Wie ein Kartenhaus

Afghanistan Der Taliban-Vormarsch droht die militärische Niederlage des Westens am Hindukusch zu potenzieren. Sollte die US-Armee eingreifen und die Bundeswehr hilfreich sein?
Die unterlegenen afghanischen Truppen zeugen vom Scheitern des Westens
Die unterlegenen afghanischen Truppen zeugen vom Scheitern des Westens

Foto: Hoshang Hashimi/AFP via Getty Images

Die Bundeswehr muss sich ein zweites Mal geschlagen fühlen. Erst gibt es den fluchtartigen Rückzug im Frühsommer, nun erobern die Taliban mit Kundus eine Stadt, durch die vor nicht allzu langer Zeit noch deutsche Schützenpanzer patrouillierten. Einmal mehr wird plausibel, weshalb Regierungspolitiker wie Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer oder Außenminister Maas auf Distanz gingen, als am 30. Juni die letzten 264 Bundeswehrangehörigen vom Hindukusch kommend in Wunstorf bei Hannover landeten. Abstand halten verhieß aussitzen können, wie prekär und peinlich das Afghanistan-Abenteuer für Deutschland und den Westen insgesamt endet.

Erst wurden deutsche Sicherheit und Wohlergehen mutmaßlich am Hindukusch verteidigt, heute ist Afghanistan weit genug entfernt, um sich von der Kausalität – eigener Rückzug - Vormarsch der anderen – übermäßig behelligen zu lassen. Norbert Röttgen (CDU) allerdings will schleunigst weiterkämpfen. Natürlich nicht er selbst, vielmehr sollen die Amerikaner es richten, durch Luftangriffe auf die Vormarschrouten der Taliban vor allem. „Ich glaube, man darf dem einfach nicht zuschauen, sondern man muss sich dem entgegensetzen“, so Röttgen im DLF, der wolkig bleibt, wenn es um den Part geht, den die Bundeswehr in diesem Fall zu übernehmen hätte. Deren Führung lässt keinen Zweifel: Abzug ist Abzug, das war eine Demission ohne Wiederkehr.

Kurzsichtig oder blind

Was Fackelträger des Durchhaltewillens wie Röttgen vermutlich umtreibt, das ist die nachhaltige Delegitimierung des westlichen Bündnisses, das ja Afghanistan zum Referenzprojekt eines „Krieges gegen den Terror“ auserkoren hatte. Der endet nun, indem „Mudjaheddin“ oder eben „Terroristen“ so ungehindert auftrumpfen, wie das gerade den Anschein hat. Nur, wer konnte allen Ernstes so kurzsichtig oder blind sein und daran glauben, dass der afghanische Widerstand das von den USA hinterlassene Vakuum nicht nutzen würde?

Die Taliban wollen das Land beherrschen, weil es – nicht allein, aber auch – ihr Land ist. Sie wollen regieren und ihrer Agenda dienen. Ob dies wie zwischen 1996 und 2001 auf ein Kalifat hinausläuft, wird man sehen. Wie gesagt: Derzeit „erobern“ sie nichts, es ist ihr Land, in dem sie kämpfen. Es wird vorrangig vom Volk der Paschtunen besiedelt, seit jeher das ethnische Rückgrat von Aufständen und Aufständischen. Bereits im 19. Jahrhundert war das so, als mehrfach britische Expeditionskorps von Indien kommend am Hindukusch Fuß fassen wollten und daran zu zerbrechen drohten.

Vietnam der Sowjets

Als Ende der 1980er Jahre eine dschihadistische Guerilla gegen die sowjetischen Besatzung aufstand und Herr im eigenen Land sein wollte, fanden das westliche Beobachter absolut legitim. Die USA unter Präsident Ronald Reagan rüsteten diese Verbände mit modernen Waffen aus, ob es sich nun um die wahrlich radikalislamische Partei Hezb-i-Islami des Gulbuddin Hekmatyar handelte oder die seinerzeit erst im Aufbau begriffenen Taliban. Entscheidend war, das diese mehrheitlich islamistischen Rebellen der Sowjetarmee schwere Verluste zufügten, sodass deren Abzug bei fast 13.500 Gefallenen im Februar 1989 unausweichlich wurde. Der damit verbundene internationale Prestigeverlust, nicht zuletzt im eigenen Lager, war enorm und half Gorbatschow bei der Demontage des Ostblocks.

Momentan ist das Vorankommen der Taliban wohl auch deshalb kaum aufzuhalten, weil eine zurückweichende, nicht unbedingt kampfstarke, eher kampfunwillige Nationalarmee (ANA) dem wenig entgegensetzen kann oder will. Womit eine weitere, hierzulande stets bereitwillig kolportierte Meta-Erzählung über die westliche Afghanistan-Präsenz zur Legende schrumpft. Wurden diese Streitkräfte nicht jahrzehntelang u.a. von der Bundeswehr ausgebildet und mit NATO-Equipment ausgerüstet? Hatten sie nicht die besten Voraussetzungen Kampfstärke zu tanken?

Einst 200.000 NATO-Militärs

Und war nicht ab Januar 2015 die (ISAF-)Nachfolgemission „Resolute Support“ offiziell dem Ziel gewidmet, afghanische Militärs zu beraten, zu trainieren und zu führen. Wer dachte an ein solch desaströses Ergebnis, wie es jetzt offenbart wird? Schließlich war stets die Rede von 350.000 afghanischen Soldaten, Polizisten und Sicherheitsdiensten, die man unter Waffen halte, u.a. bezahlt mit ausländischen Hilfsgeldern, von einer permanenten logistischen Unterstützung durch die NATO ganz zu schweigen. Sind diese Formationen den Taliban, die bisher nie über mehr als 60.000 Kombattanten verfügten, nicht überlegen, sondern klar unterlegen, würde das die militärische Niederlage des Westens, der USA und der NATO, potenzieren.

Zwischen 2010 und 2014, nicht zuletzt durch Präsident Obamas Truppenaufstockungen, befanden sich gut 200.000 NATO-Militärs auf diesem Kriegsschauplatz. Sollte das die Taliban eher gestärkt als geschwächt haben, kann es dafür nur eine Erklärung geben: Sie zehren vom Beistand oder zumindest der Billigung durch die Bevölkerung, zumindest im ländlichen Raum. Wenn das so ist, sollte man das Land nicht leichtfertig verlorengeben, sondern den Anspruch auf Selbstbestimmung auch dann gelten lassen, wenn er sich unter den derzeitigen Umständen Geltung verschafft.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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