Was ins Raster passt

Europa Die EU ist weiter außerstande, bei der Flüchtlingskrise gegenseitiger Hilfe Geltung zu verschaffen – ein Überlick und Vorschläge für eine harmonisierte EU-Asylpolitik
Ausgabe 51/2015
Was ins Raster passt

Illustration: der Freitag

Für die übernächste Woche zeichnet sich bereits ab, dass es auf dem EU-Gipfel am 18./19. Februar in der Flüchtlingsfrage keinen Durchbruch geben wird. Im Gegemteil, die Fronten haben sich eher verhärtet, seit Österreich und Schweden aus der kleinen Schar aufnahmewilliger EU-Länder augeschert sind, Frankreich passiv bleibt, Großbritannien mauert, und die Osteuropäer von einem Verteilungsschlüssel nichts wissen wollen.

Die Aufnahmequoten driften extrem weit auseinander und widersprechen der Leistungs- und Wirtschaftskraft potenzieller Gastländer. Nur ein signifikantes Beispiel: Während Großbritannien 2015 etwa 35.000 Menschen aufgenommen hat, waren es in Deutschland im gleichen Zeitraum eine Million. Man sollte meinen, es ist höchste Zeit für eine koordinierte europäische Asylpolitik. Welcher Nachholebedarf hier besteht, zeigt eine vergleichende Übersicht zu ausgewählten EU-Staaten.

Spanien

Herkunftsländer: Marokko, Libyen, Mauretanien, Senegal
Flüchtlingszahl 2015: ca. 6.000 (bis Oktober), illegale Migration 12.000 bis 15.000 Menschen
Asylbewerber/Million Einwohner: 79

Unterkunft: Aufnahmezentren werden fast ausnahmslos von NGOs betrieben, die ihre Leistungen dem Staat in Rechnung stellen
Staatliche Leistungen/Monat: 52 Euro Taschengeld plus Kost und Logis. Die Zuwendungen werden für sechs Monate gewährt. Sie können auf zwei Jahre verlängert werden
Soziale Integration: Arbeitsaufnahme erst nach der Zuerkennung des Asylstatus
Besonderheiten: Spanien hat 2015 Rückführungsabkommen mit Senegal, Mauretanien und Nigeria geschlossen, die strikt eingehalten werden. Die Enklaven Melilla und Ceuta in Marokko sind so massiv gesichert wie nie zuvor

Großbritannien

Herkunftsländer: Südsudan, Eritrea, Afghanistan, Somalia
Flüchtlingszahl 2015: ca. 35.000 (bis Oktober)
Asylbewerber/Million Einwohner: 115

Unterkunft: dezentral, zumeist in Wohnungen geringer Qualität, die der Staat anmietet, keine Lager oder Zeltstädte
Staatliche Leistungen/Monat: Umgerechnet 220 Euro, dazu Unterbringungs- und Verpflegungskosten
Soziale Integration: Arbeitserlaubnis erst nach Aufenthaltsbewilligung, Anerkennungsquote bei Asylbewerbern lag 2014 bei 13 Prozent
Besonderheiten: Premier Cameron hat angekündigt, dass sein Land 2016 „Tausende Flüchtlinge aus Syrien“ aufnehmen will

Frankreich

Herkunftsländer: Syrien, Südsudan, Irak, Libyen, Mali
Flüchtlingszahl 2015: Es gilt eine von der Regierung gesetzte Obergrenze von 30.000 Menschen, die bis Oktober noch nicht erreicht war
Asylbewerber/Million Einwohner: 221

Unterkunft: Registratur und Aufnahme in Empfangszentren unter regionaler oder kommunaler Verwaltung, derzeitige Aufnahmekapazität: 47.000 Flüchtlinge
Staatliche Leistungen/Monat: 93 Euro bei Unterbringung in Empfangszen-tren, die für Unterkunft und Verpflegung aufkommen, sonst 340 Euro
Soziale Integration: Arbeitserlaubnis erst nach Zuerkennung des Asylstatus, Integrations- und Sprachkurse auf regionaler oder kommunaler Basis
Besonderheiten: Im Juli verabschiedete die Nationalversammlung ein Gesetz zur Beschleunigung von Asylverfahren von 24 auf 9 Monate

