Wie im Affekt

Russland Anstandslos wird Wladimir Putin von vielen deutschen Politikern die Verantwortung für den "Fall Nawalny" angelastet. Ob es klare Beweise gibt, erscheint zweitrangig
Es wird realitätsblind geredet und agiert, allen voran durch Außenminister Maas
Es wird realitätsblind geredet und agiert, allen voran durch Außenminister Maas

Foto: Stephanie Loos/Pool/Getty Images

Das ist die späte DDR, wie sie leibt und lebt, verkörpert durch grünes Führungspersonal wie Katrin Göring-Eckardt, Jürgen Trittin und Cem Özdemir. Wo Fakten, Argumente und vor allem offene Fragen nicht ins Weltbild passen, werden sie der Ideologie geopfert. Beim „Fall Nawalny“ geschieht das in einer krassen, geradezu fanatischen Weise, dass einem der Atem stockt. Woher diese Melange aus Vorurteil, Ressentiment, Kriminalisierungs- und Verdammungswahn gegenüber der russischen Regierung? Sollten diese Leute in Deutschland Regierungsverantwortung übernehmen? Besser nicht.

Es liegt nicht der geringste, schon gar kein stichhaltige Beweis dafür vor, dass „Putin“ oder „der Kreml“ den Anschlag auf Nawalny angeordnet und wissentlich geduldet haben. Trotzdem wird unablässig suggeriert, es könne gar nicht anders sein. Dem Präsidenten Russlands werden allenthalben viel taktisches Geschick und Voraussicht zuerkannt. Warum sollte er plötzlich – von allen guten Geistern verlassen – etwas ausgelöst haben, wovon selbst für jeden politischen Laien absehbar war, welche Effekte und Affekte die Folge sein würden? Und welche Propagandaschlacht daraufhin entbrennen musste.

Junktim Nawalny-Trasse

Wenn Göring-Eckardt, Trittin und Özdemir reflexhaft mit dem Finger auf „den Kreml“ als Schuldigen zeigen, muss ihnen die Frage zugemutet werden, wenn dort alles von Relevanz entschieden wird: Weshalb wurde dann dem Wunsch der Familie Alexej Nawalnys entsprochen, den Schwerkranken nach Deutschland ausfliegen und dort behandeln zu lassen?

Offenbar aus zwei Gründen, erstens um dem Vorwurf zu entgehen, nicht alles zu tun, um das Leben Nawalnys zu retten. Und zweitens doch wohl in der Erwartung, dass gerade durch dieses Entgegenkommen Fairness walten würde bei der Untersuchung des Falles wie den Reaktionen darauf. Immerhin gab es das Zeugnis der behandelnden Ärzte in Omsk, dem Patienten alle erforderliche Hilfe zuteil werden zu lassen und einen Flug für hochriskant zu halten. Trotzdem mussten sie eine andere Entscheidung hinnehmen. Sie folgte mutmaßlich der Erwägung, wenn in Deutschland mit solchem Nachdruck Aufklärung über den gesundheitlichen Zusammenbruch Nawalnys gewünscht wird, soll sie dort gefunden werden.

Wäre Wladimir Putin der skrupellose Killer und abgefeimte Schurke, als den ihn CDU-Hardliner wie Norbert Röttgen oder die angeführten Grünen-Politiker hinstellen, warum hätte er sich darauf einlassen sollen? Weshalb nicht in Russland alles unter Kontrolle behalten? Man hätte anderswo noch soviel über eine Vergiftung spekulieren können – es wäre schwer möglich gewesen, das nachzuweisen. Weswegen wird nicht wenigstens erwogen, dass Moskau Nawalny auch deshalb gehen ließ, um Druck von der Regierung Merkel zu nehmen, die Gaspipeline „Nord Stream 2“ betreffend? Stattdessen hat sich Merkel, offenbar schlecht beraten, durch ihren Auftritt am 2. September gehörig unter Druck und das Junktim Nawalny-Trasse eigenhändig auf die Agenda gesetzt. Und wird das so schnell nicht wieder los.

Ohne jedes Vertrauen

Ist es nicht aufschlussreich, dass ausgerechnet eine menschenrechts- und moralgestützte Außenpolitik wie die der Grünen jemandem wie Wladimir Putin Menschlichkeit und Moral abspricht, um ihn zum Feind stempeln zu können? Spricht das für sittliche Überlegenheit oder eher denunziatorischen Rausch? Ganz abgesehen davon, dass ein Verhältnis gegenüber Russland heraufbeschworen wird, das permanent belastet bleibt. Phasen einer Entkrampfung werden davon überschattet sein, was gerade geschieht. Als sollte Vorsorge getroffen werden, auf Dauer jedes Vertrauen auszuschließen.

Eines dürfte indes unstrittig sein, der russische Staat wird seinen Interessen auch weiterhin mit unbeirrbarer Konsequenz folgen, zumal sie wieder von großmächtigem Zuschnitt und globaler Bedeutung sind. Die in Deutschland kursierende Inbrunst, die Führung dieser Macht als das Böse an sich hinzustellen, dient eigener Selbstvergewisserung, nicht mehr. Sie erinnert an die religiöse Aufwallung von Wanderpredigern. Es geht nicht nur jedes Maß verloren, es wird auch realitätsblind geredet und agiert, allen voran durch Außenminister Maas.

Die Contenance eines Diplomaten scheint ihm so fremd wie die Kenntnis jüngster Geschichte. Wäre ihm diese gegeben, wüsste er: Eine russische Grunderfahrung aus den späten 1980er Jahren reflektiert, dass die seinerzeit unter Parteichef Gorbatschow begonnene Entspannungspolitik gegenüber dem Westen, vor allem die Bereitschaft zum historischen Rückzug aus dem Ost-West-Konflikt, ohne den erhofften politischen Ertrag blieb.

Zu konziliant

Die Russische Föderation als Nachfolgerin der Sowjetunion wurde kein geachteter, kein unanfechtbarer Platz in Europa zuerkannt, sie blieb Außenseiter. Wladimir Putin neigt dazu – das zeigen seine Entscheidungen und Äußerungen seit der Ukraine-Krise 2014 –, darin die Folge einer unangebrachten, weil im Westen nicht erwiderten Konzilianz und Kompromisswilligkeit zu sehen. Eine Bundesregierung, wer sie auch immer stellt, kann die daraus resultierende Politik hinnehmen oder bekämpfen, ändern wird sie daran wenig. Es bleiben nur eine Alternative – sich kooperativ verhalten oder feindselig gebärden wie im Augenblick.

Eines ist sicher, es wird weiterhin „Fälle“ wie den von Alexej Nawalny geben mit ähnlich diffusem Hintergrund. Man kann sich dann von Neuem entscheiden, ob wie im Affekt reagiert wird oder nicht. Wie es ausgeht, wenn die Grünen mitregieren, dürfte klar sein.

Wer unter diesen Umständen wie ein Teil der Linkspartei ins Bundeskabinett will, muss wissen, was in solchen Situationen durch Kabinettsdisziplin erzwungen und an Selbstverleugnung fällig ist.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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