Mein Name ist Mandy. Ich lebe in München. Das scheint auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eine außergewöhnliche Kombination. Wenn ich gefragt werde, ob mein ostdeutscher Name ein Problem sei, frage ich mich, wo das Problem eigentlich liegt.
Denn von „uns“ gibt es viele. Abwanderung von Ost nach West war weiblich geprägt. Gut gebildete Frauen zogen, wie ich, insbesondere nach Süddeutschland, in die großen und mittelgroßen Städte Bayerns und Baden-Württembergs. Fast zwei Drittel der Menschen, die zwischen 1991 und 2007 vom Osten in den Westen gingen, waren Frauen; erst 2007 endete der weibliche Überschuss in der Westwanderung. Während in der Post-Wende-Debatte meist auf die Folgen des dadurch entstandenen Männerüberschusses im Osten geblickt wird, lässt sich die Frage auch umdrehen: Welche Folgen hatte der Ostfrauen-Überschuss eigentlich für das Leben im Westen?
Darüber habe ich mit drei Frauen gesprochen. Sie stammen aus verschiedenen Regionen Ostdeutschlands und leben nun im Norden und Süden der alten Bundesrepublik. Caroline Stachura etwa wohnt in Augsburg, mit Auto, Mann und zwei Kindern, gutbürgerlich. 1980 wurde die Psychologin in Ost-Berlin geboren, ihr Vater ging in den Westen, da war sie sechs. Damit galt er als „Republikflüchtiger“. Die Mutter wurde verhört, die Staatssicherheit wurde zum Teil des Lebens. Carolines DDR-Erinnerungen sind entsprechend negativ – Repression, Überwachung und staatliche Willkür, das sei ihre DDR.
Nach außen hin verrät nichts, dass sie und ihr Mann ursprünglich aus dem Osten kommen. Beide sind, wie ich, Teil der „3. Generation Ost“ und haben die DDR nur als Kinder erlebt. Sie sei „genauso Ost- wie Wendekind“, sagt Caroline Stachura. Die prägende Zeit war also die nach 1990: der Zusammenbruch aller Strukturen und eine Jugend ohne Eltern. Ihre Mutter, eine Psychologin, die in der DDR eigentlich keine hätte werden sollen, es aber dennoch wurde, sicherte den familiären Halt. Ihre Mutter habe „immer ihr Ding gemacht“ entgegen allen Widerständen, berichtet Stachura mit Stolz. „Ostfrauen“, das sind vor allem unsere Mütter.
Wie sie den Westen geprägt haben, das zeigen nun Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin. Nach einer aktuellen Studie hat sich die Erwerbstätigkeit westdeutscher Frauen vor allem dort in Westdeutschland erhöht, wo viele Frauen aus dem Osten zugezogen sind. „In der DDR sozialisierte Menschen, die nach Westdeutschland zogen, könnten neben dem Umfang der Erwerbstätigkeit also auch die Einstellungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Westdeutschland beeinflusst haben“, erklärte Studienautor Felix Weinhard. Haben Westfrauen also von Ostfrauen gelernt?
Halle sieht aus wie Karlsruhe!
Eine Dokumentation des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) aus dem Jahr 2019 schreibt den „Ostfrauen“ als Protagonistinnen schon im Titel die Attribute „Selbstbewusst. Unabhängig. Erfolgreich“ zu. „In der DDR“, heißt es da, „arbeiten Frauen Vollzeit, müssen niemanden dafür um Erlaubnis bitten“, dort gab es „andere Wege und andere Formen der Frauenemanzipation – eine von oben verordnete und eine im Alltag gelebte.“
Eine Reduzierung der Ostfrau auf die volle Berufstätigkeit sei aber zu verkürzt gedacht, meint Jana Fröbel, Lektorin des Buches Ostfrauen verändern die Republik (Ch. Links 2019). „Ostfrau“ stehe für den „Anspruch, sich im Leben nicht nur über Kinder zu definieren“, dieser sei schon sehr ausgeprägt. Neben Kindern und Erwerbsarbeit gebe es jedoch vieles mehr im Leben, das identitätsstiftend sei. Und mehr noch: Ihrer eigentlichen Lohnarbeit konnten viele Frauen aus dem Osten im Westen gar nicht nachgehen.