Deutschland

Herkunftsländer: Syrien, Afghanistan, Irak, Eritrea, Albanien
Flüchtlingszahl 2015: 1.000.000 (Prognose für Jahresende)
Asylbewerber/Million Einwohner: 996

Unterkunft: Zunächst Notunterkunft, dann Erstaufnahmeeinrichtung in Verantwortung der Bundesländer
Staatliche Leistungen/Monat: Taschengeld 143 Euro, dazu Kleider, Nahrung und Hygieneartikel. Nach Verlassen der Erstaufnahmeeinrichtung haben Asylbewerber Anspruch auf monatliche Leistungen, die an Hartz-IV-Sätze angelehnt sind
Soziale Integration: Für Asylbewerber ist eine Arbeitsaufnahme unter gewissen Umständen nach sechs Monaten Aufenthalt möglich; Länder und Hilfsorganisationen bieten Sprach- und Integrationskurse an
Besonderheiten: Bisher dauerten Asylverfahren ein bis zwei Jahre. Sie sollen nun auf vier bis fünf Monate verkürzt werden, was aber wegen des großen Zustroms nicht funktioniert

Schweden

Herkunftsländer: Syrien, Afghanistan, Irak, Balkanstaaten
Flüchtlingszahl 2015: ca. 180.000
Asylbewerber/Million Einwohner: 1.467

Unterkunft: Dezentrale Aufnahme-zentren und beheizte Zelte
Staatliche Leistungen/Monat: 220 Euro für alle Flüchtlinge, die in vom Staat getragenen Unterkünften leben
Soziale Integration: Syrer dürfen nach der Registratur sofort arbeiten und staatliche Hilfe bei der Arbeitssuche in Anspruch nehmen. Sprachkurse und berufliche Weiterbildung werden garantiert
Besonderheiten: Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien ist seit dem November 2013 ein Niederlassungsrecht zugestanden. Seit 10. November 2015 werden die Grenzen jedoch wieder kontrolliert

Österreich

Herkunftsländer: Syrien, Afghanistan, Irak, Albanien
Flüchtlingszahl 2015: ca. 65.000 (bis Oktober)
Asylbewerber/Million Einwohner: 2.026

Unterkunft: Dezentrale Aufnahmezentren
Staatliche Leistungen/Monat: 40 Euro für Flüchtlinge, die in von Bundesländern oder Kommunen getragenen Unterkünften leben, dazu Kleidergutscheine für 150 Euro/Jahr
Soziale Integration: Arbeitsaufnahme erst nach der Anerkennung als Migrant. Sprachkurse liegen in der Verantwortung der Bundesländer
Besonderheiten: Österreich betrachtet sich weiterhin als Transitland für Flüchtlinge, die nach Deutschland und Schweden wollen

Ungarn

Herkunftsländer: Syrien, Afghanistan, Irak, Albanien
Flüchtlingszahl 2015: Seit Bau der Grenzzäune zu Serbien und Kroatien verzeichnet Ungarn kaum noch Asylsuchende, bis zum II. Quartal 2015 lag die Zahl bei 32.600
Asylbewerber/Million Einwohner: 3.337

Unterkunft: Notaufnahmeeinrichtungen mit derzeit ca. 3.000 Betten in öffentlicher Verwaltung
Staatliche Leistungen/Monat: Nach einem Monat Aufenthalt werden 25 Euro neben der Grundversorgung mit Kleidung und Lebensmitteln gewährt
Soziale Integration: Die Suche nach Arbeit ist erst erlaubt, wenn der Aufenthaltsstatus geregelt ist
Besonderheiten: Nach Aufbau der Grenzzäune wird eine illegale Einreise mit Gefängnis bestraft. Vereinzelt wird Flüchtlingen der Transit nach Deutschland und Österreich erlaubt

