Vor Gloria Somerville, deren trauriges Gesicht hinter der Atemschutzmaske zu erahnen ist, steht ein provisorisches kleines Häuschen. Es ist der Erinnerungsort für ihren Sohn Jonathan Reyes, der im März 2020 eine Straßenecke weiter von der Polizei erschossen wurde. „Mein Sohn ist in der Nacht noch einmal mit dem Hund rausgegangen. Er glaubte, Einbrecher gesehen zu haben“, erzählt die Mutter. Nachbarn waren der gleichen Meinung und riefen die Polizei. Die tauchte kurze Zeit später auf und schien Jonathan selbst für den möglichen Einbrecher zu halten. Ein Video zeigt, wie ihm auf einer leeren Straße in die Brust geschossen wird.
Es waren seinerzeit die ersten Tage der Pandemie in Chile. Das Land kam seit den Protesten vom 18. Oktober 201
ktober 2019 nicht zur Ruhe. Die Menschen begehrten auf gegen das neoliberale System und die rechtsgerichtete Regierung von Präsident Sebastián Piñera. Über die chilenischen Sommermonate Januar und Februar flachte der Aufruhr ab, doch alle erwarteten, dass sich dies wieder ändern würde. Dazu kam es nicht, weil sich das Virus zu verbreiten begann. Die Behörden verhängten als Erstes eine nächtliche Ausgangssperre. Jonathan ließ sich davon nicht beirren und war nachts weiterhin unterwegs. Die Staatsanwaltschaft behauptete später, beeinflusst durch Aussagen der Polizei, es habe sich bei ihm um einen drogensüchtigen Obdachlosen gehandelt. Die Polizei habe in Notwehr gehandelt.Mit der Wahrheit hatte das nichts zu tun. Als Gloria Somerville den Schuss hörte, rannte sie aus dem Haus, an der Straßenecke stand bereits die Cousine von Jonathan und hatte alles mit dem Handy gefilmt. Die Frauen wollten den Leichnam sehen, doch die Polizei schickte sie weg und drohte, sie zu verhaften. Wasserwerfer fuhren auf. Gloria, geschockt von dem, was geschehen war, ging zurück ins Haus, das in einer Gegend Santiagos liegt, deren Straßen nachts ein Ort für Drogen- und Beschaffungskriminalität sind. Es gibt Zelte und jede Menge provisorische Schlafplätze. Kommt die Polizei, kann sie mit äußerster Brutalität auftreten, wie die vergangenen Monate zeigen.Campillai überlebteAm 18. Oktober 2019 hatten zunächst Schüler gegen einen erhöhten U-Bahn-Fahrpreis demonstriert. Daraus wurde innerhalb weniger Tage eine Revolte gegen das herrschende Wirtschaftsregime. Die Regierung reagierte mit Hohn und Gewalt. Am 21. Oktober verhängte Staatschef Piñera den Ausnahmezustand und holte das Militär zu Hilfe. Sein Satz „Wir befinden uns im Krieg gegen einen unerbittlichen Feind, der nichts und niemanden respektiert“ ging um die Welt.In seinem Büro sitzt Oscar Castro, Menschenrechtsanwalt und Mitglied eines linken Kollektivs, das besonders schwierige Fälle politischer Repression aufgreift. „Wir kümmern uns um jene, die wegen angeblichen Besitzes von Molotowcocktails oder Brandstiftung angeklagt sind“, sagt er. Zudem habe sein Kollektiv Klage gegen den Präsidenten wegen Menschenrechtsverletzungen eingereicht. Ihm seien viele Fälle von Polizeigewalt bekannt geworden. „Oft sind es erschütternde Videos und Erzählungen.“ Seit Beginn der Revolte seien mindestens 40 Menschen ums Leben gekommen. Piñeras „Kriegserklärung“ sei gegen die arme Bevölkerung gerichtet, das sogenannte Lumpenproletariat. Dadurch solle der Protest entpolitisiert und den Polizei-Einheiten klargemacht werden, sie würden nicht gegen die Bevölkerung vorgehen, sondern gegen kriminelle Banden aus den Armenvierteln Santiagos. „Dieser Akt hat die arme Bevölkerung an sich entrechtet“, stellt der Jurist klar. Die Polizei habe das Gefühl, gegen Einwohner der Randviertel härter einschreiten zu dürfen – es handle sich ja sowieso um Kriminelle.Oscar Castro beginnt Fälle zu beschreiben, bei denen Menschen aus der Unterschicht festgenommen oder angeschossen wurden, ohne dass sie an einer Demonstration beteiligt waren. Bekanntester Fall ist der von Fabiola Campillai, einer Arbeiterin beim Nudelhersteller Carozzi. Als sie am 26. November 2019 auf den Bus wartete, traf sie eine Gasgranate direkt im Gesicht. Die Polizisten flüchteten, Campillai überlebte, hat jedoch ihr Augenlicht, den Geruchs- und Geschmackssinn verloren.Auch während der Pandemie wurden die repressiven Maßnahmen kaum zurückgenommen. Mittlerweile gilt seit über