EU 27 Resteuropa reitet politisch wie medial auf der Verstimmungswoge und fühlt sich länder- und lagerübergreifend von den Brexit-Briten schwer brüskiert
Europa steht eine dramatische Woche bevor, in der die Selbstvergewisserung wie Glockengeläut klingen wird. Schon am Wochenende war zu beobachten, dass die EU-Größen versuchen, sich einen Rettungsring umzulegen und damit zur Schau zu stellen, auch wenn sie wissen, dass der aus Blei ist.
Es gibt eine eklatante Kluft zwischen der Beschwichtigungsprosa aus Brüssel und dem fallenden Ansehen einer „EU 28 minus 1“. Sicher in großer Not, aber ohne Gespür für die Situation und diplomatisches Geschick wird die britischen Regierung barsch aufgefordert, in Brüssel das Austrittsgesuch abzugeben und sich vom Acker zu scheren. Prompt ist eine Machtprobe ausgerufen, die keiner gewinnen kann, aber geradezu ins Bewusstsein hämmert, wie es um die Staat
28;mmert, wie es um die Staatenunion bestellt ist, und wie miserabel sie geführt wird. Es war absehbar, dass sich die Regierung Cameron stur stellt und auf Souveränität pocht. Was kann ihr – so angeschlagen, wie sie ist – Besseres passieren, als sich in einen Stellungskrieg zu begeben und zu insistieren: Wann und wie wir uns trennen, wird nicht in Brüssel entschieden!Generationen-BashingAuch die gerade von idealistischen EU-Träumern, die sich um ihr Wohlfühl- und Kuschelbiotop Europa gebracht sehen, lancierten Deutungen des Votum vom 23. Juni sind nicht hilfreich. Es ist tendenziös und gefährlich, wenn Ursachenforschung durch Generationenmobbing ersetzt wird, um zu suggerieren, die Bosheit der Alten in England und Wales habe jungen Briten die Zukunft verdorben. Wer die Wahlanalysen aufmerksam liest, stößt darauf, dass schon in der Gruppe der 35- bis 44-jährigen Briten 48 Prozent für den Austritt gestimmt haben. Bei den 45- bis 54-Jährigen, die sich vermutlich nicht zu den „Alten“ rechnen, waren es immerhin 56 Prozent. Da hatte das Unbehagen augenscheinlich mehrere Generationen ergriffen. Trotzdem wird insistiert, jungen Briten seien um ihre europäischen Hoffnungen gebracht. Starke Worte, die gepasst hätten, aber nicht zu hören waren, als im Mai 2012 die ILO alarmierte, dass in der Eurozone jeder fünfte Unter-25-Jährige nach bezahlbarer Arbeit suche, in Spanien und Griechenland jeder zweite, in Portugal jeder dritter. Wie viel Hoffnung ging jungen Europäer da verloren? Woran sich seither substanziell wenig geändert hat. Resteuropa reitet politisch und medial auf der Verstimmungswoge. Man fühlt sich länder- und lagerübergreifend von den Brexit-Briten brüskiert, die nur an sich denken. Und denen jedes Gefühl für Anstand und Solidarität abhanden kam. Es ereifern sich Politiker und Journalisten, die noch vor einem Jahr die Griechen hochkantig rauswerfen und ihrem Schicksal überlassen wollten. Wer fühlte im Sommer 2015 im Kabinett Merkel sein europäisches Herz schlagen, als gegenüber einer als aufsässig empfundenen linken Regierung ein Exempel statuiert werden sollte? Als jede Solidarität mit den „Pleite-Griechen“ als Schützenhilfe für hemmungslose Epikureer verschrien war? Wilde EntschlossenheitCameron darf den Austritt nicht in die Länge ziehen, ist zum kontinentaleuropäischen Imperativ der Stunde avanciert. Um potenzielle Nachahmer abzuschrecken? Sicher auch das. Vor allen aber grassiert die Angst vor langen und lange offenem Austrittsverhandlungen. Bis die Trennungsmodalitäten fixiert sind, verharrt das EU-Wirtschaftssystem in einem Schwebezustand – mit Folgen für die Finanzmärkte, die Investitionsneigung, die Konjunktur und den Arbeitsmarkt. Nicht zuletzt für die Außenwirkung der Union, siehe Euro-Kurs, und ihr internationales Standing, siehe TTIP-Verhandlungen. Die wilde Entschlossenheit, die Briten nun schleunigst abzustoßen, erstaunt. Noch beim EUGipfel am 20. Februar wurden David Cameron so viele Privilegien eingeräumt, dass sie schon damals existierte – die EU der 27 und die EU Großbritanniens. Sie müssen vorerst noch miteinander auskommen, zumal das moralisierende Empörertum reinem ökonomischen Pragmatismus geschuldet ist. Eine EU der strikten Markträson lebt nun einmal in steter Angst vor den Märkten und wird sich in dieser Konstitutioneher auflösen als zu verändern. Warum sonst gab es das Treffen der EWG-Gründungsstaaten am Samstag in Berlin? Weil die Botschaft geboten erschien: Wir besinnen uns jetzt auf das Machbare, auf die erprobte ökonomische Rationalität einer EWG von 1957, auf die Freihandelszone und den Gemeinsamen Markt. Kerneuropa à la carteSozialdemokratischer Irrglaube Jählings hat auch Sigmar Gabriel erkannt, es sei leider falsch gewesen, im Europa der EU unablässig vom Sparen zu reden, dasselbe zu predigen, durchzusetzen und zu übersehen, dass dadurch Millionen von Menschen ins soziale Abseits gestoßen würden. Vielfach zu einem Berufs- und Alltagsleben gezwungen sind, das permanent von der Drohung des Abstiegs überlagert ist, bis in die letzte Faser des Daseins hinein diszipliniert, aber