Über Scherben laufen

Europa Angela Merkel und ihr deutscher Euro-Nationalismus haben ganze Arbeit geleistet. Die Europäische Union wirkt zerrissener denn je
Ausgabe 22/2014
Merkel hat mit missionarischer Besessenheit das marktradikale „Modell Deutschland“ zum kontinentalen Standard erhoben
Merkel hat mit missionarischer Besessenheit das marktradikale „Modell Deutschland“ zum kontinentalen Standard erhoben

Foto: Guido Bergmann-Pool/Getty Images)

Machen wir uns nichts vor – der nationale Instinkt hat dem vereinten Europa stets zugesetzt. Er schien manchmal verdrängt, gebändigt oder unterdrückt, ohne je wirklich überwunden zu sein. Mitunter reichte es schon, dass die Gegner eines allzu forschen Integrationsfurors andeuteten, dass in vielen EU-Staaten ein schlummernder Nationalismus nur geweckt werden müsse, um sich Geltung zu verschaffen – und sei es für den Augenblick eines Atemzugs, der eine Sekunde dauert und zur Ewigkeit werden kann.

Wie lange die mit der Europawahl 2014 angeheizte Konfrontation zwischen nationaler Obsession und transnationaler Passion dauert, wie hitzig und mit welchen Folgen sie ausgetragen wird, weiß niemand zu sagen. Das Wahlergebnis jedenfalls spiegelt massive Vorbehalte gegen die Vereinigten Staaten von Europa, gegen eurobürokratische Fremdbestimmung und den Verlust nationaler Identität. Das gilt für die bei 57 Prozent liegende Wahlverweigerung wie für das Stimmenplus für rechtsnationalistische Parteien – den französischen Front National (25,4 Prozent), die britische United Kingdom Independence Party (29,0 Prozent) die Dänische Volkspartei (26,6 Prozent), Italiens MoVimento 5 Stelle (21,2 Prozent) und andere. Dabei scheint es weniger relevant zu sein, ob eine Fraktion der Ultras im Europaparlament zustande kommt und wie viel destruktive Energie davon ausgeht. Entscheidender ist – was diese Parteien an Anhang und Protest absorbiert haben, wird die Europapolitik ihrer Länder verändern. Deren Regierungen sind beschädigt und beschämt.

Nur was nützt es? Eine Euro-Union von inzwischen 18 Staaten zwingt zur Europäischen und vor allem Politischen Union. Die Gemeinschaftswährung verbietet die Rückkehr zu nationalstaatlicher Idylle. Bestenfalls die Sehnsucht ist erlaubt, weil sich notorische Reflexe schwerlich verbieten lassen. Es wäre nicht nur ökonomisch verheerend, sondern ebenso geschichtlich fahrlässig, dem nachzugeben. Wenn die Versuchung dennoch glimmt, dann ist dafür nicht zuallererst die Alternative für Deutschland (AfD) zuständig. Den Boden haben andere bereitet, dafür tragen die Regierungen von Angela Merkel die Hauptverantwortung. Sie haben mit missionarischer Besessenheit das marktradikale „Modell Deutschland“ zum kontinentalen Standard erhoben und Resteuropa Stabilitätsdogmen aufgezwungen, die Verarmungsdiktaten gleichen. Keine gottgewollte Fügung, sondern Menschenwerk.

Profiteur und Provokateur

Das musste sich irgendwann rächen und trifft mit Frankreich nun gar einen Kernstaat der EU, der als Führungs- und Partnerstaat für Deutschland de facto ausfällt. Die Parti Socialiste (PS) und François Hollande sind nicht nur abgestraft, sondern abgewählt. Derart gnadenlos ist noch keine Regierung der V. Republik innerhalb von zwei Jahren abgestürzt. Auskosten kann dieses Desaster nicht etwa der bürgerliche Rivale UMP – der Profiteur ist der Provokateur, der von draußen kommt und eine andere als die V. Republik will. Marine Le Pen, die schon einmal auf der Straße betende Muslime mit der „Nazi-Besatzung“ vergleicht, fühlt sich autorisiert, ihr xenophobes Credo – zuerst gehört Frankreich den Franzosen – nicht nur salon- sondern auch regierungsfähig zu machen.

Kaum vorstellbar, dass es Angela Merkel auf eine solche Zäsur angelegt hat. Bei aller ideologischen Distanz sollte Hollande, der 2012 als Anwalt der Schwachen gewählt wurde, gewiss keine Lektion erteilt werden. Und doch lief es darauf hinaus. Von der EU-Kommission wie der Bundesregierung sah er sich zum Sparen genötigt wie jeder andere unsichere Kantonist von Spanien bis Slowenien. Jetzt kann ihn Merkel in ihre Handtasche packen. So absurd das anmutet, so gewollt wirkt es eben auch.

Es ist das Vermächtnis der Kanzler Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl ein europäisches Deutschland gewollt zu haben, dem Dominanz und selbstherrliches Gebaren fremd sein mussten, sollten ihm die europäischen Partner vertrauen. Dafür wurde nach der Wiedervereinigung die Großmacht DM geopfert, um mit dem Euro ein Faustpfand gegen die Großmacht Deutschland zu haben. Es kam anders. Als der Euro strauchelte, standen Interessen, Wohlergehen und Souveränität des deutschen Nationalstaates im Vordergrund. Man führte Europa in eigener Sache und verfiel einem deutschen Euro-Nationalismus, dessen Spiegelbild nach dieser Europawahl an Tiefenschärfe wenig schuldig bleibt. Es zeigt rumorende Europa-Abstinenz in fast allen EU-Ländern. Jetzt kann Angela Merkel über Scherben laufen, was ihrer oft vorgeführten stoischen Unempfindlichkeit nichts anhaben dürfte.

