Krimi Reginald Hills Ermittler arbeiten dort, wo gesellige Menschen so selten wie Sonnentage sind. Endlich erscheinen die Romane des Briten in gelungenen Übersetzungen
Zu den frühesten Beiträgen zum Krimigenre gehören nicht nur die Detektivnovellen von Edgar Allan Poe, die oft als Ursprung der Gattung angesehen werden, sondern ebenso die Gesellschaftsromane des Viktorianismus, besonders Bleak House von Charles Dickens und The Woman in White von Wilkie Collins. Auch viele Romane der Brontë-Schwestern, deren scheinbarer Realismus immer wieder in düstere Szenarien aus der Sphäre der Gothic Novel umschlägt, nehmen Motive und Erzählformen des Kriminalromans vorweg. Wenn diese Bücher heutigen Krimilesern oft als spannungslos und weitschweifig erscheinen, liegt dies daran, dass die strenge Ökonomie der Handlung mittlerweile als wichtigstes Merkmal von Krimis gilt: Keine Abschweifungen, keine Unterbrechung des Sp
Unterbrechung des Spannungsbogens, regelmäßige Cliffhanger am Ende der Kapitel, keine allzu tiefschürfende Figurenpsychologie – das macht das Format aus, an das sich zu halten hat, wer auf dem expandierenden Markt überhaupt wahrgenommen werden will.Was ist eine Pointe?Auch Reginald Hill kennt diese Regeln, und im Grunde beherzigt er sie sogar. Aber er tut es in einer Weise, die deren Begrenztheit offenbart. Welche Abschweifungen sind in der Erzählung eines Verbrechens überflüssig, und welche nicht? Welchen Anteil hat die Psychologie der Figuren an ihren Handlungen? Und was ist eine Überraschung, eine Pointe, ein Wendepunkt? Gerade weil er lange und ernsthaft über solche Fragen nachgedacht zu haben scheint, gibt Hill in seinen Büchern darauf andere Antworten als die meisten Autoren des Genres. Die epische Breite seiner Romane, die oft weitverzweigten Beziehungen der zahlreichen Figuren und der weitgehende Verzicht auf konventionelle Spannungsdramaturgie ist nicht dem Bedürfnis geschuldet, ein „echter“ Schriftsteller statt ein Unterhaltungsautor sein zu wollen, sondern dem unverbrüchlichen Ernst, den er der Welt seiner Bücher entgegenbringt.Dieser Ernst unterscheidet ihn von der Hauptfigur der meisten seiner Romane, dem fetten, grobschlächtigen, launischen Superintendent Andy Dalziel, der gemeinsam mit seinen Kollegen Peter Pascoe und Sergeant Wield seine Fälle im unwirtlichen Norden Yorkshires zu lösen hat, wo gesellige Menschen so selten sind wie Sonnentage. Obwohl er am Ende immer die richtige Lösung parat hat, interessiert sich Dalziel für seine eigenen Fälle nicht, die er am liebsten verscheuchen würde wie einen streunenden Hund. Seine Manieren sind schlecht, seine Bildung lässt zu wünschen übrig, seine Ausdrucksweise ist roh. Deswegen muss Hill, der selbst eher Dalziels intellektuellem Kollegen Pascoe ähnelt, das Opfer auf sich nehmen, viel mehr zu erzählen, als Dalziel je würde wissen wollen. Manchmal, wie in dem fast in Echtzeit erzählten Pictures of Perfection (dt. Der Schrei des Eisvogels) von 1994, beginnt er am Schlusspunkt, um dann Stück für Stück die Vorgeschichte einer scheinbar sinnlosen Mordtat zu schildern, deren Urheber bis fast zum Ende unbekannt bleibt und die, wie wir schließlich erfahren, gar keine Mordtat gewesen ist. Manchmal, so in The Wood Beyond (Der Wald des Vergessens) von 1996, steigt er für die Aufklärung eines Verbrechens über mehrere Generationen in die Vergangenheit hinab, erzählt fast beiläufig, aber über die Hälfte des Buches hinweg die Lebensgeschichte der Ahnen Pascoes, um erst am Ende wieder in der Jetztzeit anzugelangen, deren Ereignisse im Vergleich mit den vergangenen unspektakulär erscheinen.Ein eigener KosmosNur Hill gelingt es, Krimis zu schreiben, die sich als Nicht-Krimis erweisen und trotzdem eindrücklicher als die meisten reinen Krimis sind. Dann aber schreibt er auch wieder reine Krimis. Nur zwei Jahre nach The Wood Beyond, in On Beulah Height (Das Dorf der verschwundenen Kinder) und Dialogues of the Dead (Die rätselhaften Worte) bedient er sich der populären Motive des Serienkillers und der Kindstötung, um eine Geschichte zu erzählen, die alle üblichen Assoziationen, die mit diesen Themen verbunden sind, über den Haufen wirft. Die Aufklärung der Fälle ist dabei immer auch eine schrittweise Aufklärung über die Vorgeschichte der Figuren, deren Beziehungsgefüge sich von Buch zu Buch weiterentwickelt. In Hills neueren Romanen, spätestens seit Dialogues of the Dead, dessen fast schon metaphysische Auflösung die Regeln des Genres an ihre Grenzen führt, beziehen sich die Bücher so eng aufeinander, dass sich von einem eigenen Kosmos sprechen lässt, der sich erst im geduldigen Durchgang durch das ganze Werk erschließt.