Heimzahlung an die Welt

Résistance Die Gefängnistagebücher von Boris Vildé zeigen, wie auch Innerlichkeit zu einer Form des Widerstands werden kann

Bevor sie durch den französischen Existenzialismus der Nachkriegszeit zum Mythos überhöht wurde, war die Résistance eine ideologisch uneinheitliche politische Widerstandsbewegung. Ihren Namen hatte sie vom Titel einer antifaschistischen Flugschrift. Résistance hieß eine während der Okkupation privat gedruckte und in kleiner Auflage verteilte Broschüre, die zum Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht aufrief und von den Nazis als „Fortsetzung des Krieges gegen Deutschland“ gewertet wurde. Die im Februar 1942 im deutschen Militärgefängnis von Fresnes bei Paris abgehaltene Gerichtsverhandlung gegen die Initiatoren der Schrift war eine Inszenierung mit von Beginn an feststehendem Urteil. Nach ihrem Ende wurden die Angeklagten wegen „schwerster Vergehen gegen die deutsche Armee und das deutsche Volk“ erschossen.

Kein „Antideutscher“

Bei den meisten handelte es sich um Mitarbeiter des Pariser Musée de l’Homme, eines renommierten ethnologischen Museums. Alle Angeklagten hatten sich zu ihrer Mitarbeit an der Flugschrift bekannt, ihre antifaschistische Gesinnung als notwendige Konsequenz des Eintretens für Aufklärung und Wahrheit dargestellt und ihren „Respekt vor der deutschen Kultur“ betont. In seiner Urteilsbegründung lobte der Gerichtspräsident Ernst Roskothen die „gut redigierte“ Broschüre, die „die Fakten sorgfältig“ zusammenführe, aber eben deshalb gefährlich sei. Nach der Verkündung des Urteils schüttelte er Augenzeugen zufolge einem der Angeklagten freundschaftlich die Hand.

Die zynische Veranstaltung illustriert nicht nur die für den Nationalsozialismus typische Mischung aus Pragmatismus, Sadismus und Größenwahn, sondern weist auch auf die gern verdrängte Tatsache hin, dass man seinerzeit weder links noch „antideutsch“ sein musste, um Antifaschist zu sein. Sinnfällig wird das am Beispiel des Dichters Boris Vildé, dem damaligen Hauptangeklagten, dessen Werk der Verlag Matthes & Seitz nun durch Veröffentlichung seiner Gefängnistagebücher und Briefe dem Vergessen entrissen hat. Vildé, der 1908 in der Nähe von St. Petersburg geboren wurde und nach der Russischen Revolution 1917 mit seiner Familie nach Estland ging, studierte Naturwissenschaften, arbeitete als Drucker und Bibliothekar, schrieb aber auch Lyrik und Prosa unter dem Einfluss Rainer Maria Rilkes und des russischen Symbolismus. Sich selbst bezeichnete er als Abenteurer, als Pseudonyme wählte er gern russische Vogelnamen. 1930 wanderte er nach Deutschland aus, zwei Jahre später nach Frankreich, wo er sich mit André Gide anfreundete, durch dessen Empfehlung er eine Stelle im Musée de l’Homme erhielt. Irène Lot, die er 1934 heiratete und die ihm den Aufstieg ins Großbürgertum ermöglichte, ist Adressatin der meisten von Vildés Tagebüchern und Briefen.

Anders als man annehmen könnte, besteht zwischen Vildés in den Jahren 1941 und 1942 im Gefängnis entstandenem Werk und seiner übrigen Dichtung kein offensichtlicher Bruch. Die Erfahrungen der Vertreibung, des Krieges, des Exils und des Kampfes in der Résistance klingen insbesondere in den Tagebüchern allenfalls als Echo aus einem weit entfernten Land nach. Stattdessen versammeln die Notizen philosophische Maximen, Gedankensplitter, mystische Reflexionen und rhapsodische Leseeindrücke. In ihrer Mischung aus Vorläufigkeit und Entschiedenheit erinnern sie an die Aphorismen E. M. Ciorans und Guido Ceronettis. Im Gefängnis liest Vildé Goethe, Nietzsche und die Bibel, beschäftigt sich mit russischer Philosophie, mit dem Buddhismus und der altgriechischen Philosophie. Doch das Gefängnis wird ihm nicht zum Kloster, er spürt in der erzwungenen Klausur auch jenes Gefängnis auf, zu dem die Welt ihm geworden ist.

Früher Existenzialismus

Der Rückzug in die Innerlichkeit der Lektüre, der sich zu Recht als Eskapismus bezeichnen ließe, ist zugleich individueller Widerstand, weil er das Ich gegen seinen von den Zeitumständen beförderten Zerfall schützt. So wurde Vildé, der sich im bürgerlichen Leben als Bohemien betrachtete, im Gefängnis zum Gelehrten. Es ist seine Heimzahlung an die Welt, die ihn nicht werden ließ, was er wollte: „Die Gesellschaft entwickelt den Intellekt, hat aber die Neigung, die Persönlichkeit zu unterdrücken, die dann bisweilen ihrerseits an der Gesellschaft Rache nimmt.“

Indem die scheinbar auf biografische Selbstreflexion und Kommunikation ausgerichteten Formen des Briefes und des Tagebuchs bei Vildé jedes unmittelbar tagesaktuellen Bezugs entleert werden, kommen sie jedoch auf neue Weise zu sich selbst. Bevor es zu einem Medium akribischer Aufzeichnung des eigenen Lebens wurde, war das Tagebuch, etwa bei den großen Mystikern, die bevorzugte Form der Innenschau. Und der Brief diente noch den französischen Aufklärern als wichtigstes Mittel philosophischer Reflexion. Indem er auf ihre frühen, verschütteten Möglichkeiten zurückgreift, verwandelt Vildé sie in eine neue Ausdrucksform des Widerstands. Seine Reflexionen über den Tod, der für ihn nicht nur „Abwesenheit des Lebens“, sondern eine eigenständige Macht ist, über das Christentum als Ursprung der Idee des individuellen Ichs, über die Erfahrung der Reue als „Quelle der Moral“ oder über den Unterschied zwischen menschlichem und tierischem Leben mögen für sich genommen als gesellschaftsferne Spekulationen erscheinen, die in Thematik und Diktion dem späteren Existenzialismus nahe sind. In Wahrheit sind sie eine fortwährende Aussprache über die Gesellschaft und machen, richtig gelesen, den Existenzialismus erst durchsichtig auf die Erfahrung hin, die ihm zugrunde lag und die seine Vertreter nach 1945 allzu oft verschwiegen haben. Vildé selbst wurde 1942 wie seine Mitangeklagten hingerichtet.

Magnus Klaue ist Experte für die Literatur der Moderne

Boris Vildé: Trost der Philosophie. Tagebuch und Briefe aus der Haft Hg. und mit einem Vorwort von Felix Philipp Ingold Matthes & Seitz 2012, 208 S., 19,90 €

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