Die Herrschaft, so will es ein beliebtes antikapitalistisches Vorurteil, ist umso bedrohlicher, je unpersönlicher sie ist. Erst wenn sie sich nicht mehr materialisieren muss, wenn sie verschwunden zu sein scheint, hat sie ihren endgültigen Sieg errungen. In seiner 1975 erschienenen Studie Überwachen und Strafen beschreibt Michel Foucault die modernen Mechanismen der Macht in diesem Sinne: „Die Perfektion der Macht vermag ihre tatsächliche Ausübung überflüssig zu machen (…), sodass man auf Gewaltmittel verzichten kann, um den Verurteilten zum guten Verhalten, den Wahnsinnigen zur Ruhe, den Arbeiter zur Arbeit (…) zu zwingen.“ Ihre Suggestivkraft beziehen solche Formulierungen daraus, dass sie die Gesellschaft als ein einziges Gefängnis beschreiben. Die realen Gefängnisse sind für Foucault nur das Modell, das sich in Schulen, Fabriken, Krankenhäusern und Irrenanstalten reproduziert: Alle diese Institutionen sollen die Ausübung der Macht „überflüssig machen“, indem sie die Subjekte dazu abrichten, die Macht zu internalisieren und zum Bestandteil ihrer Technologie zu werden. Verkörpert sah Foucault diesen Anspruch in einem Projekt, das nie verwirklicht wurde: im sogenannten Panoptikum.
Die Idee des Panoptikums stammt von dem 1748 geborenen englischen Utilitaristen Jeremy Bentham, der 1791 den Entwurf für ein „Kontrollhaus“ vorlegte, das mit der Inhumanität der Strafanstalten auch deren Ineffizienz bekämpfen sollte und von dem er sich erhoffte, dass „die Sitten reformiert (…), die Methoden der Unterweisung verbessert“ und „der Gordische Knoten der Armengesetze nicht durchschlagen, sondern gelöst“ würde.
Nachzulesen ist das in der ersten vollständigen deutschen Übersetzung von Benthams Traktat, die nun bei Matthes & Seitz erschienen ist. Begleitend hat der Verlag schon vorher die Bentham gewidmete Studie Der radikale Narr des Kapitals des Kunsthistorikers Christian Welzbacher herausgebracht. Beide Bücher zusammen ermöglichen einen neuen Blick sowohl auf Benthams Utilitarismus wie auf seinen architektonischen Entwurf. Dieser stammt, wie Welzbacher betont, aus einer Zeit, als die „Pervertierung des Utilitätsgedankens, seine Kurzschlüsse mit Sozialdarwinismus, Rassismus und deren Konsequenzen“ noch außerhalb des Vorstellbaren lagen. Aus einer Zeit also, als besonders im angloamerikanischen Raum das autonome Individuum mehr als nur staatsbürgerliche Ideologie gewesen ist.
Vor dem Sozialdarwinismus
Das Panoptikum ist ein Gefängnismodell, in dem die Zellen, auf verschiedene Etagen verteilt, um einen in der Mitte platzierten Turm angeordnet sind, von dem aus die Inhaftierten beobachtet werden können, ohne sehen zu können, ob sie beobachtet werden. Für Foucault wie für Bentham besteht die entscheidende Neuerung des Modells darin, dass die Präsenz der Herrschaft, verkörpert durch Wächter und Aufsichtsbeamte, reduziert werden kann und unmittelbare Gewaltanwendung immer seltener nötig wird. Weil die Gefangenen ihren Status als Objekte des Blicks verinnerlichen, verhalten sie sich von sich aus, als wären die Exekutoren der Herrschaft immer gegenwärtig. Doch während Foucault diese Neuerung als Intensivierung der Unterwerfung deutet, hebt Bentham die vernünftigen und humanen Aspekte hervor, die in der Vermittlung institutioneller Gewalt liegen. Sein „Panoptikum“ verstand sich, wie Welzbacher erläutert, als Antwort auf ein Gefängnissystem, in dem „Folter zur Normalität“ gehörte, die Inhaftierten „wie Tiere in Ketten“ lagen und Krankheiten allgegenwärtig waren: „Körperlich geschwächt, waren viele Häftlinge nicht in der Lage, die ihnen auferlegte Strafarbeit auszuführen. So setzten erneut Zwang und Folter ein, der Leidenszyklus begann von vorn.“
Den Gefangenen, wie Bentham es proklamierte, als Menschen zu sehen, habe angesichts der „Investitionen zu seinem Wohl, gute und ausreichende Nahrung, Bewegung, Hebung der Moral, Steigerung der Arbeitsleistung“ bedeutet: „An die Stelle von Verwahrlosung und Misshandlung sollte Erziehung treten, mit einem bis dahin ungewöhnlichen Ziel: Rehabilitation.“ Insofern war Benthams Panoptikum keine Ausgeburt machiavellistischen Größenwahns, sondern der Architektur gewordene Anspruch, auf Gewalt und Willkür zum Zweck der Disziplinierung so weit wie möglich zu verzichten und die institutionelle Herrschaft als Raum- und Zeitordnung zu etablieren, die den direkten Zugriff auf die Häftlinge nur in Ausnahmefällen erforderlich macht.