Bulgarien

Herkunftsländer: Syrien, Afghanistan, Irak, Pakistan
Flüchtlingszahl 2015: Bis zum III. Quartal lag die Zahl bei etwa 4.000
Asylbewerber/Million Einwohner: 565

Unterkunft: Vereinzelte Lager mit niedrigen Sozialstandards. Sie werden vom Staat finanziert
Staatliche Leistungen/Monat: Als Zuwendung werden umgerechnet 25 bis 30 Euro ausgezahlt, dazu Kost und Logis
Soziale Integration: Hier sind Migranten weitgehend sich selbst überlassen
Besonderheiten: Mit dem Bau eines Grenzzauns zur Türkei hat das Land bereits 2013 den Zugang für Flüchtlinge erschwert. Illegaler Grenzübertritt wird als Straftat geahndet

Fünf Vorschläge für eine harmonisierte EU-Asylpolitik

Königsteiner Schlüssel

Unerlässlich ist eine bindende Quotenregelung in der EU. Die Konsequenz: Jedes Mitgliedsland muss eine bestimmte Zahl von Migranten aufnehmen. Für die Verteilung wird auf das Prinzip des Königsteiner Schlüssels zurückgegriffen, nach dem in der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 gemeinsame Finanzierungen der Länder berechnet werden. Das hieße für die EU: Die Verteilungsrate richtet sich zu zwei Dritteln nach dem Steueraufkommen der einzelnen EU-Staaten als Ausweis ökonomischer Leistungskraft und zu einem Drittel nach der Bevölkerungszahl. Die Rate wird jedes Jahr neu berechnet.

Ausgelagerte Verfahren

In den Nachbarstaaten Syriens und Afghanistans nehmen die Botschaften der EU-Staaten Asylanträge entgegen, über die in der Brüsseler EU-Zentrale entschieden wird. Das präventive Verfahren erspart vor allem syrischen Flüchtlingen lebensgefährliche Seewege. Werden Asylgesuche genehmigt, können Visa für Migranten eine Ausreise per Flugzeug ermöglichen.

Lissabon-Vertrag

Die drei EU-Richtlinien zur Flüchtlingspolitik werden durch Entscheid des Europäischen Rates und des EU-Parlaments zum europäischen Vertragsrecht erhoben und dem Lissabon-Vertrag von 2007 zugeordnet. Es handelt sich um die Verfahrensrichtlinie (prozedurale Rechte Asylsuchender), die Aufnahmerichtlinie (Anrecht auf Obdach, Nahrung, Kleidung) und die Qualifikationsrichtlinie (Rechte nach Asylgewährung).

Familiäre Bande

Reisen Mitglieder einer Familie über verschiedene Wege in den Geltungsbereich der Dublin-II-Verordnung ein, werden die Asylanträge durch einen bestimmten Staat gemeinsam behandelt. Familien entscheiden selbst, wo sie in Abhängigkeit von der familiären Situation, den sprachlichen Fähigkeiten und ihrer Qualifikation Schutz suchen wollen. Familienzusammenführung geschieht unabhängig von der Dauer der Asylverfahren.

Europäischer Flüchtlingsfonds

Der bereits 2008 eingerichtete Europäische Flüchtlingsfonds (EFF) wird den vier EU-Strukturfonds (Regional-, Sozial-, Agrar- und Kohäsionsfonds) gleichgestellt und dient dazu, das Betreuungsgefälle bei Flüchtlingen abzubauen. Finanziert wird der EFF aus dem EU-Haushalt. Die Verteilung seiner Mittel richtet sich nach dem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen in einem EU-Staat und wird jedes Jahr angepasst.

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