen, gönnt Jelzin der Perestroika fortan ein verhaltenes Totengeläut. Er setzt auf keinen erneuerten Sozialismus, sondern russische Marktwirtschaft, bindet damit junge Kader der KP (allein in Russland sind seit 1989 60 Prozent der Gebiets-, Kreis- und Betriebsparteisekretäre ausgetauscht worden) und eine westlich orientierte Intelligentsia, die sich als „moralische Instanz“ gefällt.

Ihnen allen ist nicht entgangen, dass die Sowjetunion inzwischen sämtliche Bündnispartner verloren hat und wie ein gewaltiger, aber sonderbarer Findling in einer osteuropäischen Landschaft des Umbruchs steht. Das Bekenntnis zum Sozialismus, wie es der Generalsekretär noch im Juli 1990 formuliert, riecht nach Erde und Vergänglichkeit. Wer so beharrlich aushält, kapituliert irgendwann, weil er kapitulieren will. Wie sich das einfädeln lässt, hat Gorbatschow während der von ihm mit herbeigeführten Epochenwende bereits vorgeführt, als er einer Osterweiterung der Bundesrepublik Deutschland auf DDR-Gebiet zustimmt, ohne – wie zuvor oft beschworen – bei seinem Veto gegen die entsprechende Osterweiterung der NATO zu bleiben. Nun aber steht nach dem eigenen Bündnis plötzlich der eigene Staat auf der Abriss-Agenda, und Boris Jelzin schwingt die Abrissbirne. Zunächst einmal verschafft eine Budgetreform seiner Russischen Föderation im Frühsommer 1991 weitreichende Haushaltsautonomie und lässt darauf schließen, dass es künftig keinen föderalen – sprich: sowjetischen – Haushalt mehr geben wird.

Gegen die UdSSR wird zwar nicht geputscht, aber mit der Kraft des Dekrets viel getan. Auch dank eines neuen Unionsvertrages. Im Frühjahr 1991 in der späteren Jelzin-Residenz Nowo-Orgajowo bei Moskau ausgehandelt und für den 20. August zur Unterzeichnung vorgesehen, entwirft er eine Sowjetunion, die zum Schirmherrn einer Gemeinschaft selbstständiger Staaten (der bisherigen Sowjetrepubliken) schrumpft. Mit einem solchen Mutanten ist kein Staat mehr zu machen. Weder als europäische Großmacht, geschweige denn als Weltmacht. Ohnehin ist im Westen die Empathie für Gorbatschows Vision vom Gemeinsamen Europäischen Haus ohne Blöcke und Barrieren längst verflogen. Wenn vom Bewohner Sowjetunion nur der Bankrotteur oder gar nichts übrig bleibt, kann sich die NATO ungehindert entfalten. Jetzt erst recht, da nach dem Ende des Warschauer Pakts die Risiken militärischen Handelns überschaubar sind. Falls die Neuordnung Europas aus dem Ruder läuft, wie das bald darauf in Jugoslawien der Fall sein wird, kann das westliche Bündnis eingreifen.

Lenin verschwindet

Kurzum, die Sowjetunion existiert zwar noch, als die „Putschisten“ um Vizepräsident Gennadij Janajew am 19. August 1991 ihr Notstandskomitee ausrufen und Gorbatschow in seinem Urlaubsdomizil auf der Krim isolieren – aber sie ist kaum mehr als ein Schatten ihrer selbst und zur letzten Abtrittsarena des Staatssozialismus geworden. Im Nachhinein ergeben die Verhöre einiger Verschwörer, die nach ihrem Scheitern im Moskauer Gefängnis Matrosenstille Quartier nehmen, dass KBG-Chef Krjutschkow und Verteidigungsminister Jasow Geheimabsprachen kannten, die es in Nowo-Orgajowo zwischen Gorbatschow und Jelzin gegeben hat. Danach sollten – sobald der neue Unionsvertrag signiert war – die politischen Strukturen so verändert werden, dass die KPdSU vollends abdanken musste, nachdem bereits Artikel 6 der Unionsverfassung über den Führungsanspruch der Partei gestrichen war. Gorbatschow, der in seinen frühen Reden als Generalsekretär stets beteuert hat, er wolle Lenin wieder vom Kopf auf die Füße stellen, lässt ihn nun ganz verschwinden. Offenbar wird in Nowo-Orgajowo gleichfalls vereinbart, die Parallelherrschaft zwischen dem russischen und dem sowjetischen Staat zugunsten des ersteren zu beenden. Ein Bruch des Unionsvertrages, bevor der unterschrieben ist?

Immerhin sieht der als neues Gremium einen – sowjetischen – Staatsrat vor, gebildet durch Russland, die Ukraine, Weißrussland, Kasachstan, Usbekistan, Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan und Aserbaidschan, die in ihrer Mehrheit nicht überstürzt in die Unabhängigkeit driften wollen. Schließlich hat die Sowjetunion seit 1922 existiert und sowohl Schutz als auch gegenseitige Hilfe garantiert. Aber die Versuchung ist groß, gegen die Geschichte zu leben. Auch wenn von den vertragstreuen Sowjetrepubliken die meisten während der Putschtage im August 1991 neutral bleiben und vermitteln wollen, wird danach kein Unionsvertrag mehr gebraucht, weil die Sowjetunion nicht mehr gebraucht wird.

Boris Jelzin nutzt die Gunst der Stunde, um auf den Putsch mit einem Gegenputsch zu reagieren. Der beginnt mit einer Rede auf einem der in Moskau gestrandeten Panzer der Putschisten, setzt sich am 23. August fort, als er im Beisein eines sichtlich überrumpelten Gorbatschow das Verbot der KPdSU auf russischem Territorium dekretiert, und gipfelt im Dreierbund mit der Ukraine und Belarus Ende 1991, der zum Kern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) avanciert. Die UdSSR wird quasi per Federstrich erledigt, am 25. Dezember 1991 über dem Kreml die rote Fahne mit Hammer und Sichel eingeholt – ein Zeremoniell, das auch die Perestroika unwiderruflich nach Hause schickt.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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