Zurück hinter die rote Linie

Syrien Nun soll nicht länger geschossen, sondern verhandelt werden. Eine internationale Syrien-Konferenz in Genf soll es geben. Die Zeit drängt. Israel hat eine eigene Agenda
Ausgabe 20/2013
Zurück hinter die rote Linie

Foto: Menahem Kahana

Es unterliegt einem Trugschluss, wer nach dem jüngsten Moskauer Treffen zwischen US-Außenminister John Kerry und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin kolportiert, beide hätten sich in der Syrien-Frage angenähert. Tatsächlich kommt der eine dem anderen entgegen. Soll heißen, die Amerikaner entdecken die Vorteile der russischen Position: durch Verhandlungen nach einer politischen Lösung suchen, die alle Bürgerkriegsparteien beteiligt, auch die Regierung von Baschar al-Assad.

Schon im Februar hing ein solcher Sinneswandel der US-Diplomatie in der Luft. Seinerzeit glaubte sich UN-Syrien-Vermittler Lakhdar Brahimi kurz vor dem Durchbruch, hatte er doch mit der gemäßigten Assad-Opposition und der Führung in Damaskus einen Kompromiss ausgehandelt, um den Bürgerkrieg einzudämmen. Man erwog eine Übergangsregierung, in der Faruk al-Scharaa sitzen sollte, bis dahin als Vizepräsident Teil der Assad-Administration. Das übliche Junktim der Aufständischen – verhandeln ja, aber nur wenn Assad samt Entourage zuvor abtritt – schien erledigt. Brahimi hielt es mit der Erfahrung, dass ein Problem am besten dann zu lösen ist, wenn sich alle Verursacher darum bemühen. Die Außenminister John Kerry und Sergej Lawrow sind nun in Moskau dieser Logik gefolgt. Selbst wenn die von ihnen befürwortete internationale Syrien-Konferenz vorerst wenig Erfolg verspricht – was zählt, ist das Plazet der USA für ein solches Forum. Auch die Bombenanschläge im türkischen Grenzort Reyhanli konnten dieses Votum nicht erschüttern.

Im Februar kam dieser Realismus offenbar zu früh. Der Aufschrei in der Nationalen Koalition, dem Dachverband der syrischen Exil-Opposition, über den Brahimi-Plan geriet markerschütternd. Ihr damaliger Sprecher, Ahmad Moas al-Chatib, kündigte an, das nächste „Treffen der Freunde Syriens“ boykottieren zu wollen. Die internationale Sponsorenschaft eines regime change in Damaskus wollte Ende Februar in Rom tagen. Da das trotzige Mündel in die Hand zu beißen gedachte, die es fütterte, war der Boykott schnell vorbei. Gedrängt von Frankreich und Großbritannien, besänftigt von Versprechen der USA und der EU, saß die Nationalkoalition schließlich am Tisch, als ob nichts gewesen wäre. Kerry wollte den Brahimi-Plan „überprüfen“. Seine Regierung beabsichtige außerdem, das Waffenembargo zugunsten der Rebellen zu lockern. Man werde Schutzwesten und gepanzerte Fahrzeuge schicken. Die EU tat das Ihre, um die Nationalkoalition zu beschwichtigen. Nach der Konferenz in Rom verkündeten die 27 Außenminister, trotz des Lieferverbots für Waffen werde „nicht-tödliche Ausrüstung“ spendiert.

Netanjahu schweigt

Wenn die USA und Russland nun dort weitermachen wollen, wo es vor drei Monaten nicht weiterging, hat Israel daran seinen Anteil. Die Luftangriffe vom 5. Mai auf ein Militärobjekt nahe Damaskus hinterlassen Wirkung. Die Regierung von Benjamin Netanjahu schweigt über den politischen Zweck der Operation. Vermutlich sollte den USA gezeigt werden, wie energisch man in den syrischen Bürgerkrieg hineinplatzen und dies sogar der Prolog zu einem Schlag gegen den Iran sein kann. Schließlich sollen am 5. Mai syrische Raketen, die der Hisbollah – der „Partei Gottes“ im Libanon – zugedacht waren, zerstört worden sein.