ebenso gründlich verbittert. Allerdings waren es vorzugsweise sozialdemokratische Regierungen in Deutschland (Schröder) und in Großbritannien (Blair), die Ende der 90er Jahre dem Irrglauben erlagen, den Wohlfahrtsstaat mit den Instrumenten einer entgrenzten Finanzindustrie erhalten zu können. Wie sehr gerade die SPD zu deren Geisel wurde und sich politisch ruinierte, zeigte die „Agenda 2010“. Nichts braucht der europäische Kapitalismus um seiner selbst willen dringender als den Wohlfahrtsstaat. Er besitzt mehr Systemrelevanz als jede Großbank. Geht er verloren, und werden seine Verheißungen nicht mehr geglaubt, lernen die Prekarisierten zu begreifen, dass sie abgeschrieben sind und bestenfalls noch alimentiert werden. Aufstände der Ohnmacht, der Würde und der Wut sind unausweichlich. Sie kommen aus Verbitterungsmilieus, die keine Barrikaden brauchen, um sich Gehör zu verschaffen. Unter den britischen Arbeitern und Geringverdienern haben am 23. Juni 64,5 Prozent gegen die EU gestimmt, fast zwei Drittel. Die SPD dürfte wissen, dass sich dieser Unterbau der sozialen Demütigung auch in Deutschland regt. Also wird von der SPD-Spitze her die Spar- und Austeritätspolitik kurzerhand zum Übeltäter erklärt.Gabriel und Tsipras Man darf daran erinnern, wie sich Gabriel vor einem Jahr gegenüber der Regierung von Alexis Tsipras verhalten hat, als die versuchte, ihre Bevölkerung gegen erneute Spardiktate der Euro-Gläubiger-Kartells, besonders des deutschen Finanzministers, zu schützen. Gabriel nannte den griechischen Premier seinerzeit einen Dummkopf, der versuche, „die gesamte Eurozone auf den Kopf zu stellen“. Mitte Juni 2015 sagte der SPD-Chef in einem Interview mit der Bildzeitung: „Wir werden nicht die überzogenen Wahlversprechen einer zum Teil kommunistischen Regierung durch die deutschen Arbeitnehmer und ihre Familien bezahlen lassen.“ Es gibt nur wenig, was abstoßender ist, als solches Abfahren aufs gesunde Volksempfinden, um aus der Denunziation des politischen Gegners Kapital zu schlagen. Als sich beim Referendum in Griechenland am 5. Juli 2015 eine klare Mehrheit gegen die absehbaren Zumutungen der Troika aussprach, befand Gabriel, Tsipras habe „letzte Brücken eingerissen, über die Europa und Griechenland sich auf einen Kompromiss zubewegen könnten.“ Bis heute ist das Gerücht nicht widerlegt, Gabriel habe sich intern für einen Grexit ausgesprochen, weil nicht der Eindruck entstehen sollte, die SPD sei zu nachgiebig in Finanzfragen und neige vielleicht gar zum Schuldenschnitt für Griechenland. Inzwischen scheint Gabriel die Ahnung umzutreiben, dass der 5. Juli 2015 in Griechenland ein Vorläufer des 23. Juni 2016 in Großbritannien gewesen sein könnte. In Maßen friedfertig Das Klagen über den Zustand der EU schließt auch deren mutmaßlich friedensstiftende Wirkung in die Fürbitte mit ein. Worin besteht die? Es waren mehrheitlich EU-Staaten, die als NATO-Mitglieder im Frühjahr 1999 Serbien durch eine Aggression aus der Luft angriffen und den Tod Hunderter Zivilisten zu verantworten hatten. Damals schien es richtig zu sein, eine neue politische Ordnung auf dem Balkan und die Veränderung von Grenzen durch den Gebrauch militärischer Gewalt durchzusetzen. Was im Übrigen der UN-Sicherheitsrates nicht absegnen mochte. Über die EU-Militärmissionen kann man gleichfalls geteilter Meinung sein, wenn sie wie in Mali Frankreich seine postkolonialen Enklaven sichern. Das demnach nur in Maßen friedfertige Europa war seit den frühen 50er Jahren nicht das Werk pazifistischer Überzeugungstäter, sondern realpolitischer Tatkraft. Es gab nach 1945 bei allem erkennbaren Willen zur Versöhnung zugleich die Notwendigkeit, bellizistische Affekte aufzugeben, mit denen sich einstige Erz- und Erbfeinde wie Deutschland und Frankreich über die Jahrhunderte hinweg immer wieder begegnet waren. Westeuropäische Politiker wie Konrad Adenauer, Italiens Premier Alcide De Gasperi und der französische Außenminister Robert Schumann handelten etwa mit der Gründung der Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), einem EWG-Vorläufer, aus einem elementaren Bedürfnis des Selbsterhalts. Deutschland und Frankreich konnten seit 1870/71 keinen vierten Krieg mehr gegeneinander führen, ohne Gefahr zu laufen, sich selbst zu zerstören. Man musste befürchten, der nächste Schlagabtausch endet, wo nichts mehr anfängt. Und beste Friedensgewähr neben dem Willen zum Überleben waren die Verflechtung ökonomischer Interessen und die Sicherung des herrschenden Gesellschaftssystems.Warum sonst wurde der Osten Europas, speziell die Sowjetunion, von einer kollektiven Friedensordnung in Europa ausgeschlossen? Genauso, wie Russland 2001 die kalte Schulter gezeigt wurde, als Wladimir Putin bei einer Rede im Bundestag europäische Sicherheitspartnerschaft anbot. Es ist Obacht nötig, wenn sich die EU Tugenden zuerkennt, die an Umstände und Interessen gebunden sind, nicht unbedingt an Überzeugungen.
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