Übergreifende Erzählungen gibt es auch in den Krimis des Schotten Ian Rankin oder bei den skandinavischen Epigonen von Henning Mankell, in deren Schatten Reginald Hill noch ein wenig steht. Doch dabei handelt es sich lediglich um eine Variation des Fortsetzungsmusters, wie man es aus TV-Krimiserien kennt, deren Einzelfolgen zwar abgeschlossen, aber immer auf Künftiges bezogen sind, um das Publikum bei der Stange zu halten. Im Fall Hill verdankt sich der Zusammenhang, in dem alle Bücher stehen, der Komplexität der Sache selbst, nämlich den Figuren und ihren Handlungen. Ist man mit dem Gewirr von Beziehungen und Vorgeschichten einmal vertraut, erkennt man, dass, was dem flüchtigen Außenblick als langweilig erscheinen mag, in Wahrheit vom Gegenstand selbst verlangt wird. Hierhin gehört auch Hills Eigenart, Dokumente in seine Bücher zu montieren, deren Bedeutung oft erst am Ende deutlich wird, oder seine Buchkapitel mit literarischen Zitaten einzuleiten, die keine Bildungshuberei sind, sondern manchmal sogar die Lösung vorwegnehmen, die erst 500 Seiten später folgt. Um den Dingen auf den Grund zu gehen, braucht es einen langen Atem und große Konzentrationsfähigkeit. Auch in dieser Einsicht ähneln Hills Bücher den Romanen des Viktorianismus.Ode an die MelancholieDeutsche Leser konnten von diesem langen Atem bisher nicht viel mitbekommen, weil die Rechte für Hills Bücher hier auf verschiedene Verlage verteilt und die vorliegenden Übersetzungen meistens schlecht waren. Hills Frühwerk, von den Siebzigern bis Mitte der Achtziger, gab es nur in gekürzten, lieblosen Goldmann-Ausgaben, die inzwischen nicht einmal mehr antiquarisch erhältlich sind. Die jüngeren Krimis erschienen mal bei Knaur, mal im Europa Verlag, ohne jede Rücksicht auf die Chronologie. Erst seit etwa einem Jahr hat Knaur neue Übersetzungen der Bücher aus dem Europa Verlag herausgebracht, die dem epischen Anspruch und der geschliffenen Sprache Hills gerecht werden. Und mit Ein nasses Grab von 1975 liegt nun auch ein weiterer von Hills frühen Kriminalromanen vor.Ein nasses Grab, im Original An April Shroud, ist verglichen mit Hills späteren Arbeiten ein traditioneller Golden-Age-Krimi. Hier verirrt sich Dalziel in einen heruntergekommenen Landsitz, in dessen Hausherrin er sich in der für ihn charakteristischen Plumpheit verliebt. Bald hat er den Eindruck, dass mit dem Tod ihres vor einiger Zeit gestorbenen Gatten etwas nicht stimmen kann. Die Folge unwahrscheinlicher, teils grotesker Geschehnisse, die sich anschließt, zeugt von einem Sinn für absurde Komik, der in Hills späteren Romanen nur noch leise anklingt. Gerade wegen seiner größeren Konventionalität ist das Buch aber als Einstieg in die Dalziel-Pascoe-Serie geeignet (die übrigens auch erfolgreich im britischen Fernsehen als BBC-Produktion läuft). Hier ist das Figurengeflecht um die beiden Hauptpersonen noch nicht so komplex wie später, wenngleich Hills Vorlieben bereits anklingen: Strukturiert ist der Roman durch ständige Anspielungen auf den britischen Dichter John Keats, dessen Ode an die Melancholie zu Beginn zitiert wird und einen wichtigen Hinweis auf den psychologischen Hintergrund der Geschehnisse enthält. Es ist zu hoffen, dass der Verlag, in dem bereits Hills früher Krimi Der Lügen schöner Schein veröffentlicht wurde, auch die fast ein Dutzend anderen, teils vergriffenen, teils noch nie übersetzten Krimis des Autoren nach und nach herausbringt. Dem Rang seines Werks würde damit endlich Gerechtigkeit erwiesen.
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