Auch Israel kenne „rote Linien“, rede aber weniger darüber als andere, schreibt die konservative US-Kolumnistin Jennifer Rubin in der Washington Post. „Die israelische Aktion wirft die Frage auf, ob es die USA bevorzugen, dass Israel im Nahen Osten die Kontrolle übernimmt. Eine Supermacht handelt ungebührlich, wenn sie es dem kleinen Israel überlässt, es mit den Stellvertretern des Iran aufzunehmen.“ Hat sich Präsident Barack Obama tatsächlich „ungebührlich“ verhalten oder nur leichtfertig über „rote Linien“ geredet? Vermutlich griff er auf das Reiz- und Signalwort in der Annahme zurück, dass es keinen massiven Chemiewaffen-Einsatz mit Tausenden von Toten in Syrien geben wird. Plötzlich jedoch werden ihm viele kleine Episoden präsentiert. Bei denen soll es passiert sein. Ob durch Regierungssoldaten oder Rebellengruppen – egal! Was allein zählt: Auf einmal gibt es überschrittene „rote Linien“ zuhauf, und das Weiße Haus laviert. Im Moment das Beste und Klügste, was passieren kann.

Es wäre ein blutiger Albtraum, die syrischen Fronten durch amerikanische Bodentruppen aufrollen zu wollen – eine Rückkehr in die Feueröfen Afghanistan und Irak. Die andere Variante, Assads Streitkräfte oder islamistische Freischärler nach dem Libyen-Muster aus der Luft zu attackieren, hätte enorme zivile Opfer zur Folge. Die Gefechtsfelder dieses Konflikts liegen nun einmal in großen Städten wie Aleppo, Hama, Dair az-Zur und demnächst wohl auch Damaskus. Wer ein solches Inferno vermeiden will, muss einen politischen Ausweg wenigstens anbahnen – so wie in Moskau geschehen. Der sollte es nicht „dem kleinen Israel überlassen“, im Alleingang zu erledigen, was ihm auf der Seele brennt: in Syrien und im Libanon. Der sollte verhindern, dass Israel quasi im Schatten des syrischen Bürgerkrieges das Vorspiel zu einem Krieg mit dem Iran bestreitet und vollendete Tatsachen schafft.

Dies wäre nicht das erste Mal. Am 6. September 2007 drangen israelische Jagdbomber in den syrischen Luftraum ein, um den nach Meinung des Geheimdienstes Mossad betriebsbereiten Kernreaktor von al-Khibar zu bombardieren. Der damalige Premier Ehud Olmert hatte monatelang versucht, die Bush-Regierung für einen derartigen Angriff zu gewinnen, war aber am Veto von Außenministerin Condolezza Rice und Verteidigungsminister Bob Gates gescheitert.

Beide hielten es mit Blick auf den Iran und sein Atomprogramm für taktisch klüger, „Assads Reaktor“ vor den UN-Sicherheitsrat zu bringen, um Syrien anzuklagen und in der arabischen Welt zu isolieren. Am 6. September 2007 rief Olmert im Weißen Haus an. Seine Jets seien in der Luft, teilte er lakonisch mit. Präsident George W. Bush habe darauf alles andere als unglücklich reagiert, erinnerte sich später Sicherheitsberater Elliott Abrams. „Die Kerle haben Schneid“, soll Bush gesagt haben. Von Al-Khibar blieb ein Trümmerfeld. Damaskus beklagte sich nicht, der denkbaren politischen Kollateralschäden wegen. Rice und Gates hatten recht. Israels jetziger Ministerpräsident Netanjahu beteuert, man sei weit davon entfernt, „im Syrien-Konflikt eine aktive Rolle zu spielen“. Das klingt wenig glaubwürdig. Es ist verlockend, die Gunst der Bürgerkriegsstunde zu nutzen und Syriens Militärpotenzial zu schröpfen. Das lohnt immer. Unabhängig davon, wer künftig in Damaskus die Geschäfte führt, ob weiterhin Bashar al-Assad, ein regimetreuer Nachfolger oder ein Mann des Übergangs oder ein Rebellenführer.

