Stets am Platz

Fontane Das gerade eröffnete Fontane-Jahr lässt nicht nur auf die Geburtsstadt Neuruppin blicken, ebenso auf Berlin, wo die Schauplätze des Dichters vor unserer Haustür liegen

Wanderungen durch die Mark Brandenburg, gewiss, aber auch auf Wanderschaft durch die strebsame Metropole Berlin ist Theodor Fontane gewesen, als die nach 1871 auf dem Sprung zur Welt- und Kaiserstadt ist. Wie sonst lässt sich erklären, dass seine Literatur soviel an Menschenschlag und urbanem Milieu aufzubieten vermag und auch dadurch ihrer Zeit gerecht werden will. Werke wie Mathilde Möhring (postum 1905 in der Gartenlaube erschienen), Frau Jenny Treibel (1892), Irrungen, Wirrungen (1888) oder Stine (1890) gehören durchaus ins Fach Berlin-Roman.

Seinerzeit ist die Stadt von ihren Dimensionen her noch nicht über die Ufer getreten, sodass die Schauplätze nah beieinander liegen. Bis heute können sie in Augenschein genommen werden: der Spreebogen am Kronprinzenufer etwa, die Invalidenstraße mit dem Invalidenpark und dem Invalidenfriedhof, die Georgenstraße, die Köpnicker Straße, die Kurstraße, die Keithstraße – nur die Adlerstraße ist verschwunden, aber es nicht minder wert, erinnert zu werden. Fontane hat zu Berlin nie Straßennamen erfunden, sondern auf das zurückgegriffen, was er kannte.

Beginnt eine Exkursion zur Spurensuche am Reichstag und führt in Richtung Moabiter Werder, nähert sich der Flaneur bald einer fashionablen Gegend, die einst nicht nur durch die gehobene Bürgerschaft besiedelt ist, sondern sich auch durch das Kapitel eines Fontane-Romans gewürdigt findet. Zwischen Alsen- und Moltebrücke liegt das Haus, dessen erste Etage vom Grafen Barby und seinen Töchtern Melusine und Armgard bewohnt wird. Letztere heiratet den Kürassier Woldemar von Stechlin, den Sohn des Junkers und märkischen Adligen Dubslav von Stechlin, die würdige Figur im Alterswerk Fontanes, das ihn wie Effi Briest unsterblich macht.

Spreebogen mit Blick auf die Kronprinzenbrücke

Foto: Marius Schwarz/Imago

Geschrieben wird Der Stechlin zwischen 1895 und 1898, abgedruckt zunächst als Fortsetzungsgeschichte von der Zeitschrift Über Land und Meer und als Buch erst 1899 nach dem Tod des Verfassers verbreitet. Mit einem Sinn für die Atmosphäre und das Fluidum eines Ortes wird das Domizil der Barbys porträtiert und Bezug genommen auf den damals schon vorhandenen Stadtbahnbogen im Hinterland der Spree. Als sich Gräfin Melusine gegen einen denkbaren Umzug in die Lennéstraße im Tiergarten-Viertel verwahrt, begründet sie das mit der Faszination ihrer Gegend. „Wenn ich in unserer Nische sitze, die lange Reihe der herankommenden Stadtbahnwaggons vor mir, nicht zu nah und nicht zu weit, und sehe dabei, wie das Abendrot den Lokomotivenrauch durchglüht …, was ist Ihre grüne Tiergartenwand dagegen“, hält sie der Baronin Berchtesgaden entgegen.

In der Invalidenstraße

Vom damals als Station der Stadtbahn stark frequentierten Lehrter Bahnhof, gelegen auf dem Terrain des heutigen Hauptbahnhofs, ist es nicht weit bis hin zur Invalidenstraße und dem Haus der Witwe Pittelkow aus Fontanes Stine-Roman, der eine Geschichte aus dem Berlin der Gründerzeit erzählt. Der Leser sitzt in der Pferdedroschke des Grafen von Haldern ("Sarastro"), ist unterwegs über die Chaussee- in die Invalidenstraße und bald eingetroffen beim abendlichen Dinner im buntscheckig möblierten Zimmer der Pauline Pittelkow. Als man dort ausgelassen feiert, bahnt sich zwischen von Halderns Neffen Waldemar und Pittelkows rechtschaffener Schwester Stine eine tragische Affäre an, die einen gewaltsamen Verlauf nehmen soll.

