Vietnam Vor 30 Jahren begann in Ho-Chi-Minh-Stadt die Politik der vietnamesischen Perestroika. Seither balanciert das Land auf dem schmalen Grat des Systemwechsels
Nordvietnam im Frühjahr 1980, der Filmversand Hanoi-Berlin für das Fernsehen der DDR kann dauern in jener Zeit und zur ermüdenden Geduldsprobe für den Korrespondenten werden. Wir starten so früh es geht, kommen die 50 Kilometer stadtauswärts zum Flughafen gut voran, auch wenn die Luft an der Haut klebt und den Atem nimmt. Im chinesischen Jeep schüttelt sich im hinteren Teil das Fass mit der Benzinreserve über die vom Monsunregen ausgewaschene Straße, was den Fahrer nicht hindert, seinen gedrehten Bambus zu rauchen. Von uns jedes Mal in der unsterblichen Hoffnung beobachtet, der Funkenflug möge aus dem Gefäß sickernden Kraftstoff unberührt lassen.
Die Formalitäten in der Frachtannahme auf dem Noi Bài Internation
nternational Airport sind Routine und schnell erledigt, die Rückfahrt jedoch kann dauern. Ab Mittag verstopfen Ochsenkarren, Viehtrieb und Fahrradkolonnen die Trasse zurück in die Hauptstadt der Sozialistischen Republik Vietnam. Je langsamer es vorangeht, desto mehr wird es eine Tour durch 100 Tage Traurigkeit, die Gegend links und rechts der Straße schwankt zwischen pastoraler Anmut und bitterer Armut. Ein Ort schiebt sich in den anderen, überall die gleichen schmutzig gelben, im Monsun vermodernden Häuser, vor denen Frauen an kümmerlichen Verkaufsständen hocken und mit gleichmütigem Blick grünen Tee, Bananen und Klebereis anbieten, als ob sie nicht einmal im Traum daran glaubten, irgendjemand werde anhalten und kaufen. In ihren Gesichtern scheint das Alter still zu stehen. Früher oder später wird es über Nacht in eine solche Raserei geraten, dass zehn Jahre in sechs Wochen vergehen. Für den europäischen Blick gibt es nur die ewig jungen Vietnamesinnen, die plötzlich alten und die schon lange uralten – dazwischen liegt nichts, lügt unser Auge.Fünf Jahre nach dem Ende des Vietnam-Krieges schleppt sich der Norden im feuchtheißen Frühjahr des Jahres 1980 mühsam durch den Frieden. Das Sparta Indochinas am Roten Fluss, wie Hanoi und seine Umgebung häufig genannt werden, hat für den Triumph über die Amerikaner unglaubliche Entbehrungen ertragen. Nun sind Unterentwicklung und Verfall ein später Tribut an die Jahre der Kriegswirtschaft, als allein das Überleben von einem Tag zum anderen als Zukunft galt.Die Freude des Aufbruchs nach der Wiedervereinigung von Nord- und Südvietnam im Juli 1976 ist längst verflogen. Sie ist keinem bloßen Gefühl, sondern der blanken Gewissheit eines kaum aufhaltbaren Niedergangs gewichen, der vielerorts mit Resignation und schulterzuckendem Schlendrian quittiert wird. Könnte es sein, dass der Norden seine Kraft bis zum erzwungen Abzug der US-Armee in den Jahren 1972/73 auf Jahrzehnte erschöpft hat? Kriege werden nie mit der letzten Schlacht gewonnen. Wenn kein Schuss mehr fällt, grast die Kriegsfurie noch immer.So bizarr es klingt, der Sieger über 600.000 US-Soldaten, B-52-Geschwader und Napalm-Glut kann die eigene Bevölkerung, damals 65 Millionen Menschen, nicht ausreichend ernähren. Die UNO nimmt Vietnam 1980 in eine Statistik auf, die den 15 ärmsten Ländern gewidmet ist. Lien, unser Kontaktmann zum vietnamesischen Fernsehen in Hanoi, der zwischen 1960 und 1965 in Leipzig Germanistik studiert hat, erhält im Monat 500 Gramm bis 1.000 Gramm Fleisch, etwas Speiseöl, drei Kilogramm Reis und einen halben Liter Núoc Mam, eine Fischsoße, ohne die nichts zubereitet wird. Würde er von uns nicht mit Zigaretten, Waschmittel und Fotopapier für den freien Markt versorgt, könnte er seine fünfköpfige Familie kaum durchbringen, beteuert er immer wieder. Und alles, was wir erleben, sagt uns, wir sollten ihm glauben.In dieser verzweifelten Lage versammeln sich Mitte 1980 in Ho-Chi-Minh-Stadt 545 Delegierte aus 214 Parteiorganisationen der KP Vietnams zu einer Parteikonferenz, an der auch Generalsekretär Le Duan teilnimmt. Das Treffen dauert eine Woche länger als ursprünglich geplant und beginnt mit einem Paukenschlag. Am Tag der Eröffnung heißt es im Leitartikel der Zeitung Saigon Giaiphong: „Seit der Befreiung unserer Stadt und dem Beginn der sozialistischen Umgestaltung sind fünf Jahre vergangenen. Die Frage ‚Wer – wen?‘ zwischen Sozialismus und Kapitalismus kann noch nicht endgültig beantwortet werden ...