Weekly Soap

NotstandsPalaver Walter van Rossum beschreibt seine "Sonntage mit Sabine Christiansen"

So geistreich und pointiert kann ein Sachbuch sein, wenn ein Autor in der Lage ist, wie ein fideler Entertainer durch seinen Stoff zu führen. Und das versteht der Kölner Publizist Walter von Rossum vorzüglich, wenn er sich der seit 1998 ausgestrahlten Sendung Sabine Christiansen als einer im Wochenrhythmus werkelnden Weltbild-Stanze annimmt. Gleich in der Exposition seiner Studie bringt er das dramaturgische Gerüst des ARD-Formats auf den Punkt: Headline und Filmspot bedienen als Prolog gern das Apokalyptische: "Ist Deutschland noch zu retten?", wird dann gefragt. Oder: "Ist der Terrorismus noch aufzuhalten?" Oder: "Später in Rente! Hilft das Deutschland?" Anschließend rekrutiert die Moderatorin ihre nationale Rettungsgesellschaft. Vom "Leichtmatrosen" Westerwelle bis zum nationalrevolutionären Klabautermann Arnulf Baring - allen ist aufgetragen, den aus der Fahrrinne geratenen Deutschland-Tanker wieder auf Kurs zu bringen. Dabei werden auf Christiansens Kommandobrücke die allseits bekannten Imperative bemüht: Das Land darf nicht länger über seine Verhältnisse leben, es muss drakonisch reformiert werden, der Sozialstaat hat ausgedient - die zum persönlichen Risiko entschlossenen "Leistungsträger" wie Unternehmer und Selbstständige sind die Leitfiguren, die zu hoch alimentierten "Leistungsempfänger" wie Rentner und Arbeitslose der Grund vielen Übels.

Walter van Rossum tranchiert dieses allsonntägliche Palaver mit feinem Skalpell, um uns als anatomischen Befund zu präsentieren: "Jeder dieser Katastrophentalks ist komplett austauschbar ... Sabine Christiansen funktioniert als eine Tonspur in der Endlosschleife mit den stets gleichen Figuren". Und dann folgt die von Olaf Scholz bis Roland Koch reichende Besetzungsliste mit alldem, was das juste milieu in diesem Lande an faden Galionsfiguren zu bieten hat. Zuweilen werden auch Gewerkschafter wie Frank Bsirske oder Jürgen Peters rekrutiert, die den Part des anachronistischen Simpels zu übernehmen haben, dem es aus dogmatischem Starrsinn verboten ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Hat einer von ihnen die Stirn, aus Gewissens- oder Schamgründen ein Minimum an sozialer Gerechtigkeit einzuklagen, wird aus der antichambrierenden die zuchtmeisternde Christiansen, die den verstockten "Besitzstandswahrer" rücksichtslos unterbricht, mit deplazierten Zwischenfragen nervt und den wohlbestallten Bescheidwissern der Runde zum Fraß vorwirft.

Es ist ein unbestreitbarer Vorzug dieses Buches, minutiöse Protokolle vieler Sendesequenzen vorzulegen, die zu einem kaum überraschenden Fazit führen. Bei allem Reform-Palaver geht es nicht wirklich um Reformen in des Wortes klassischer Bedeutung, sondern allein darum, Sozialsysteme, Löhne, Arbeitszeiten und -gesetze den Bedürfnissen einer neoliberalen Ökonomie anzupassen. Aufschlussreich auch van Rossums Erinnerung daran, wie Christiansen zwischen Januar und Mai 2003 "dabei half, den Irak zu befreien" und all jene als politisch unzurechnungsfähig vorzuführen pflegte, die nicht an die von Rumsfeld, Perle Co. suggerierten Monsterwaffen Saddams glaubten.

Aber so treffend der Autor diese Weekly Soap auch glossiert, irgendwann kann sich der Leser des Eindrucks nicht erwehren, dass der Exkurs gedanklich auf der Stelle tritt - will heißen: die analytische Komponente bleibt trotz aller scharfsinnigen Deskription unterversorgt. Van Rossum geißelt zwar mit rhetorischem Furor, wie sich Christiansens Honoratioren-Stadel nicht im geringsten scheut, dem Hang zur Uniformität in Sachen Gesellschaftsdiagnose nachzugeben. Nur warum diese Spezies "so etwas wie den tückischen Totalitarismus der Postmoderne" (van Rossum) derart unverhohlen vorzeigen kann, diese Frage bleibt ebenso offen wie die nach den sozialpsychologischen Tiefenwirkungen dieser höchst staatstragenden Veranstaltung. Vieles bei Christiansen funktioniert im Wechselspiel mit dem anwesenden Publikum, das gern bei seinen Pogrom-Phantasien abgeholt zu werden scheint, wenn Merz, Eichel oder Rürup ihren Sermon über verkrustete Sozialstrukturen in der Abteilung gesundes Volksempfinden abladen. Hier überbringt der "tückische Totalitarismus" seine sozialdarwinistische Botschaft und findet im Christiansen-Auditorium jede Menge williger Claqueure.

Insofern ist die Sendung ein Stimmungsbarometer dafür, wie der militant gewerkschaftsfeindliche Radikalismus der Mitte von Clement bis Glos seine Wirkungen hinterlässt und unentwegt hilft, das Jagdfieber auf die Schwachen und Hilfsbedürftigen nicht abklingen zu lassen.

Wenn es um zivilisatorische Contenance geht, schlittert das juste-milieu seit geraumer Zeit über dünnes Eis. Bricht es, werden Pamphlete produziert und gedruckt wie am 19. November 2002 in der FAZ das unsägliche "Bürger, auf die Barrikaden!" des Arnulf Baring, der sich darin gefiel, das Regieren mit Notverordnungen in der Restlaufzeit der Weimarer Republik als Modell für heutige "durchgreifende Lösungen" zu empfehlen. Walter van Rossum kommt auf den emeritierten Historiker nicht nur als Christiansen-Stammgast, sondern vor allem als Prototyp eines juste-milieu zu sprechen, das bereit ist, "jederzeit von der Ernstfalldiktion in die Notstandspraxis" umzuschwenken.

Walter van Rossum: Meine Sonntage mit "Sabine Christiansen". Kiepenheuer Witsch, Köln 2004, 185 S., 8,90 EUR


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