Kindheiten, in denen Jungs im Gras liegen, in den Himmel sehen, sich verlieben und später ML (nicht „Marxismus-Leninismus“, sondern „Morgenlatte“) bekommen, können sich überall (im Osten) abspielen. Diese hier – der ML-Scherz macht es deutlich – spielt in Leipzig zu Beginn der 80er Jahre und hat einen autobiografischen Hintergrund. Im Gegensatz zu Dresden – wo ein ganzer „Turm“ über Familienleben in der DDR erzählen will – funktionieren in Leipzig die Antennen in Richtung Westen und zwar ganz konkret, mit immer mal nötigen Nachjustierungen auf dem Dach. Was die DDR sei, erklärt der Vater Frank Friedrich dem Sohn Jakob: „eine einzige große Lüge, ein Scheißhaufen, der mit Häkeldeckchen aus Worten zugedeckt“ sei.
Damit ist das Feld abgesteckt. Vater Friedrich sieht in der Ausreise den einzigen Ausweg, die Lösung aller Probleme, seine Bestrebung nach Veränderung und Wagnis erfüllt. Auch den Schmerz über den Tod seiner Frau will er überwinden. Um dem ungeliebten Land erst mal symbolisch zu entkommen, unternimmt er mit dem Sohn einen illegalen Ausflug an die Grenze, bei dem die Grenzsteine des Westens bejubelt werden. Der Vater sagt: „Hier ist es auch schön. Aber es ist nicht gut. So einfach ist das.“
Das hat es immer gegeben, diese familiären „Schräglagen“, immer mit dem Blick nach Westen und den Streit über das Hierbleiben oder Fortgehen. Und die Illusionen gab es auch. Vielleicht auch, weil das Glück dort drüben eben auch vage war, versucht der Autor eine disparate Erzählweise. Eine Hausdurchsuchung – der Vater wird als Verteiler illegaler Flugblätter gefasst – wird in kleinere Abschnitte unterteilt, die alle mit dem Ausruf „Ja-kob“ beginnen.
Vermaledeiter Frauentag
Assoziationen, Erinnerungen des Sohnes und Abschweifungen sind eingebaut, das ist zuweilen anspruchsvoll. Erzählt wird aus unterschiedlichen Positionen, aus der Sicht des Sohnes, des Vaters und der Großmutter. Eines Tages gerät Frank Friedrich durch eine gut gemeinte weibliche Initiative an eine neue Ehefrau. Die große „Halsüberkopfliebe“ ist die Schwiegertochter eines hohen Stasi-Offiziers, dessen Sohn ein systemkritischer Schriftsteller ist. Frage: Müssen denn alle „Zutaten“ immer drin sein in einem DDR-Roman? Denn Jakob Friedrich ist obendrein hoffnungsvoller Nachwuchssportler, Doping ist eventuell auch im Spiel. Und: Es gibt eine IM-Verwicklung, unterbrochen von IM-Berichten, unklar, wer der Informant ist.
Interessant wird das Buch immer dann, wenn Gunnar Cynybulk Geschichten erzählt und nicht Geschichte „aufarbeitet“. Es gibt Passagen, in denen der Autor den Familien- und Lebensalltag, vielerlei Kochprozesse, DDR-typische komische Erscheinungen wie den vermaledeiten albernen Frauentag in schöner Detailversessenheit schildert. Das kann er hervorragend.
Öfter driftet der Roman ins Aberwitzige ab. Auf der Hochzeitsfeier erscheint ein Kamel, das den frischgebackenen Ehemann vorführen soll und andauernd irgendwelche Pseudoweisheiten verkündet. Dazwischen sind Zeitdiskurse in die Erzählungen einbaut, wenn zum Beispiel über die Vergleichbarkeit oder Unterschiedlichkeit von KZ, Stasiknast und Gulag reflektiert wird. Das regt zum Nachdenken an, manche Aufforderung dazu gerät etwas plakativ.
Satire aus dem Kurfischteich
Am vitalsten wird es, wenn aus der Sicht von Großmutter Polina erzählt wird, die aus dem sowjetischen Schwarzmeergebiet Dnistrien stammt, deren Weg dann über Polen bis nach Leipzig führte und die nach der Ausreise bei westdeutschen Verwandten unterkommt. Der Autor lässt seine Heldin gemeinsam mit einem westdeutschen Verehrer den Film Grün ist die Heide aus den 50er Jahren ansehen und darin drückt sich viel aus über die Stimmung in einer westdeutschen Kurstadt. Die Schilderung einer Tierschützeraktion gegen die unsachgemäße Haltung von Speisefischen in einem Gaststättenbottich hat höchst satirische Untertöne. Polinas Erinnerungen, ihre ganze Lebensgeschichte, die sich durch das Buch zieht, ist der ernsteste und erzählerisch stärkste Teil. Am Schluss, wenn sich Frank Friedrich und Mutter Polina im Westen treffen, der Sohn kommt später dazu, gibt es eine überraschende Pointe, die einiges, was bis dahin an Polinas Geschichte unklar war, erhellt.
Gunnar Cynybulk, 1970 in Leipzig geboren, heute Programmchef beim Aufbauverlag, wanderte mit 14 Jahren aus der DDR nach Bayern aus. Vielleicht wollte der Autor die Sichtweise einer „Generation Flucht“ etablieren. Er sagt: „Als ich ein Junge war, verlor ich mein Land. Ich verlor es noch einmal aus meinem Gedächtnis. Als Mann bekam ich Heimweh. Ich fand einen Weg und ging zurück, diesmal tapferer.“ Noch ein bisschen mehr von dieser fantastischen und komischen Fabulierlust bei weniger Aufarbeitung und der Plan wäre vollständig grandios aufgegangen.
Das halbe Haus Gunnar Cynybulk Dumont 2014, 576 S., 22,99 €
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