Die Aussicht, mit dem Sozialdemokraten Martin Schulz bis 2019 einen deutschen EU-Kommissionspräsidenten schlucken zu müssen, dürfte unter diesen Umständen bei vielen Partnerstaaten kaum Glücksgefühle auslösen. Da ist es egal, ob Schulz eine neoliberale Agenda zum Katechismus erhebt oder als Teufelszeug verdammt. Oder nichts von beidem will. „Jetzt auf einmal wird in Europa Deutsch gesprochen“, witterte CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder im November 2011 auf einem CDU-Parteitag metaphorische Morgenluft und erntete Applaus. Er könnte damit Schulz in die Suppe gespuckt haben, als der noch gar nicht daran dachte, einst die EU-Kommission führen zu wollen.

Beletage und Keller

Kann man es Wählern und Nichtwählern dieser Europawahl verübeln, antizipiert zu haben, was allen EU-Ländern, vorrangig den Euro-Staaten, eingebläut wurde? Wer mit der Kreditwürdigkeit seine Zahlungsfähigkeit verliert, ist erst einmal selbst schuld, Gemeinschaftswährung hin oder her. Wenn die Euro-Union dennoch hilft, dann um sich selbst zu retten und die Schuldenmacher büßen zu lassen, damit diese Rettung nicht gefährdet wird. Oder glaubt jemand ernsthaft, Griechenland, Irland und Zypern wären heute noch Eurostaaten, wenn ihr Bankrott nicht den Bankrott der Währungsunion heraufbeschworen hätte? Es ist kein notorischer, sondern ein natürlicher Reflex, wenn missachtete Souveränität als Demütigung empfunden wird und mehr denn je den Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung entfacht. Für Griechenland gilt das mit dem vorzüglichen Ergebnis für die Linksallianz Syriza (27 Prozent) allemal. Solange das EU-Establishment dem deutschen Vormund gehorcht und in der Brüsseler Orthodoxie verharrt, besteht ein opportunes Gegenmittel zum Erstarken des Rechtsextremismus in einem linken Populismus, der die Kapitalherrschaft angreift statt Arbeitsmigranten und Flüchtlinge. Ohne diesen Populismus lassen sich Rassismus und ökonomischer Chauvinismus, wie ihn der Euro-Nationalismus bei Licht besehen darstellt, nicht eindämmen.

Ohnehin ist der nationalistische Impuls alles andere als ein Alleinstellungsmerkmal einer Marine Le Pen oder eines Nigel Farage. Wir haben es vielmehr mit einem Phänomen zu tun, das auch „überzeugte Europäer“ erfasst. Um auf ein Beispiel zu kommen: Als sich abzeichnete, dass diese Europawahl die Zerrissenheit in der EU offenbaren würde, schlug prompt die Stunde des kerneuropäischen Imperativs. Nicolas Sarkozy plädierte im Magazin Le Point für die „große deutsch-französische Wirtschaftszone“ und „halbierte Kompetenzen der Gemeinschaft“. Der Ruf nach bilateraler Exklusivität innerhalb eines multilateralen Ensembles? Sicher auch das, doch kam in der Person des Ex-Präsidenten vor allem der nationale Egozentriker zu seinem Recht. Sarkozy erklärte, man müsse die Beziehungen zum großen Nachbarn „auf die profitabelste Weise“ organisieren – „für sie und für uns“. Mit anderen Worten, Deutschland und Frankreich schaffen sich im Gemeinsamen Haus Europa eine Beletage der Extraklasse. Wer im Obergeschoss und Seitenflügel, in Hinterzimmern, Dachgeschoss und Kellerräumen haust, interessiert nur, sofern es das Wohlbefinden der Privilegierten stört. Dieser Wohnraumlenkung sekundierte Angela Merkel mit ihrem Bescheid, verbreitet drei Tage vor dem Votum: „Die EU ist keine Sozialunion.“ Also haltet uns die Verlierer vom Leib. Eine regierungsamtliche Lebenslüge, deren man sich in der rechtspopulistischen Schmuddelecke nicht zu schämen brauchte.

Maß und Ausmaß

Die Besinnung auf nationale Identität und Zuständigkeit ist nicht a priori restaurativ oder reaktionär. Sie erwächst vielfach aus dem Willen zur Selbstbehauptung und sozialen Akzeptanz. Wähler des Front National sind etwas anderes als Politiker des Front National. Allzu urteilsmächtig sollten daher Unverständnis und Kritik über die fast 26 Prozent für den FN nicht ausfallen. Das Ergebnis bedeutet keine Abkehr von einem Leben in Europa. Nur das Maß und Ausmaß eines Lebens mit diesem Europa sind in Frage gestellt. Die kollektive Mentalität und psychische Disposition vieler Franzosen, aber ebenso vieler Briten, Italiener, Dänen, Ungarn und Slowaken setzen Grenzen für eine EU der existenziellen Zwänge, der Verdrängung und Wettbewerbsdogmen – es sind Grenzen, die um Europas willen endlich respektiert werden sollten. Nichts daran ist ehrenrührig.

„Das gibt es: Ein Nationalgefühl zu haben, ohne dass es gleich das schönste, höchste aller Gefühle wäre; eher ist es von Skepsis durchsäuert; regionale Bindungen wirken stärker als Vorstellungen vom großen Ganzen“, schrieb Günter Gaus in einem 1983 erschienenen Buch. Er gab ihm den Titel Wo Deutschland liegt.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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