Das Invalidenviertel, in dem Pauline Pittelkow lebte

Foto: Imago/Schöning

Erst verlebt Waldemar im Haus an der Invalidenstraße in schwärmerischer Stille glückselige Stunden, dann möchte er Stine zu seiner Frau machen. Und scheitert am Widerstand seiner adligen Verwandtschaft und Umgebung. Die lebenskluge Pauline hat die Schwester gewarnt: „Liebschaft is lange nicht das Schlimmste: heute is sie noch, un morgen is sie nicht mehr, von solcher unglücklichen Liebe kann sich einer noch erholen …, aber von's unglückliche Leben nich.“

Waldemar vergiftet sich, und die letzten Sätze des Romans lassen den Schluss zu, dass die unglückselige Stine ihm wohl bald folgen wird.

In der Georgenstraße

Fontanes Schwäche für starke Frauen – wem die Pittelkow nicht reicht, sollte die Chausseestraße wieder herunter touren, in die Dorotheenstadt hinein bis zur heute noch existierenden Georgenstraße, wo im dritten Stock der Nummer 19 die Witwe Möhring und deren Tochter Mathilde an alleinstehende Herrn möbliert vermieten. So auch an Hugo Großmann, einen fast schon abgebrochenen Jura-Studenten, nicht mittellos, aber antriebslos, unterhaltungssüchtig, kränklich.

Hugos Masern bescheren Mathilde die Chance ihres Lebens. Unter den zweifelnden Augen der Mutter pflegt sie den Rekonvaleszenten und nimmt alles in die Hand, bis Hugo um ihre Hand anhält. Sie lässt ihm noch manche Vergnügungstour durchgehen, ruft ihn dann aber zur Ordnung und legt Hand an seine Karriere, auf das Staatsexamen folgt die Berufung zum Bürgermeister in der westpreußischen Stadt Woldenstein. Dort arrangiert sich Mathilde vorzüglich mit den Honoratioren und legt für Hugo Ehre ein, bis der sich beim Schlittschuhlaufen eine Lungenentzündung holt und stirbt. Auf Mathildes Rückkehr nach Berlin folgt der Einstieg in den schon zuvor ersehnten Beruf der Lehrerin, denn Willen, Ehrgeiz und Lebensmut sind durch die Erfahrung Woldenstein noch gereift.

Zuweilen scheint die Mathilde-Figur durch Fontane wie auf dem mechanischen Webstuhl der Soziologie geschaffen.

In der Köpnicker Straße

Die Spree stromaufwärts und und einen Hauch stadtauswärts geht es bei Fontanes wie eine Gesellschaftssatire wirkendem Roman Frau Jenny Treibel, zugedacht einer Spezies des Berliner Bürgertums, die mit den 1870er Jahren als Bourgeoisie der Fabrikantenschaft emporsteigt. „Die Treibelsche Villa“, heißt es in Fontanes Exposition, „lag auf einem großen Grundstück, das, in bedeutender Tiefe, von der Köpnicker Straße bis an die Spree reichte. Früher hatten hier in unmittelbarer Nähe des Flusses nur Fabrikgebäude gestanden, in denen alljährlich ungezählte Zentner von Blutlaugensalz und später, als sich die Fabrik erweiterte, kaum geringere Quantitäten von Berliner Blau hergestellt worden waren.“

Als dann aber nach dem siebziger Kriege Milliarden ins Land kamen, habe der Kommerzienrat Treibel sein Wohnhaus in der Alten Jakobstraße als nicht mehr zeit- und standesgemäß empfunden „und baute sich auf seinem Fabrikgrundstücke eine modische Villa ...“ Das Parvenühafte dieser Sorte Aufsteiger glossiert Fontane höchst amüsant in der Person der Kommerzienrätin Jenny Treibel, die ohne Bildung ist, aber mit Bildung und Gefühl protzt, was sich als Eindruck besonders dann einstellt, wenn Frau Jenny als Herrscherin ihres Haushalts und im Glanz ihrer Würde bei Festen beobachtet wird. Bei denen thront sie an der Tafel auf einem Luftkissen, um höher zu sitzen und sich selbst ungeniert aufzublasen.