“ Wenn das zutrifft, ist mit einer Reaktion zu rechnen, die auf eine jähe Wende hinausläuft. Seinerzeit wird über die Konferenz in vietnamesischen Medien kaum berichtet. Der Anlass, das Thema, der Ort – dies alles kommt einem Eingeständnis gleich. Die KP tagt dort, wo der dekadente, von der Besatzungszeit moralisch ausgelaugte und privatwirtschaftlich geprägte Süden seine Zitadelle wusste. Als Saigon, wie die Stadt früher hieß, am 30. April 1975 vor der einrückenden nordvietnamesischen Streitmacht kapitulieren musste, war Südvietnam gefallen. Ausgerechnet hier schlägt 1980 die Geburtsstunde der Politik des Doi Moi, einer vietnamesischen Perestroika, deren reformerische Vehemenz der Ökonomie gilt und bewirken will, dass die Potenziale des Südens nicht länger beschnitten werden, sondern dem ganzen Land zugute kommen und die prekäre Versorgungslage entspannen helfen.Als wir Anfang 1981 in Ho-Chi-Minh-Stadt eine Reportage über ehemalige Prostituierte drehen, wird auch der Lehrer Pham Coung aus einem der Resozialisierungscamps interviewt. Der 55-Jährige wohnt in einer verwitterten Stadtvilla am Boulevard Pasteur, mit dem sich die französische Kolonialarchitektur in Erinnerung hält. Wie sich bald herausstellt, war Pham während des Krieges Kurier des Vietcong* und kann viel und endlos über die Vier-Millionen-Stadt erzählen, die sich ihm oft wie ein schützender Film auf die Haut legte. Führte ihn etwa ein Auftrag ins Labyrinth der Straßen rings um Ben Thanh, der stinkenden, vor Hitze kochenden Markhalle an der Grenze zum Chinesen-Viertel Cholon, erkannte er am Klappern der Kleiderbügel, mit denen die Schneider um Kunden bettelten, ob Gefahr im Verzug war. Der Rhythmus konnte ein Code sein, der dazu aufforderte, sich schnell unters Arbeitsjoch eines Lastenträgers zu bücken und mit wiegendem Schritt zwei Bastkörbe voller Kokosnüsse durch die Halle zu schleppen. Dem schwitzenden Kuli wollte kein Polizist zu nahe kommen. Pham wurde nie gefasst.Je länger wir mit ihm sprechen, um so mehr wird klar, er gehört zu jener Generation südvietnamesischer Revolutionäre, denen der Sieg von 1975 nicht wie ein Wunder erschien, obwohl er doch so schlagartig kam. Leute wie Pham hatten nur dafür und nichts sonst gelebt. Sie opferten sich nicht in der Hoffnung auf ein Wunder. Natürlich fragen wir ihn nach dem möglichen neuen Kurs der Partei, für den erst später – auf dem VI. Parteitag 1986 – die Bezeichnung Doi Moi eingeführt werden sollte und mit Nguyen Van Linh ein Parteichef antrat, der garantierte, dass die Reformen unumkehrbar blieben.Würde durch einen Schulterschluss mit der Privatwirtschaft, fragen wir Pham Cuong, die grelle kapitalistische Fassade der Bourgeoisie im Süden restauriert, die dem American Way of Life so viel abgewinnen konnte und einst vom Abfall des Krieges vorzüglich gelebt hatte? Wie jeder Vietnamese, der einem Fremden niemals seine Seele in den Schoß legt, behilft sich Pham mit der Metapher einer eigenen Zeitrechnung. Nach den entbehrungsreichen Jahren der Yin-Periode, als für einen wie ihn Überlebensinstinkt, Kriegslist und Courage gefragt waren, könnte sich Vietnam nun bald in der Yang-Phase sonnen, die durch leuchtende Farben, Wohlstand und Leichtigkeit geprägt sei. Im Übrigen werde man nur soviel an freiem Markt zulassen, wie man wirtschaftlich brauche und sich politisch leisten könne.Pham sollte Recht behalten. Doi Moi ließ in den zurückliegenden Jahrzehnten den Status der Kommunistischen Partei unangetastet, sie verfügt heute über eine vom ökonomischen Erfolg abgeleitete, nationale Legitimation, auch wenn das von ihr regierte Land mehr denn je auf dem schmalen Grat des Systemwandels oder -wechsels balanciert. In Ho-Chi-Minh-Stadt wurde keine grelle Fassade restauriert, stattdessen für eine neue gesorgt. In der Tu Do (Freiheit)-Straße – nicht weit von der Rue Pasteur und Phams Domizil entfernt – besteht sie schon seit den neunziger Jahren aus Restaurants, Bankfilialen, Accessoir-Boutiquen und Gemäldegalerien. Als die Straße noch Rue Catinat hieß, warteten hier die Taxi-Girls auf ihre Freier, vorzugsweise amerikanische Soldaten, die für ein paar Tage vom Krieg beurlaubt waren.(*) Im Westen übliche Formulierung, wörtlich übersetzt: vietnamesischer Kommunist
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