Der Mann an ihrer Seite

Kino Zwei Familiengeschichten hoffen auf einen guten Ausgang – der Dokumentarfilm „Vergiss mein nicht“ von David Sieveking und das Drama „Die Besucher“ von Constanze Knoche

Stimmte denn jemals der berühmte erste Satz aus Tolstois Anna Karenina, alle glücklichen Familien seien einander ähnlich, aber jede unglückliche Familie auf ihre besondere Art unglücklich?

Zwei deutsche Filme, die diese Woche ins Kino kommen, verleiten dazu, nach einer Antwort auf diese Frage zu suchen. Der Dokumentarfilm Vergiss mein nicht von David Sieveking – zu dem ein gleichnamiges Buch erschienen ist– erzählt von seiner an Alzheimer erkrankten Mutter Gretel. Eine Zeit lang übernimmt der Sohn die aufwendige Pflege. David will die Mutter durch Anregungen aus ihrer Lethargie reißen, sie vitalisieren. Manchmal – das sind erschreckende Szenen – überfordert er sie, manchmal widersteht sie ihm mit List, oft hat er recht mit dem Bestehen auf mehr Bewegung; so reisen sie gemeinsam in Gretels Geburtsort Stuttgart und in die Schweiz.

Das streitbare Leben der Sievekings, ihr intensives politisches Engagement wird durch die Dokumentation von Gretels Alzheimer-Vergessen intensiv in Erinnerung gebracht. Sie engagierten sich im SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) gegen den Vietnamkrieg. Ehemann Malte wurde in die Schweiz auf eine Professur „weggelobt“. Seine Frau war dort eines der aktivsten Mitglieder einer linksrevolutionären Gruppierung und verliebte sich in deren Wortführer. Intensive Bespitzelung durch den Staatsschutz, in den Schweizer Archiven akribisch dokumentiert, ist eine der Folgen dieses Engagements.

Offene Beziehung

Die Geschichte der 68er-Generation mit ihrem Streben nach Gerechtigkeit, nach Frauenrechten, nach einer befreiten Welt – das wird am Beispiel dieser beiden Menschen erzählt. Eine westdeutsche, linke, bildungsbürgerliche Familie, typisch in ihrem Habitus und ihren Lebensgewohnheiten, stellt sich vor. Die Geschichte der Ehe und ihrer Konflikte, die „offene Beziehung“, die beide einmal leben wollten, wird sichtbar. Bewegend sind die Momente, als Malte nach der Lektüre von Gretels Tagebuch erkennt, wie wenig sie sich von ihm verstanden gefühlt hat.

So trifft der Film den Zuschauer am härtesten, wenn Bilder aus der Vergangenheit erscheinen. Tröstlich zu sehen, dass diese aparte Frau Schönheit und Anmut bewahrt hat. Man sagt, Alzheimer-Kranke verlieren ihr Gedächtnis, aber nicht ihre Gefühle, sie folgen ihnen spontan und ohne die Schranken konventionellen Verhaltens. So kommen die Sievekings noch einmal zärtlich zueinander.

Vergiss mein nicht ist kein unproblematischer Film, weil die Mutter des Regisseurs an etwas mitwirkt, wozu sie ihr Einverständnis nie geben konnte. Es ist der Würde Gretel Sievekings zu verdanken – die der Sohn filmisch achtet –, dass der Film beeindruckt. Er bleibt bei allem Alltagsrealismus diskret und vermittelt einen Einblick in das Leben mit einer Alzheimer-Kranken. Und er erzählt die Geschichte einer neuen Beziehung innerhalb der Familie.

Stereotype Sätze

In Die Besucher, dem Spielfilm der jungen Regisseurin Constanze Knoche, ist eine Familie durch unerwartete äußere Ereignisse und innere Probleme gefordert. Der Chemiker Jakob (Uwe Kockisch) verliert mit 59 Jahren seine Arbeit bei einem großen Chemiekonzern (im realen Leben BASF, vorher VEB Synthesewerk Schwarzheide) und reist nach Berlin zu seinen drei Kindern. Den „Besucher“ nannte man ihn früher, weil er in der Familie kaum präsent war. Jetzt stiftet er mit seiner Reise nichts als Verwirrung, er stört die Kinder nur in deren Lebensarrangements.

Die jüngere Tochter Sonni (Anne Müller) treibt es gerade mit einem Professor ihres Management-Instituts, der so alt ist wie ihr Vater, die ältere Tochter Karla (Anjorka Strechel) gärtnert aus Trotz oder Liebe und fühlt sich entwurzelt und zu kurz gekommen. Sohn Arnolt (Jakob Diehl) hat sein Chemiestudium an den Nagel gehängt und findet Zielstrebigkeit und Zukunftsoptimierung, Nützlichkeits- und Anpassungszwang lähmend und lebenstötend.

Am Küchentisch des Sohnes finden sich dann alle zusammen. Man fühlt sich fast in eine sozialistische Aufbaustimmung versetzt, wenn der Vater von „einst“ schwärmt: „Wir haben damals nicht für uns gearbeitet, sondern für alle!“ War das in den achtziger Jahren noch so? Kaum. Aber immerhin kommt dadurch ein Generationenkonflikt-Ost in Ansätzen zum Ausdruck. So läuft alles zu auf einen Familienkrawall, der von der „Schwiegertochter“ entschärft wird, gespielt von Irina Potapenko. Sie hat die dankbarste Rolle. Alle anderen Figuren wirken kollektiv aufgescheucht und missmutig, mehr gibt das Ganze selten her. Die von ihrem Geliebten ebenfalls nach Berlin transportierte Mutter (Corinna Kirchhoff) hat, wie fast alle, stereotype Sätze trotzig aufzusagen.

Am Ende steht Befriedung, und Uwe Kockisch wechselt vom trotzigen Blick in den Sympathiemodus, während Corinna Kirchhoff etwas von ihrer skeptischen Bitterkeit aufgibt. Die Familie findet ein neues Verhältnis zueinander. Sympathisch, nicht immer belangvoll und am Ende versöhnlich.

Wie sieht es also aus mit Tolstois Satz? Vielleicht kann man ganz unliterarisch sagen: In allen Familien gibt es Glück und Unglück bei schicksalhaft unterschiedlichen „Zuteilungen“. Unterschiedlich ist die Art, wie sie damit leben.

Magda Geisler bloggt als magda auf freitag.de und hat kurze Zeit berufliche Erfahrungen im Umgang mit an Alzheimer erkrankten Menschen gemacht

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Magda Geisler | Magda

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