Zu den wichtigsten Fortschritten, die Bentham anstrebte, gehört die Abtrennung der Strafe von der Rache, ein Fundament der bürgerlichen Rechtsordnung. Nicht Vergeltung für begangenes Unrecht, sondern Strafe zum Zweck der Besserung sollte im Mittelpunkt des Strafvollzugs stehen, weshalb Bentham zentrale Kapitel seiner Schrift der „Arbeit“ und „Erziehung“ der Häftlinge sowie deren „sicherer Verwahrung“ widmet, welche die Voraussetzung dafür sei, dass sie die Haftanstalt als bessere Menschen verlassen könnten. Dass Bent-ham das Argument der „Wirtschaftlichkeit“ seiner Vorschläge geltend macht, die Gefangenen also auch als Humankapital betrachtet, das nicht sinnlos vernutzt werden darf, mag unmenschlich klingen, ermöglicht aber überhaupt erst, sie als Menschen zu behandeln: Um auch als Häftling im Besitz grundlegender Rechte zu bleiben und nicht wie ein Vogelfreier um seine körperliche Unversehrtheit zu fürchten, muss der Gefangene als potenzieller Verkäufer von Arbeitskraft betrachtet werden, der nach Abgeltung seiner Strafe wieder zum gleichen und freien Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft werden kann. Konsequent wendet Bentham gegen die Folter nicht ein, dass sie unmenschlich, sondern dass sie „unnötig“ sei. Er überträgt sein Modell auf „Irrenhäuser“ und „Hospitäler“ mit der Absicht, zu verhindern, dass sich dort Seuchen ausbreiten und die Insassen ihre Gewalt „gegen ihre Mitgeschöpfe richten oder gegen sie selbst“. Dem Einwand, er behandle Menschen wie Rädchen in einer Maschine, entgegnet er unbefangen: „Solange sie dabei glücklich sind, soll es mich nicht weiter kümmern.“
Es fällt leicht, Benthams utilitaristisches Denken als Ideologie des frühen Industriekapitalismus und seinen Optimismus als naiv zu entlarven. Dennoch bringt seine Schrift zur Blütezeit des bürgerlichen Rationalismus ein Vertrauen in die Vereinbarkeit von Nützlichkeit, Vernunft und menschlichem Wohlergehen zum Ausdruck, ohne das Aufklärung nicht möglich gewesen wäre. Benthams ökonomischem Kalkül entspringende Überzeugung, dass kein Mensch, weder der Verbrecher noch der Kranke, überflüssig sei und die Gesellschaft für jeden Verwendung finde, enthält in ihrer kalten Rationalität auch das Versprechen, dass jeder zu seinem Glück kommen möge und keiner preisgegeben wird.
Das Panoptikum Jeremy Bentham Andreas Leopold Hofbauer (Übers.), Matthes & Seitz 2013, 224 S., 26,90 €
Der radikale Narr des Kapitals Christian Welzbacher, Matthes & Seitz 2011, 219 S., 14,80 €
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