Es scheinen Welten zwischen den Präsidentenwahlen 2012 und 2017 zu liegen. Doch das ist ein Trugschluss. Weil die Welt der EU so blieb, wie sie vor fünf Jahren war, haben sich in Frankreich gut 22 Prozent der Wählern für Marine Le Pen entschieden. Vor fünf Jahren lag sie im ersten Wahlgang noch bei 18 Prozent und kam an den Bewerbern der Sozialisten und Bürgerlich-Konservativen, Francois Hollande (28,6 %) bzw. Nicolas Sarkozy (27,2%), nicht vorbei. Hollande gewann in der zweiten Runde und versprach einen Aufbruch, auf den eine Mehrheit hoffte. Er brauchte dazu das vereinte Europa, das aber lieber den Schulden- und Krisenstaat Frankreich zur Räson brachte, statt einen Erneuerer der EU gewähren zu lassen. Nun haben außer der Wirtschaftskrise wohl auch Zweifel und Verzweiflung an der EU dazu geführt, die Sozialisten abzuwählen.
Deshalb heißt der Gegner von Marine Le Pen im Stechen am 7. Mai nicht Benoît Hamon vom Parti Socialiste (PS), sondern Emmanuel Macron, der in Deutschland gern als Mustereuropäer weichgezeichnet wird, aber für die EU das will und im Interesse seines Landes wollen muss, woran Staatschefs wie Sarkozy und Hollande gescheitert sind, weil die deutsche Kanzlerin dagegen war: eine europäische Wirtschaftsregierung für die Eurozone, ein eigenes Budget aller Euro-Staaten, eine gemeinsame Steuer- und Schuldenpolitik, was nur Eurobonds heißen kann.
Doch wird Macron vor dem zweiten Wahlgang gut beraten sein, sich nicht allzu sehr auf das EU-Thema einzulassen. Marine Le Pen könnte davon profitieren, indem sie Europa-Frust und -Skepsis nach Kräften auszuschöpfen sucht. Die erreichten 22 Prozent sind alles andere als eine Gewähr auf die Präsidentschaft. Die Kandidatin muss so tief ins bürgerliche Frankreich eindringen wie ihr das beim ländlichen und proletarischen bereits gelungen ist.
Wozu raten die Verlierer?
Erstmals bei einer Präsidentenwahl in der V. Republik gelang vor 15 Jahren einem Kandidaten des Front National (FN) der Sprung in den zweiten Wahlgang. Am Abend des 21. April 2002 lag Jean-Marie Le Pen mit 0,7 Prozent vor dem sozialistischen Aspiranten Lionel Jospin. Ein Schock für den PS, hatte man doch eher ein Patt mit dem gaullistischen Bewerber Jacques Chirac erwartet. Welche Reaktion ist nun fällig, wenn der Sozialist Benoît Hamon mit peinlichen sechs Prozent (Hochrechnung 20.00 Uhr) hinter der Tochter, hinter Marine Le Pen, liegt?
Im Stechen konnte sich der alte Le Pen seinerzeit nicht mehr steigern. Er unterlag Chirac mit 17,8 gegen 82,2 Prozent. Der triumphierte als Galionsfigur einer republikanischen Front und eines anti-rassistischen Burgfriedens zwischen rechtskonservativ und links.
Die große Frage lautet: Hat Marine Le Pen diesmal ihr Wählerpotenzial in Runde eins ausgeschöpft? Geht sie ebenso aussichtslos in die Stichwahl wie einst ihr Vater? Die Sozialisten wie François Fillon (19,7 Prozent) von den Republikanern haben ihren Anhängern für das Votum am 7. Mai Macron empfohlen. Und wie viele Franzosen werden dem folgen?
Wenn das Ergebnis so bleibt, wie es momentan den Anschein hat, ist die bürgerliche wie linksliberale Mitte, sind die konservativen Republikaner wie der Parti Socialiste die großen, fast möchte man sagen: historischen Verlierer dieser Wahl. Die Präsidentschaft wird zwischen einem unabhängigen Sozialliberalen und einer rechten Nationalistin vergeben.
Populismus-Keule
Wahlen in EU-Staaten geraten spätestens seit der Abstimmung über das EU-Parlament im Mai 2014 zu von Unmut, Wut und Hass getränkten Protestakten, bei denen Bewerber Chance haben, die glaubhaft versichern können, nicht zu einem saturierten Establishment zu gehören, dass Kontakt zum eigenen Milieu für Tuchfühlung mit der Gesellschaft hält. Der Politologe Alfred Grosser hat gerade in einem Interview daran erinnert, dass sich früher in Frankreich Kommunisten und Sozialisten nicht scheuten, im Hinterhof mehrere Treppen hochzusteigen, um Menschen aufzusuchen, deren Interessen sie vertreten und von denen sie gewählt werden wollten. Dafür seien sich Frankreichs Sozialisten heute zu schade, weil sie sich für eine Partei der Intellektuellen hielten. Für Aktivisten des Front National oder auch der Bewegung En marche von Macron traf das offenbar nicht zu.
Der PS spiegelt die auch im deutschen ökoliberalen Biotop verbreitete Hoffart, die eigene zivilisatorische Exklusivität zu feiern und aus dem Blick zu verlieren, wie demütigend das für Menschen sein kann, denen eine bornierte Wirtschaftspolitik ein Minimum an Gerechtigkeit und Teilhabe verwehrt. Gekrönt wird dieser Autismus durch den Reflex mit der Populismus-Keule zu fuchteln, sobald der Status quo in Frage steht.
Im Vorfeld der Frankreich-Wahl war dies besonders dann zu beobachten, wenn in platter Verkennung gravierender Unterschiede und daraus resultierender Motive Le Pen und Mélenchon als EU-Feinde etikettiert wurden, die sich diese wundervollen Union zwar von verschiedenen Seiten, aber mit der gleichen Absicht näherten – um deren Zerstörung zu betreiben. Eigentlich konnte man nicht übersehen, dass sich Mélenchon vor allem auf den wirtschaftlichen Niedergang bezog, dem zu entkommen, deutscher Euro-Nationalismus verhinderte. Le Pens Anrennen gegen die EU rührt hingegen aus klar rassistischen und nationalistischen, um nicht zu sagen chauvinistischen Gründen. Wird die FN-Chefin dabei bleiben, um Macron die fast sichere Präsidentschaft doch noch zu nehmen – oder endgültig zu verlieren?
Anders formuliert, setzt sich am 7. Mai die EU-Animosität durch oder überwiegt die Angst vor den Risiken, wenn Frankreich einen eigenen Weg riskiert und sich ein Frexit-Referendum traut? Immerhin haben mit Mélenchon und Le Pen zwei vehemente EU-Kritiker mehr als 40 Prozent der Stimmen gewonnen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.