einem Jahr eine nächtliche Ausgangssperre, zum Teil darf man nur zweimal in der Woche aus dem Haus. Polizei und Armee sind für die Kontrolle verantwortlich. Dies trifft besonders die arme Bevölkerung, die nicht im Homeoffice arbeiten kann. Sie überlebt dank einstweiliger sozialer Hilfe des Staates, einer Inanspruchnahme der Rentenkassen und solidarischen Initiativen.In einem für seine politischen Aktivitäten bekannten Armenviertel, Villa Francia, wird Brot gebacken. Wie jeden Tag stellt sich die Gemeinschaftsküche auf etwa 60 Personen ein, die abends das Brot abholen. Erichka Riquelme, eine der Verantwortlichen, erzählt: „Es kommen Obdachlose, ganze Familien oder Rentnerinnen. Allen fehlt es an Geld dafür, sich das Grundnahrungsmittel zu leisten.“Erichka wohnt selbst im Viertel, „die Pandemie hat uns hart getroffen. Seit über einem Jahr hat mein Mann keinen Job mehr. Wir mussten unser Haus verlassen und in das meines Großvaters ziehen, der vor kurzem verstorben ist.“ Das sei ein Glück im Unglück gewesen. Andere würden zu ihren Eltern oder anderen Verwandten ziehen. Elf Menschen in einer Vierzimmerwohnung seien zur Normalität geworden. „Das sind schreckliche Bedingungen, gerade für die Kinder“, so Erichka. Es gehe dann nicht nur um Armut, sondern auch um häusliche Gewalt und andere Missstände. Deswegen bietet ihre Gemeinschaftsküche, die an eine selbstverwaltete Schule angeschlossen ist, auch Sport an. Erichka: „Die Kinder müssen sich bewegen, in Austausch miteinander kommen. Sonst wird man – über ein Jahr eingesperrt – einfach verrückt.“ Im März hatte die Regierung einen erneuten Lockdown jeweils für die Wochenenden verhängt. Den Sport sollte es trotzdem geben, bis Streifenpolizisten auftauchten und fragten, wie viele Teilnehmer es gebe. Wenig später fuhren Wasserwerfer und Panzerwagen vor. Erichka ist wütend über den Vorfall, weil sich die Polizei in den Quartieren der Reichen ganz anders verhalten würde. „Hier sind sie nur zur Repression. Bei Raub oder Drogenhandel kann man es oft vergessen, sie zu rufen. Hier geht es ihnen darum, unsere soziale Organisation zu schwächen.“Die Regierung kündigt immer wieder Menschenrechtskurse für die Polizei an, doch wie diese genau aussehen sollen, ist nicht bekannt. Seit Ausbruch der Pandemie liegt das Vorhaben ohnehin offiziell auf Eis. Rechtsanwalt Castro hält es für unwahrscheinlich, dass unter Präsident Piñera die Menschenrechtsverletzungen aufgeklärt werden. Er zitiert dazu einen Bericht der juristischen Abteilung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Danach gibt es über 8.000 Fälle, die derzeit bei der Staatsanwaltschaft liegen und nur zu einem Prozent Anklagen gegen Beamte zur Folge hatten.Castro meint: „Die Staatsanwaltschaft tut in den meisten Fällen nur so, als ob ermittelt würde. In Wahrheit tut sie das nur bei den bekanntesten Fällen, dank eines großen öffentlichen Drucks.“ Beispielsweise bei Gustavo Gatica, einem Studenten, der durch Schrotpatronen beide Augen verlor. Der verantwortliche Polizist sitzt mittlerweile in Untersuchungshaft. Bei Jonathan handelt sich um einen weniger bekannten Fall. Die Mutter hat „seit über einem Jahr nichts mehr von der Staatsanwaltschaft gehört“. Es würden immer noch Untersuchungen fehlen. Als gläubige Katholikin richten sich ihre Wünsche an Gott. „Hoffentlich kann mir die Seele meines Sohnes helfen, Gerechtigkeit zu erlangen.“Am 15./16. Mai wählt die chilenische Bevölkerung einen Konvent, der eine neue Verfassung erarbeitet. Dass es die geben soll, ist der größte Erfolg der Protestbewegung. Bei einer Volksabstimmung am 25. Oktober 2020 hatte sich die chilenische Bevölkerung mit großer Mehrheit (78,3 Prozent) für eine neu auszuarbeitende Magna Charta ausgesprochen. Dieses Votum wurde zu Recht als wichtigste Abstimmung in Chile seit der Rückkehr zur Demokratie vor 30 Jahren eingestuft. Die Pinochet-Verfassung wurde damit definitiv ad acta gelegt. Im November folgt die Präsidentenwahl. Darauf angesprochen, meint Gloria, dass sie nicht recht wisse, ob das im Fall ihres Sohnes etwas voranbringt. „Ich interessiere mich nicht für die Politik. Ich weiß nur eins, früher waren die Polizisten respektvolle Männer, heute sind es abscheuliche Bullen.“Placeholder authorbio-1