Sabine Friedrich kommt aus Halle-Neustadt, sie war in der DDR ausgebildete Friseurin. Ihr Sohn Sebastian war vier, als sie im November 1989 ausreisten, sie selbst damals 24. Sie gingen in den Westen, weil alle gingen, erzählt mir Sabine; nicht, weil es ihr in der DDR schlecht ergangen sei. Die Zukunft in der DDR sei unklar und der Traum vom Westen groß gewesen. Letztlich, so weiß sie jetzt, war vieles davon Illusion, aber auch die müsse es ja geben. Arbeitssuche, Jobwechsel und Existenzängste bestimmten ihr Leben in den 1990ern. Es sei eine äußerst schwierige Zeit gewesen. Ihr Sohn Sebastian, inzwischen Journalist und Freitag-Autor, hat ihrer beider Geschichte in einem Radiofeature mit dem Titel Die Ost-West-Migrantin erzählt.
30 Jahre später arbeitet Sabine Friedrich im IT-Bereich, lebt in einem Fachwerkhaus an der französischen Grenze und ist verheiratet, mit einem gebürtigen Ost-Berliner. Noch nie sei sie mit einem Westdeutschen zusammen gewesen, fällt ihr beim Erzählen auf. Und ja, bis heute sei ihre Herkunft Thema, aber eher durch fehlende Regionalität als durch ihre ostdeutschen Wurzeln. Ob Menschen sich denn für ihre Geschichte interessierten, frage ich. Nein, das komme sehr selten vor. Einmal, 1991, habe sie eine Kollegin nach Halle mitgenommen. Die hatte gedacht, in der DDR habe es kein fließend Wasser oder Strom gegeben. Als beide dann durch Halle fuhren, habe die Kollegin gestaunt. „Das sieht ja aus wie in Karlsruhe, genau wie Karlsruhe!“, wiederholte sie. Als Sabine diese Geschichte erzählt, lacht sie. Sie habe sich mit ihren Friseur-Kolleginnen gut verstanden, auch wenn sie selbst immer anders gewesen sei. Dabei spricht sie stets von „Frauen aus dem Osten und Westen“. Das Wort „Ostfrau“ kommt ihr nicht über die Lippen.
Im Streit zwischen Selbstbild und Fremdzuschreibung denkt Bettina Berger bei „Ostfrau“ vor allem in Bildern: „Pippi Langstrumpf und Ronja Räubertochter am FFK-Strand.“ Das stehe für eine „unbefangene weibliche Frechheit“ und die „große Schnauze am richtigen Fleck“. Genauso erzählt die 1967 bei Berlin geborene Pfarrerstochter von ihrem Leben. Es ist eine Geschichte voller Brüche. Nach der Schulzeit in Magdeburg durfte sie nur Theologie studieren und schmiss das Studium 1988. Dann kam die Wende und eine lange Phase der Orientierungslosigkeit. „Da war ich sehr verzweifelt“, erzählt sie. Ihr habe die Sprache gefehlt, ihre Bedürfnisse auszudrücken. So kamen Hausbesetzung, Ausbildung und Ausland, und letztlich dann doch ein Studium in Frankfurt (Oder). Seit dem Jahr 2001 arbeitet sie an verschiedenen Universitäten, erst in Hamburg, dann Bremen, aktuell an der Privatuniversität Witten/Herdecke. Dieser Weg war nicht vorgezeichnet.
Für die promovierte Kultur- und Gesundheitswissenschaftlerin steht zweiterlei fest. Erstens: „Denken durfte man im Osten nicht“, und zweitens: Gleichberechtigung der Frau hieß Familienarbeit plus Beruf. Aber auch im Westen ging vieles nicht. Hier kam mit dem ersten Kind ein Bruch in der Karriere, gleichzeitig durfte über Geld nicht gesprochen werden. Die Finanzierung ihres Studiums war ein jahrelanger Kampf.
Frauen aus Ostdeutschland trafen im Westen auf die Gesellschaft einer alten Bundesrepublik (Lesen Sie den Text auf S. 7), die beim Thema Gleichberechtigung im Erwerbsleben weit hinterherhinkte. Die geschlechtliche Arbeitsteilung war noch stark vom Alleinernährermodell mit dem in Vollzeit erwerbstätigen Mann geprägt.
Für Sabine Friedrich kam der erste „richtige Schock“ nach ihrer Ankunft im Westen, als die Vollzeitstelle das Überleben nicht sicherte. Irgendwann verstand sie, es lag nicht an ihr, der Beruf der Friseurin war schlecht bezahlt. „Das konnte ich gar nicht glauben“, erinnert sie sich, „dass ich von meinem erlernten Beruf nicht leben konnte.“ So verbrachte die alleinerziehende Mutter Nachmittage in der Stadtbibliothek und las Gesetzestexte. Sie informierte sich über ihre Rechte.
