Wer erinnert sich noch an die Debatten über den Stand der „Linken“, die seit dem Mauerfall von diversen Feuilletons aus konjunkturellen Anlässen losgetreten worden sind? Das Argumentationsniveau all dieser „What’s left“-Diskurse tendierte regelmäßig gegen null. Übrig blieb allein das vage Gefühl, seit der so genannten Wende müssten „ideologische Gewissheiten“ aufgegeben und „liebgewordene Gewohnheiten“ revidiert werden. Die „Linke“ hat in derlei Diskussionen stets eine ähnliche Rolle gespielt wie der Sozialstaat, das Renten- oder das Krankenversicherungssystem: Sie figurierte als eine freundliche, angesichts der neuen Weltlage aber anachronistische Institution, die unbedingt generalüberholt werden müsse, sofern Reste von ihr gerettet werden sollten. Auf welche Denktraditionen sich diese Linke einmal berufen und welche Vorstellungen von Staat und Gesellschaft sie im Zuge ihrer Entwicklung vertreten hat, war denjenigen, die nach 1989 ihre sei es diffamierende, sei es euphorische Resteverwertung betrieben, schon immer egal. Ebenso wie den meisten erklärten „Vordenkern“ dieser „Linken“ selbst.
Angesichts der fast vollständig in den Volks- und Staatsdienst übergewechselten 68er-Generation, von deren „Erbe“ nicht viel mehr geblieben ist als Multikulturalismus, Partykultur, Ökobegeisterung sowie die Anhimmelung einer genuin deutschen Bürger- und Zivilgesellschaft, sollte sich der Ärger über den mangelnden Respekt für „linke“ deutsche Errungenschaften eigentlich in Grenzen halten. Wenn der Spiegel-Redakteur Jan Fleischhauer sich in Unter Linken, seiner biographisch inspirierten Abrechnung mit linken Milieus, als jemand in Szene setzt, der „aus Versehen konservativ geworden“ sei, besteht also kein Grund, dieses Bekenntnis zum Ausdruck eines Generationenbruchs zu stilisieren, wie es in den halb begeisterten, halb alarmistischen Reaktionen auf sein Buch geschehen ist. Es wäre einfach nüchtern darauf hinzuweisen, dass es Fleischhauer offenbar genauso ergangen ist wie den meisten Protagonisten seiner linken Elterngeneration. Die sind fast alle früher oder später konservativ geworden sind, ohne es zu merken. Bekanntlich hat eine rot-grüne Bundesregierung den Sozialstaat im Namen einer „sozialeren“ Politik demontiert, einen Angriffskrieg als Lehre aus Auschwitz verkauft und eigenverantwortliche Selbstausbeutung zum internationalen deutschen Verkaufsschlager gemacht hat – linke Regression als Fortschrittsmodell.
Unterdrückte Hitzewallungen
Im Zuge linker Selbstmodernisierungen haben aber nicht nur Parteipolitiker, sondern zahllose Kulturlinke der älteren Garde schon vor Jahren jenes konservative Coming-out durchlebt, das Fleischhauer nun so stolz zum Distinktionsmerkmal gegenüber seinen linksalternativen Eltern stilisiert. Günter Grass erlebte es als später Apologet der deutschen Vertriebenen, Hans Magnus Enzensberger in seiner öffentlichen Pöbelei gegen die Dummheit und Subalternität der Armen, Martin Walser bei der Brandmarkung des „Denkmals unserer Schande“ – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Fleischhauer vergleicht in seinen Kindheitserinnerungen frühe konservative Anwandlungen in parodistischer Verkehrung linker Emanzipationsideale mit „jugendlichen Hitzewallungen“, für die er sich lange Zeit geschämt habe, ehe er sich endlich zu ihnen bekennen konnte. Damit hat er den Grandseigneurs der deutschen „Linken“ mithin nichts voraus. Im Gegenteil ließe sich behaupten, derart „links“ zu sein sei hierzulande überhaupt nie etwas anderes gewesen als die Bezeichnung für solche unterdrückten Hitzewallungen: Deutsche „Linke“ sind Menschen, die das in ihnen schwelende Ressentiment gegen Freiheit und Glück verdrängen – aus Rücksicht auf das stets als oktroyierter Zwang empfundene tolerante und hippe Ich-Ideal, das ihnen als gesellschaftspolitisches Ticket dient, verdrängen. Sobald günstige konjunkturelle Umstände es erlauben, lassen sie los, um zu sich selbst kommen zu können. Aus dieser Mischung von Ressentiment und Toleranz, Autoritätssucht und Pluralismus erklärt sich ihr unangenehmes Sozialverhalten.