Nach dem Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 und dem Feldzug zu Jom Kippur im Oktober 1973 hat Syrien – anders als Ägypten und Jordanien – mit Israel keinen Friedensvertrag geschlossen. Bis heute gilt das Waffenstillstandsprotokoll vom 24. Oktober 1973. Folglich blieben die syrischen Streitkräfte stets auf die nächste Konfrontation eingestellt – dafür wurden sie trainiert, ausgerüstet, geführt. Ihre Depots umfassen chemische Wirkstoffe, Zehntausende Raketen sowie Jets der Typen MiG 25 und MiG 29, Flugabwehrsysteme und Radargeräte. Auch das erklärt, warum diese Armee seit 26 Monaten zwar Terrain, aber nicht den Krieg verliert. Was liegt für Israel näher, als von außen nachzuhelfen? Nicht unbedingt, um das Anti-Assad-Lager in den Sattel zu heben, sondern um einen militärischen Gegner, der mit dem Bürgerkrieg ja nicht verschwindet, auf Dauer zu schwächen.

Irans vorderste Linie

Die Konsequenzen eines solchen Vorgehens für den wichtigsten Verbündeten des Assad-Regimes – die Islamische Republik Iran – liegen auf der Hand. Deren vorderste Verteidigungslinie liegt im Libanon und bietet Schutz, solange Israel damit rechnen muss, dass bei einer Bombardierung iranischer Atomanlagen Vergeltung durch schiitische Hisbollah-Milizen droht. Und dann eine Lage entsteht wie im Sommer 2006, als die israelische Armee in den Libanon einmarschierte. Jener 33-Tage-Krieg wurde seinerzeit für den Angreifer zu einem unerwartet opferreichen Waffengang. Man hatte 119 gefallene Soldaten zu beklagen, dazu über 400 Verwundete. Durch Raketenangriffe der Hisbollah starben 44 israelische Zivilisten, vor allem in Haifa.

Als Anfang August 2006 die Kampfhandlungen kulminierten, waren eine halbe Million Israelis auf der Flucht in den Süden Israels, um sich vor den Geschossen der Hisbollah in Sicherheit zu bringen. Eine Untersuchungskommission der Knesset sprach später von einem „tragischen Debakel“, das sich nicht wiederholen dürfe. Genau das ist nicht auszuschließen, sollte es zum Krieg gegen den Iran kommen.

Israel fürchtet russische Boden-Luft-Raketen des Typs SA-17, die seine Bewegungsfreiheit in der Luft einschränken, und iranische Fateh-110-Geschosse, die Häfen und Seegasanlagen bedrohen. Ob die Hisbollah-Streitmacht von Scheich Hassan Nasrallah wirklich über diese Systeme verfügt oder die Assad-Armee oder beide – darüber lässt sich nur spekulieren. Ungeachtet dessen gilt: Wird dieses Arsenal neutralisiert, sind Vorkehrungen getroffen, den Iran anzugreifen. Die Folgen lassen sich dann besser beherrschen.

Wie lautete die Frage von Kolumnistin Jennifer Rubin? „… ob es die USA bevorzugen, wenn Israel im Nahen Osten die Kontrolle übernimmt“? Bevorzugen sicher nicht, tolerieren schon. Es sei denn, eine internationale Syrien-Konferenz mit allen Bürgerkriegsparteien an einem Tisch einigt sich auf eine durchgreifende Waffenruhe, die auch Israel zum Abwarten zwingt.

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