Dass Frauen und „Frauenberufe“ so schlecht bezahlt werden, war neu für Frauen aus dem Osten. Nach der Wende pendelte sich der Gender Pay Gap in Ostdeutschland ziemlich schnell bei verhältnismäßig niedrigen sieben Prozent ein, im Westen hingegen liegt die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern derzeit bei 21 Prozent. Ähnlich desolat stand es um die Kinderbetreuung als Voraussetzung für die Erwerbstätigkeit von sowohl Müttern als auch Vätern. Noch immer klafft zwischen der Kinderbetreuungsquote eine große Lücke zwischen Ost und West. Während in Bremen oder Baden-Württemberg nicht einmal 30 Prozent der Kinder unter drei Jahren in einer Kita betreut werden, sind es in Brandenburg oder Thüringen mehr als die Hälfte. Erst seit 2013, seit es den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung gibt, fand im Westen eine beschleunigte nachholende Entwicklung statt. Mit Folgen für die Erwerbsquote von Müttern junger Kinder. Die DIW-Studie zeigt, dass sich auch die Erwerbsquoten der westdeutschen Mütter seit der Wende langsam angenähert haben. Betrug der Unterschied zwischen West und Ost Anfang der neunziger Jahre noch 22 Prozent, liegt er seit ungefähr einem Jahrzehnt bei nur noch vier Prozent. Der unterentwickelte Westen holte etwas auf, kommt in Sachen Gleichberechtigung jedoch noch immer nicht an den Osten ran. 2019 arbeiten nur zwölf Prozent der Mütter kleiner Kinder im Westen Vollzeit, im Osten sind es 29 Prozent.
Sabine Friedrich hat inzwischen drei Berufsausbildungen, ihr Sohn promoviert. Mit Frauen aus Ostdeutschland komme sie dennoch anders ins Gespräch als mit westdeutschen Frauen, das geht auch Caroline Stachura und Bettina Berger so, das sei fast wie ein „geschwisterliches Verhältnis“.
Und das geht auch mir so. Viele Jahre lebte ich in den USA – auch dort lernte ich einige „Ostfrauen“ kennen. Man findet sich. Eine Freundin, die 1970 aus der DDR floh und seit 25 Jahren in Arizona lebt, erzählte mir, erst durch die MDR-Doku Ostfrauen habe sie verstanden, warum sie so ist, wie sie ist. Auf die Frage, ob sie Feministin sei, lachte sie. Nein, Feministin, damit könne sie nichts anfangen.
Und tatsächlich funktionieren Begriffe wie Emanzipation oder Feminismus oft in einem Denksystem, das sich am Mann orientiert. Nicht umsonst heißt es in der MDR-Doku, Ostfrauen „pfeifen auf Emanzipation, weil sie schon emanzipiert sind“. Der „Feminismus der Ostfrau“ ist also in westliche Sprache gepresstes ostdeutsches weibliches Selbstverständnis. Haben Frauen aus dem Osten Westdeutschland dadurch geprägt? Vielleicht. Zugleich hatten sie aber auch mit Ressentiments und Ablehnung zu kämpfen: Bettina Berger erzählt, viele Westdeutsche seien anfangs „erschreckend schnell“ darin gewesen, ihr ihren ostdeutschen Hintergrund abzusprechen. „Jetzt ist aber genug“, hieß es dann, „immer diese Geschichten!“ Dabei habe sie kaum über ihre Herkunft gesprochen. Dass man im Osten nichts konnte und dumm gewesen sei, diese Vorurteile, erzählt Sabine Friedrich, seien immer da gewesen. Doch diese Konflikte scheinen sich abgeschwächt zu haben. Heute sind sie nicht mehr so ausgeprägt.
Ein historisches Privileg
Natürlich, meint Sabine Friedrich, könne die junge Generation einiges von Frauen aus dem Osten lernen. Das Wissen, dass frau auch allein durchkommt, Eigensinn und Willensstärke zum Beispiel. „Es gibt Dinge im Leben, die mache ich nicht, wenn ich der Überzeugung bin, dass sie falsch sind. Da kann neben mir die Welt zusammenbrechen“, betont sie. Das sei „mitunter auch echt ein Fluch“, aber ändern werde sie sich nicht. Auch die Erfahrung, dass sich von heute auf morgen alles ändern und man selbst dazu beitragen kann, sagt Jana Fröbel, sei besonders.
Damit komme auch das Einsehen, fügt Caroline Stachura hinzu, dass „Verhältnisse nicht feststehen“ und man sich nicht hinter Strukturen verstecken kann. Wenn man die Frauen so reden hört, wird klar: Ostdeutsche Erfahrung ist auch ein historisches Privileg. Eines, von dem in den letzten 30 Jahren offenbar auch westdeutsche Frauen profitierten.
Wie also umgehen mit dem Namen Mandy? Dazu stehen. Komme, was wolle.
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