Was der Euro noch wert ist

EU-Gipfel Die Gemeinschaftswährung ist in ihrem Bestand gefährdet, aber auch in ideeller Hinsicht erschöpft. Nun rächt sich die Scheu vor einer Politischen Union ohne Wenn und Aber

Der Euro durfte auf keinen Fall vorzeitig in die Abgründe profaner Ökonomie gerissen werden. Als der Bundestag am 23. April 1998 abschließend über die Europäische Währungsunion befand, galt der Verweis auf wirtschaftliche Risiken als Störung der parlamentarischen Weihestunde. Es schickte sich nicht, wie es Abgeordnete der PDS taten, über das in einer Eurozone zu erwartende Produktivitäts- und Sozialgefälle, über ruinöse Steuerwettbewerbe und eine denkbare Fiskalunion, über Leistungsbilanzen und Haushaltsdefizite zu reden. Der Euro sollte eine Gemeinschaftswährung sein, gedacht als europäisches Geld ohne europäischen Staat, sehr wohl aber für nationale Ökonomien, deren Souveränität nicht im Handelsregister stand.

So wollten 632 von 672 Bundestagsabgeordneten an jenem Tag der europäischen Integration einen historischen Moment bescheren und trafen eine Entscheidung, bei der politischer Wille ökonomische Realität und Rationalität zu disziplinieren hoffte. Für diese Gepflogenheit hatte es in der Geschichte der europäischen Einigung manches Beispiel gegeben. Etwa mit der am 3. Oktober 1990 vollzogenen EU-Aufnahme Ostdeutschlands, als angesichts des Subventionsbedarfs im Anschlussgebiet die ansonsten sakrosankten EU-Wettbewerbsdogmen an Durchschlagskraft verloren.

Weiter und immer weiter

Auch das Vertragswerk von Maastricht war 1992 von politischem Ehrgeiz durchdrungen. Es erschöpfte sich keineswegs in der angestrebten Wirtschafts- und Währungsunion. Weitere Säulen waren eine koordinierte Rechts- und Innenpolitik sowie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), in der sich Sehnsucht nach weltpolitischem Aufstieg spiegelte. Die EU wollte als Wirtschaftsverbund zugleich Staaten- und Werte-Gemeinschaft sein, freilich mit unscharfen Konturen, unscharfer Finalität, allein dem scharfen Willen, es niemals auf einen Zustand vollendeter europäischer Staatlichkeit ankommen zu lassen. Auch wenn manches zuweilen dazu einlud. Immerhin lag der EU nach 1990 ein ganzer Kontinent zu Füßen. Es entsprach ihrer genetischen Substanz, wie sie der Kalte Krieg codiert hatte, im Osten Europas gesellschaftspolitisch vollendete Tatsachen zu schaffen und jedes erneute Paktieren mit Russland zu verhindern.

Die EU-Osterweiterung, deren Probelauf 1990 mit der Ostausdehnung Westdeutschlands stattfand, war ein politischer Kraftakt sondergleichen. Mit der Aufnahme der ersten acht Aspiranten von Slowenien bis Estland im Mai 2004 geschah nichts anderes, als die inzwischen überreife Ernte des schnellen Sieges von 1990 in die Scheuern zu fahren. Als Momente des Innehaltens an der Schwelle zu einem neuen Jahrhundert geboten waren, trieb es die EU weiter und immer weiter, weil sie nicht preisgeben wollte, was gerade für einen erschwinglichen Preis zu haben war. Man kann der Osterweiterung zugute halten, dass ihr sicher auch die Überzeugung zugrunde lag – nur im kontinentalen Schulterschluss könne aus der Europäischen eine Politische Union werden. Als dieses Ziel jedoch mit einer Europäischen Verfassung greifbarer und verbindlicher wurde, fand der gewagte Ausflug in die Grauzone einer europäischen Staaten-Föderation ein jähes Ende. Es war richtig, davon auszugehen, dass die erstrebte politische Selbstbestimmung Europas nicht Sache einer Wirtschaftsgemeinschaft und schon gar nicht des Euro sein könne. Es war jedoch illusionär, daran zu glauben, diese Gewissheit werde in Frankreich, den Niederlanden oder wo auch immer mit Souveränitätsverzicht bedacht.

Allzu teuer bezahlt

So blieb die EU dem Paradigma verhaftet: Soviel Währungsunion wie möglich, soviel Politische Union, wie wir uns ohne innere Erosion und Selbstzerfleischung leisten können. Dass es seit einem guten Jahr ausgerechnet dem Euro vorbehalten ist, diesen Opportunismus als Selbstbetrug und Lebenslüge zu enttarnen, mag Ironie jüngster europäischer Geschichte nennen, wer will. Verharmlosend klingt es allemal. Dieser Offenbarungseid wird mit der Notlage eines implodierenden Währungsraums allzu teuer bezahlt. Von den Kollateralschäden für die europäische Idee ganz zu schweigen.

Statt der Politischen Union springt nun ein autoritäres Direktorium aus IWF, Europäischer Kommission und Europäischer Zentralbank in die Bresche, um Schuldnerstaaten Sparauflagen wie Strafmandate zu überreichen, die zu befolgen sind, andernfalls droht Untergang. Wie der jüngste EU-Sondergipfel zeigt, ist Griechenland Umgangsformen unterworfen, wie sie bisher bei IWF oder Weltbank üblich waren, wenn mutmaßliche ökonomische Hasardeure in Afrika zur Räson gebracht wurden. Ideale wie europäische Solidarität, Standards für Menschenrechte und soziale Integration, die hochgelobte Regionalpolitik degenerieren zum Entsorgungsfall. Der Euro bricht nationale Souveränität, wie das keine Politische Union je getan oder gewagt hätte. Er verschafft sich, was ihm seiner Geburtshelfer verweigerten: Economic Governance, jetzt in der Krise und aus der Not geboren in einer drakonischen und sozial reaktionären Spielart.

Fällt nicht auf, welch marktradikale Agenda überall in Europa mit der Fuchtel eines drohenden Staatsbankrotts durchgesetzt wird? Der Euro schleift europäische Werte, als sei er zum Scharfrichter berufen, der aller Welt vor Augen führt, was es Europa wert sein muss, will es die Gemeinschaftswährung retten.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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