Die Stunden rinnen auch durch den längsten Tag, und sei es der einer Europawahl in 28 Ländern, die vielfach zur Schicksalswahl erklärt wurde. Als sollte davon Sein oder Nichtsein der EU abhängen. Wenn zuletzt reichlich neurotisch wirkende Europa-Idealisten diese Abstimmung mit viel Bedeutung versehen haben, bleibt ihnen nichts weiter übrig, als mit dem Ergebnis genauso zu verfahren. War das die wichtigste Europawahl seit es derartige Urnengänge gibt, also seit 1979? Ging es um die Zukunft des Kontinents? Und ist die nunmehr entschieden? Oder zumindest vorentschieden?
Wie zu erwarten, haben die europaskeptischen, teilweise EU-feindlichen Parteien beachtliche Zuwächse erzielt, aber sie sind nicht allmächtig. Selbst zur Sperrminorität wird es kaum reichen. Etwas mehr als ein Fünftel der Sitze dürften die Europäische Allianz der Völker und Nationen (EAPN), hinter der Matteo Salvini mit seiner Lega steht, sowie die Fraktionen Europa der Nationen und der Freiheit (ENF) und Europa der Freiheit und direkten Demokratie (EFDD) errungen haben. Im Übrigen ist das Europaparlament im institutionellen Gefüge der EU auf demokratische Teilhabe programmiert, nicht die feindliche Übernahme von Kommission, Ministerrat und so weiter.
Dennoch wird die nächste EU-Legislative stärker als bisher zum Spiegelbild eines politisch zerklüfteten, von Feindseligkeiten und Animositäten geprägten Europa, das nicht den besten Zeiten entgegensieht. Die Verluste von Europäischer Volkspartei (EVP) und Sozialdemokraten in der SPE – sie erreichen in der Summe die Größenordnung von 90 bis 95 Mandaten (allein in Deutschland verlieren die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD zwischen 17 und 18 Prozent) – kosten diese Fraktionen die Hegemonie. Großkoalitionäres Agieren wird mit 300 bis 310 von 751 Sitzen im EU-Parlamente künftig kaum mehr möglich sein. Nur bedingt kompensiert wird dieser Aderlass durch die Gewinne von europafreundlichen Grünen und Liberalen, was an der weitgehend neoliberalen Agenda der EU wenig bis nichts ändern dürfte.
Wer mit wem?
Natürlich, wenn in den vergangenen Jahren eine Aufwertung des EU-Parlaments verlangt wurde und durchaus stattfand, kann sich das als Bumerang erweisen, sofern die rechtsnationalistischen Parteien von ihrem Zuwachs an Mandaten in destruktiver Absicht Gebrauch machen. Oder ihre Präsenz dazu verwenden, einem Europa Geltung zu verschaffen, das dem Abstand zwischen den Staaten wieder mehr Beachtung schenkt, ohne als Staatenassoziation dadurch gleich auf dem Rückzug zu sein
Vorerst jedoch bleibt abzuwarten, ob und wie sich Parteifamilien und Parteien zusammenfinden. In der bisherigen Kammer waren die rechtskonservativen, rechtsnationalen und rechtsradikalen Mandatare auf drei Fraktionen verteilt oder führten ein Einzel- und Schattendasein. Sicher sind die Zugewinne der Lega in Italien beträchtlich, aber nicht erschlagend, auch wenn Innenminister Salvini nun die Machtfrage stellen kann.
Und wer kann schlüssig vorhersagen, ob sich der französische Rassemblement National (RN), die niederländischen Rechtspopulisten des Forum voor Democratie (FvD), die FPÖ oder AfD unter das Patronat von Matteo Salvini stellen? Die Gralshüter unbedingter Identität werden dieses Markenzeichen auch im Verkehr miteinander behaupten wollen. Nationalismus will nicht allein bei EU-weiten, sondern vor allem nationalen Wahlen abgerufen werden und wirksam sein. Wer den Multilateralismus in der EU verwirft, muss eine Internationale der Ultrarechten gut begründen.
Auf jeden Fall kann man der auf die EU übertragenen parlamentarischen Demokratie nicht als Fehlentwicklung ankreiden, dass sie repräsentative Meinungsbilder produziert, die europaadäquat sind. Wurde noch vor nicht allzu langer Zeit gefragt, ob das Engagement bürgerrechtlicher Minderheiten zum Konflikt mit den repräsentativ-demokratischen und auf den Proporz der Mitgliedstaaten ausgerichteten EU-Institutionen führt, sind es nun in Parteien organisierte oder auf diese bezogene Minderheiten, die auf Kollisionskurs sind. Sie hinterfragen oder boykottieren einen Wertekanon, der von der EU mehr proklamiert als praktiziert wird.
Kein Ersatzvaterland
Wenn diesmal im Wahlkampf Wert darauf gelegt wurde, Wählerinnen und Wähler für den Erhalt einer weit fortgeschrittenen eruopäischen Integration zu gewinnen, dann haben 20 bis 25 Prozent der EU-Bürger dagegen votiert. Wer sich für die Rechten und Ultrarechten entschieden hat, der wusste, was diese Gruppierungen wollten und hat sich dem angeschlossen.
Nur von Protestwahl zu sprechen, wäre zu wenig – auf Abwahl eines in dieser EU vereinten Europa zu erkennen, zu viel. Es gibt eine relevante Minderheit, die im Europa der EU kein Ersatzvaterland sehen will und erst recht kein solches wünscht. Die teils extrem niedrige Wahlbeteiligung in einigen osteuropäischen EU-Staaten (nur 20 Prozent in Tschechien) zeigt das ebenso wie die Stimmabgabe für die Europa-Skeptiker.
Wie es den Anscheint hat, verfestigt sich ein Trend, wie er schon 2014 mit den hohen Stimmanteilen etwa des damaligen Front National (FN), der UKIP in Großbritannien oder der Dänischen Volkspartei zu beobachten war. Als der Euro plötzlich ins Straucheln geriet, hatte Angela Merkel mit ihren Maßnahmen auf einen deutschen Euro-Nationalismus zurückgegriffen, der eigene Interessen in den Vordergrund stellte. Die Verweigerung von kollektiver Haftung oder Eurobonds, als die Finanzkrise 2009/10 ausbrach, sprach für sich. Hier besiegelte die Gemeinschaftswährung keinen Gemeinschaftswillen, sondern eigene Bedürfnisse.
Der Vormarsch rechtsnationalistischer Parteien bei der Europawahl 2014 war eine Folge. Er hat sich fünf Jahr später als Aufmarsch fortgesetzt.
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