Des Schrecklichen Anfang

Ukraine Mit „Planet Wermut“ hat Oksana Sabuschko einen ­Essayband geschrieben, aus dem die Gedanken davonfliegen. Immer wieder wandelt sich das Eindringliche ins Penetrante

Ukraine bedeutet „an der Grenze“. Ein Begriff, der zwiespältige Assoziationen weckt: Zerrieben werden zwischen alten und neuen Beherrschern, neue Grenzverläufe, Grenzverletzungen nach innen und nach außen. Hört man Ukraine, denke ich aber aber auch an schwarze Erde und goldenen Weizen. Dieser Reichtum wurde in den dreißiger Jahren durch Hungersnöte zerstört, die von vielen Ukrainern als singuläres, auf ihr Volk allein gerichtetes Stalinsches Vernichtungsinstrument – als der „Holodomor“ – verstanden werden. Andere Historiker und Zeitkritiker betrachten diese Hungersnot dagegen als eine von vielen Folgen stalinistischer Willkür, die in der ganzen UdSSR, in welche die Ukraine 1922 vereinnahmt wurde, ihre Spuren hinterließ. Und es gibt einen Ort in diesem Land, der übersetzt Wermut heißt, erklärt uns die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko in ihrem gleichnamigen Essayband. Dieser Ort ist Tschernobyl.

Dies alles sollte im besten Fall präsent sein, wenn man die vier Essays über die Ungeheuerlichkeiten der Vergangenheiten, die Bitterkeiten der Gegenwart und die pessimistischen Blicke in die Zukunft liest. „Und so drängt nun am Ende des Jahrhunderts mit noch nicht da gewesener monströser Offenheit einer der verletzten zentralen Nervenstränge dieser Zivilisation nach außen: Der ihr angeborene Konflikt mit der Zeit – mit der Vergangenheit und der Zukunft“, schreibt Sabuschko nicht gerade bescheiden. Aber es gelingt ihr nur ansatzweise – trotz ausladender Satzkaskaden (mit in Klammern eingeschlossenen Zusatzerläuterungen) und längeren Ausflügen in die Historie –, diese These auch zu belegen.

Das Leid ihres Volkes wird in einer schwer erträglichen Mythisierung von historischen Entwicklungen verbrämt. Dass eine alte Bäuerin in den Konturen des Tschernobyl-Jahres 1985 auch die der einstigen Hungerjahre erkennt, wird von Sabuschko mit Verweis auf zweifelfelhafte Historiker versehen, die meinen, der GAU sei die Rache an der Ukraine für die in Schweigen begrabenen Toten des „Holodomor“. So etwas irritiert. Parallelen der vergangenen stalinistischen Schrecken verortet sie im gegenwärtigen China. Dort sieht sie neue Gulags in gleicher Schrecklichkeit. Es ist immer eine Spur zu absolut, und so wirken berechtigte Anklagen schnell schal.

Opferstatus

Sabuschko, die mit ihren galligen Feldstudien über ukrainischen Sex starkes internationales Aufsehen erregt hat, zollt in ihren Essays dem Wermut Tribut. Und natürlich gibt es da viel Bitteres. Die Deformierung von Menschen in einer Diktatur, die ständige Reklamierung des Opferstatus, wenn die eigene Verantwortung nicht anerkannt wird, dies alles bietet wenig Anlass zu Optimismus, auch 20 Jahre nach der Unabhängigkeit von der UdSSR und auch nach der Orange Revolution nicht. Seltsamerweise kündigt der Verlag an, Sabuschko wende sich gegen nationale Opfermythen, aber eigentlich tauscht sie diese nur aus. Und die allgemeine Unfähigkeit der Menschheit zur Empathie wird von ihr lang und breit am eigenen Volk beschrieben.

Der Titelessay, der sich vergleichend mit Filmen sowjetischer Filmschaffender beschäftigt, die sich dem Untergang, dem Ende, der Apokalypse zuwendeten, ist als Erinnerung an Tarkowski (und noch weiter zurück Aleksandr Dowschenko) schon interessant. Im legendären Stalker sieht sie das Ende der Sowjetunion in der geistigen Sphäre aufscheinen. Da ist was dran. Die aufgelöste Formensprache des Films war so ungewohnt, dass die Menschen eine Ahnung bekamen, dass nichts mehr in Eisen gegossen war, auch in der Kunst nicht. Tschernobyl nun ist für Sabuschko das eigentliche Ende der Sowjetunion.

Aber auch eine ästhetische Frage wird mit Tschernobyl gelöst: „Fragte man mich nach den Eindrücken absoluter Schönheit, an die ich mich erinnere, nach jener unmenschlichen Schönheit, von der die Romantiker träumten und von der Rilke sagte ‚Das Schönste ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen’, so würde ich an erster Stelle nicht den Mailänder Dom oder das Taj Mahal nennen, auch nicht die Aussicht von der Seilbahn herab auf ein Alpental oder den Sonnenlaufgang durch ein Flugzeugfenster über dem Atlantik, sondern diese wenigen Minuten radioaktiven Schneefalls auf dem Kiewer Siegesplatz am 26. April 1986.“

Die Tragödie von Tschernobyl setzt sie in Beziehung zu Fukushima. Die Parallelen wirken jedoch erzwungen. Auch die Japaner hatten mit den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki ein schreckliches Vorerlebnis, so wie die Ukrainer die große Hungersnot hatten, die als eine Vorgängerin dieser Katastrophe definiert wird. Stalin wollte – das zeige diese Hungersnot – wie ein allmächtiger Gott sein,der gibt und nimmt. Jetzt kann man sich fragen, was die USA für Japan mit dem Atombombenabwurf „sein“ wollten. Politikmystik, wo man liest. Immerhin gibt es eine recht originelle Stelle, die sich mit einem Übersetzungsfehler aus der Internationale befasst, und kommentiert: In „gewissem Sinn lässt sich der gesamte russische Kommunismus als Übersetzungsfehler betrachten, als tragischer Versuch, Marx in die Bedingungen der russischen Geschichte zu ‚übersetzen‘ “. Nicht schlecht.

Wo die Hintergründe der Historie immer wieder so symbolträchtig aufgerufen werden, wandelt sich das Eindringliche ins Penetrante. Zum Glück liest man dann auch einen Essay über den Fußball in der Ukraine, das Land ist ja Mitgastgeber der Europameisterschaften in diesem Jahr. Dem moralischen Appell, nicht das Geld im Sport zu sehr in den Mittelpunkt zu rücken, kann man ohne Aufwand beipflichten.

„Als Frau und Schriftstellerin in einer Kolonialkultur“, der letzte Essay, beginnt mit einer zutreffenden Feststellung: „Ich möchte hier an drei grundlegende Merkmale erinnern, welche Kolonisatoren den Kolonisierten (‚Unterlegenen’) stets zuschreiben: unterhaltsame Exotik, latente Bedrohung und Lächerlichkeit. Die drei lassen sich auch problemlos in der Geschichte der kulturellen Rezeption weiblichen Schaffens ausmachen.“ Ansonsten ist ihr Genderdiskurs ausgreifend und „verdichtet“. Wobei mir beim Lesen in den Sinn kam, dass Sabuschko ja auch Lyrikerin ist und vielleicht deshalb die Essays wie Verdichtungen eines gewaltigen Gedankenreichtums daherkommen. Leider kommt man so nur zu immer neuen Versen im Nationalepos.

Magda Geisler bloggt als Magda auf freitag.de


Planet Wermut Oksana Sabuschko Droschl 2012, 168 S., 19

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Geschrieben von

Magda Geisler | Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

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