Heile, heile Gänsje ... in hundert Jahr' ist alles weg?

Fastnacht. Die Waffen nieder! Neulich habe ich, nach vielleicht dreißig Jahren, erstmals wieder eine bekannte Fastnachtsveranstaltung in Deutschland angeschaut. Es war schlimm.

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Neulich habe ich, nach vielleicht dreißig Jahren, erstmals wieder eine bekannte Fastnachtsveranstaltung in Deutschland angeschaut.

Es war schlimm.

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Diese Sendung brachte jedoch etwas in die Erinnerung zurück, das ich hier teilen will.

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Meine Oma mütterlicherseits, Babette, stammt aus Rheinhessen, mit starker Affinität zum urbanen Mainz. Da wo ich aufwuchs, war daher der Mainzer Karneval, der MCC und der MCV, und vor allem der ‚singende Dachdeckermeister‘ Ernst und sein blinder Kompagnon Toni fast so gegenwärtig wie die Frankfurter Eintracht, die damals die Rangers aus Glasgow 6:1 abgezogen hatte.

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Kurz vor einer der im westdeutschen Fernsehen gezeigten MCV-Kappensitzungen hatte Babette einen neuen Fernsehapparat gekauft, einer der wenigen im Dorf, und ihre Freundinnen, mit denen sie sich des Öfteren zum gemeinsamen ‚Singsang mit Kaffee und selbstgebackenen Plätzchen‘ traf, zur Übertragung eingeladen.

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Da saßen sie nun in der guten Stube meiner Großmutter, vor dem Schwarzweißgerät, während ich in ihr angrenzendes Schlafzimmer verfrachtet worden war, jedoch bei offengelassener Schiebetür, so konnte ich dem Geschehen auf Bildschirm und im Zimmer gut folgen.

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Da saßen Sie nun, mit zwei Ausnahmen allesamt bereits jung zur Kriegerwitwe geworden, fast vollständig dunkel gekleidet, mit schwarz gehäkelten oder gestrickten Röcken, Westen, Tüchern, Umhängen, Kopftüchern.

Babette, Dora, Mathilde, Frieda, Waltraud, Hildegard, Lisbeth und die anderen.

Ein Dutzend Frauen, nicht mehr unter den jungen, aber in den besten Jahren.

Gestandene Landfrauen.

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... und das Lied.

Da kam er auf die Bühne, der Ernst, vor uns auf dem Bildschirm. Solide gebaut, Lederschürze, weißes Hemd, die Ärmel hochgekrempelt; und er sang. Und er sang, ohne viel karnevalistisches Lametta, ohne viel Schau und ohne Firlefanz:

„Heile, heile Gänsje, es ist bald wieder gut …“

Bei der zweiten Strophe fingen die ersten in der Stube an zu schluchzen, andere begannen leise zu weinen, bei der vierten Strophe, nach dem Refrain

„in hundert Jahr‘ ist alles weg“

brach der Damm bei allen.

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Da saßen sie nun, am schweren Holztisch, mit dem angefangenen Kirschkuchen, den blauen China-Tassen, halbvoll mit Bohnenkaffee, und den angebrochenen Flaschen Klosterfrau Melissengeist, und heulten Rotz und Wasser.

Da saßen sie nun und weinten, und schluchzten, und lachten und heulten, und reichten sich gegenseitig die Tücher. Und sprachen von ihren Männern, die es seit dem Krieg nicht mehr gab:

... mein Adam, mein Walter, mein Karl, mein Ludwig, mein Emil, mein Schorch … und die anderen.

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Und sie sprachen von dem, was sie hatten tun wollen, in ihren Leben, zusammen, sie und ihre Männer.

Bevor der Krieg kam und diese Leben gingen.

Und sie weinten und lachten und heulten und trockneten den Fluss mit den großen Tüchern

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Der Fernseher lief, grau-in-grau Geflimmer, aber sie schenkten ihm keine Beachtung mehr.

„Helau“, rief es aus dem Elferrat.

Im Nebenzimmer, auf der Bettdecke meiner Oma, lag ich, leer und zum Platzen voll zugleich, überrollt durch die Dampfwalze von dem, was da vor mir abgelaufen war.

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Die Waffen nieder!

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Referenzen:

Mainz

Mainz 45

Der singende Dachdecker

Bistum MZ

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Geschrieben von

man.f.red

„Wenn einer, der mit Mühe kaum, gekrochen ist auf einen Baum, schon meint, daß er ein Vogel wär, so irrt sich der.“ ... permakultur@startmail.com

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