So klischeehaft das von Fleischhauer ausgebreitete Panoptikum linker Alltagskultur ist, es dürfte kaum zu bestreiten sein, dass tatsächlich wenig von all dem erhaltenswert ist: Nichts ist enervierender als anti-autoritäre Lehrer, die ihren Zöglingen, wenn sie sie beim Kiffen erwischen, mit Erinnerungen an die eigenen jugendlichen Drogenerfahrungen in den Ohren liegen, nichts für die persönliche Entwicklung hemmender als Eltern, die einen schon im Babyalter täglich bei der gewaltfreien Krabbelgruppe abgeben. Dass er unter dem kommunitaristischen Eso-, Öko- und Vegetariermilieu, das er so hämisch skizziert, gleichsam als Stellvertreter einer ganzen Generation gelitten habe, nimmt man Fleischhauer aber nicht ab. Dafür schreibt er selbst noch viel zu „links“ – nämlich in jenem undogmatischen Selbsterfahrungssound, den sich alle konvertierten Ex-Linken in ihr neues Leben hinübergerettet haben, weil er notwendig für ihre Existenz als postmoderner Freiberufler ist.
So wenig sich also die „Linken“, denen Fleischhauer vorwirft, seine Jugend verdorben zu haben, ändern mussten, um konservativ zu werden, so wenig kann ein „Konservativer“ wie Fleischhauer auf den eingeschliffenen linken Tonfall verzichten, will er nicht den Anschluss an den Zeitgeist verlieren. Wie „linke“ Ideen, um Erfolg zu haben, sich in konservativen Milieus bewähren müssen, so müssen „konservative“ Ideen, um nicht für obsolet zu gelten, gleichsam linksgedreht und ihres Traditionalismus beraubt werden.
Gerade aus dieser Perspektive zeigt sich, wie wenig Neues in Fleischhauers schnodderiger Generalabrechnung steckt. Seit gut zehn Jahren tauchen nämlich regelmäßig Leute wie er in den Medien auf, um ihre persönliche 68er-Leidensgeschichte zu erzählen. Sie alle haben nicht nur dieselben Stereotype, sondern auch denselben Jargon im Angebot. Vor acht Jahren war es Mariam Lau mit dem Bestseller Die neuen Sexfronten, worin der „Mythos“ der sexuellen Befreiung denunziert und statt dessen mit munterer Keckheit für Kinder, Küche und Kirche plädiert wurde – gefeiert von den Rezensenten der FAZ und taz gleichermaßen. Vor vier Jahren war es der Journalist Ulf Poschardt, der, wiederum in einem taz-Essay, für eine schwarz-gelbe Koalition als revolutionärem Projekt der Zukunft warb und „linke“ Politik für überholt erklärte.
Die Konservativen als die besseren Linken
Sie alle reihen sich ein in eine Folge spätgeborener Renegaten wie Ulrike Ackermann, Bettina Röhl und anderer, die sich mit biografisch unterschiedlich gelungenen Begründungen als jugendliche Opfer des 68er-Psychoterrors outen. Das gegenwärtige Doppeljubiläum – 30 Jahre 68er-Bewegung, 60 Jahre Bundesrepublik – taugt für solche Übungen offenbar besonders gut. Alle aber verzichten sie auch auf den im besten Sinn konservativen Joachim-Fest- oder Ernst-Nolte-Stil, der noch in den Neunzigern zumindest die FAZ bis in den Satzbau hinein prägte, um ihre Gegner stattdessen in puncto Lässigkeit möglichst zu übertreffen. Es geht ihnen gar nicht darum, einen wie immer auch problematischen, aber in sich konsistenten Konservatismus „linken“ Verirrungen entgegenzuhalten, sondern unter Beweis zu stellen, dass die Konservativen im Grunde die besseren Linken sind.
Deshalb wirbt Lau in ähnlich flotten Worten wie heute Ursula von der Leyen für ein in Wahrheit überholtes Familienmodell. Deshalb schreibt Poschardt über Guido Westerwelle im gleichen Stil wie über „DJ-Culture“ oder Sportwagen. Und deshalb liest sich Fleischhauers Buch wie eine Mischung aus Gerhard Schröder und Florian Illies. Im Grunde scheint es überhaupt das einzige Problem dieser in den sechziger Jahren geborenen Generation zu sein, dass sie gar keine „Generation“ mehr ist und sich dennoch partout zu einer machen möchte: weil man sich nicht auf die Bindungskraft gemeinsamer pseudorevolutionärer Erfahrungen mehr berufen kann, wie noch die 68er, aber auch unfähig ist, von solchen kollektiven Erfahrungen in ähnlich elitärer Weise Abschied zu nehmen wie die noch Jüngeren, etwa die Kollegen von Tristesse Royale, also Schriftsteller wie Christian Kracht.
So bleibt nicht anderes übrig als eine negative, aber dennoch blinde Identifikation mit den Eltern, die man sogar noch für die Träume beneidet, die sie längst verraten haben.
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