Wo allerdings die Kommerzienrätin herkommt, wo man sie kennt als geborene Jenny Bürstenbinder aus einem Materialwarenladen in der Adlerstraße – in diesem Viertel Berlins, am Werderschen Markt und Spreegraben, sucht man seit über 80 Jahren erfolglos nach dem entsprechenden Straßenschild und will vergeblich auf dem Pflaster stehen, auf dem einmal Frau Jenny Treibels Kutsche hielt. Ab 1934 verschwand die Adlerstraße für immer und unwiderruflich unter dem Erweiterungsbau der Reichsbank, derzeit dient das ausladende Gebäude als endlose Bürowabe des Auswärtigen Amtes.

Unter dem Fundament der einstigen Reichsbank liegt die Adlerstraße

Foto: F. Berger/Imago

Jenny selbst kehrt eher ungern in die Adlerstraße zurück. Nur wenn es sein muss, nur wenn die anmaßende Corinna Schmidt, die Tochter ihrer einstigen Jugendliebe, in die Schranken gewiesen werden muss, weil sie es wagen will, den Treibel-Sohn Leopold zu ehelichen, für den die Kommerzienrätin ganz andere Pläne hegt und durchzusetzen weiß.

In der Potsdamer Straße

Da eingangs in diesem Text auch die Keithstraße im Übergang zwischen Berlin und der im 19. Jahrhundert noch selbstständigen Stadt Schöneberg erwähnt worden ist, sei auch das entschlüsselt. Dort muss Effi Briest in einer kleinen Wohnung ausharren nach der Scheidung von ihrem strafsüchtigen Ehemann, Baron von Innstetten, der ihr eine lange zurückliegende Affäre ohne Leidenschaft nicht verzeiht. In der Keithstraße zerbricht Effi endgültig, als sie die von ihre getrennte Tochter zwar wiedersehen darf, aber auf ein vom Vater wie einen Papagei abgerichtetes Kind trifft. Selten hat Fontane die erbärmlichen Konventionen des wilhelminischen Ständesstaates einem so unerbittlichem Urteil ausgesetzt wie in diesem Gesellschaftsroman. Ein Vorläufer für Thomas Manns Buddenbrooks und das tragikomische Schicksal der Tochter Antonie "Tony" Buddenbrook.

Nach dem Treibel-Exkurs soll es abschließend wieder stadteinwärts gehen zu den Wohnungen und Schreibstätten des Dichters selbst, die so lagen, dass er studieren und beobachten konnte, was er sehen wollte. In der Potsdamer Straße 33, heute Alte Potsdamer Straße genannt, liegt die erste Wohnung, als Fontane mit seiner Frau Emilie im Januar 1859 nach der Korrespondentenzeit aus London zurückkehrt. Es geht danach schon bald in ein Domizil am Halleschen Tor, dann in die Alte Jakobstraße, bis es nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 möglich ist, eine größere Wohnung im Haus Potsdamer Straße 134c zu beziehen. Es stand in etwa dort, wo heute die Kurfürstenstraße die Magistrale nach Schöneberg kreuzt.

Hier beklagte Fontane zwar regelmäßig die „unerträglich heißen Sommer“, aber schrieb soviel wie nie zuvor in seinem Leben. Hier starb er am Abend des 20. September 1898 in seinem Arbeitszimmer, als er sich zur Verdauung einen Gnilka gönnen wollte.

Die besten Blätter für den Herbst

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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