Zum ersten Mal in einem Film erlebt habe ich ihn 1980, als Teenager. In Kurt Gloors Der Erfinder spielte Bruno Ganz Jakob Nüssli, einen Tüftler, der während des Ersten Weltkrieges ein Raupenfahrzeug entwickelt, ein Fahrzeug, das „die Straße immer an den Rädern mit sich trägt“. Um seinen Traum zu verwirklichen, schneidet er sich sogar einen Daumen ab, um mit der Versicherungssumme weiter an dem Projekt arbeiten zu können. Als er in einem Wochenschau-Stummfilm sehen muss, dass die Engländer bereits mit Raupenfahrzeugen in den Krieg ziehen, bricht seine Welt zusammen. Der Moment dieser Erkenntnis ist ein typischer Augenblick im Werk dieses wundervollen Schauspielers. Es passiert eigentlich gar nicht viel. Seine großen, von markanten Augenbrauen noch stärker hervorgehobenen Augen wirken noch etwas größer, sind nun wie Fenster zum schutzlosen Innersten eines genialen Einzelgängers, mit dem ich bis dahin in jeder Szene mitgefiebert hatte. Nun fühlte ich mich dieser Figur näher denn je.
Schweizerischer Neorealismus
Womöglich ist das Erschaffen und Zulassen von Nähe eines der Geheimnisse des Werkes von Bruno Ganz. Sich den Figuren eher über den Intellekt nähernd, schafft er es, diese vordergründige Distanz auf der Leinwand in größtmögliche Identifikation zu übersetzen. Mitunter hebt er dabei das Publikum kurzerhand auf sein eigenes Niveau von Intelligenz und Sensibilität.
Geboren am 22. März 1941 in Zürich, zieht es den Sohn einer Italienerin und eines bäuerlich geprägten Schweizers schon mit Anfang 20 in die Theater der BRD. Das Gymnasium verlässt er für die Schauspielschule, die Schauspielschule dann für das erste Engagement in Göttingen. Davor spielt er in Kurt Frühs Es Dach überem Chopf seine erste größere Nebenrolle in einem Film. Damit wirkt er in einem späten Beispiel des „schweizerischen Neorealismus“ mit, einer der interessantesten Phasen des Schweizer Films. Nach Göttingen wird er von Kurt Hübner entdeckt und nach Bremen engagiert, wo er auf Peter Stein trifft, der seine Diktion liebt, gerade weil er „kein Hochdeutsch sprechen kann“. Tatsächlich verleiht die minimale Färbung des schweizerdeutschen Dialekts seinen Figuren eine besondere, verfremdende Note.
Mit Peter Stein entwickelt sich Bruno Ganz zu einem regelrechten Sprachdurchdringer. Jede Betonung wird besprochen, jeder mögliche Sinn ausgelotet. Sehr schön wird das sichtbar in Steins Faust-Inszenierung. Dieses Sprachverständnis ermöglicht da fast nahtlose Übergänge vom höchsten, innerlichsten Gedankenstrom zum reinen Kalauer und zurück. Ich sah diese Inszenierung nur im Fernsehen auf 3sat, blieb jedoch staunend dabei hängen. Staunend darüber, dass es möglich war, solche sprachliche Genauigkeit und Finesse in dieses so sprachvergessene Medium zu schmuggeln.
Das Schmuggeln gehört vielleicht ebenfalls zu seinen Geheimnissen. Da taucht immer mal wieder eine unerwartete Verschmitztheit in seinem Blick auf, ein Schalk, der die eben noch ausgestellte Dramatik unterläuft. Eine Methode, die gerade im Theater zu höchst spannenden Reibungen führt. Von Peter Stein führt der Theaterweg dann ohne Schnörkel zu den in den 70er, 80er und 90er Jahren wichtigsten Regisseuren. Claus Peymann, Klaus Michael Grüber, Luc Bondy. Die Hochblüte der Schaubühne, mit unsterblichen Stars wie Jutta Lampe, Edith Clever oder – dem anderen großen Schweizer Exilanten – Mathias Gnädinger, ist ohne Bruno Ganz nicht denkbar. Theater wird da als Brücke der Vergangenheit in die Gegenwart gedacht, und es verwundert irgendwie nicht, wenn Bruno Ganz später erklärt, dass ihm das aktuelle Theater „weggerutscht“ sei.
Ab den 70ern dann das – von Beginn an – europäisch internationale Kino. In Wim Wenders findet er den kongenialen Regie-Partner, der seine Melancholie, seinen Humor und Witz (im Sinne von Gewitztheit) im Amerikanischen Freund und später im Himmel über Berlin perfekt zur Entfaltung bringt. Nun ist die Tür zum internationalen Filmgeschäft weit geöffnet. Selbst kurze Auftritte adeln die jeweiligen Filme, verleihen ihnen, wie etwa Unknown Identity oder The Counselor, einige überraschende Augenblicke von echter Menschlichkeit zwischen unwirklichem Thrill und abstoßender Gewalt. Dass er daneben in Filmen wie Michael Kohlhaas von Arnaud des Pallières oder Sophie Heldmans Satte Farben vor Schwarz auftritt und damit diesen ambitionierten Arthouse-Projekten zu einem größeren Publikum verhilft, spricht für ihn und seine sowohl persönliche wie auch darstellerische Durchlässigkeit.
Er adelte selbst Actionfilme
Die Todesnachricht nun erschütterte mich überraschend heftig, ähnlich wie seinerzeit die von David Bowie. In beiden Fällen fühlt es sich an, als sei ein besonders geliebtes Familienmitglied zu betrauern. Im Fall von David Bowie als popkultureller Ikone ist das vielleicht nachvollziehbar, im Fall von Bruno Ganz scheint es weniger verständlich. Es ist wahrscheinlich diese Nähe, die er dem Publikum zu seinen Figuren gewährt, die mich seit jenem Mittwochnachmittag begleitet; als im halb leeren Kino Der Erfinder gezeigt wurde. Diese Nähe, die mich künstlerisch erzogen hat, indem sie mir zeigte, was einen gelungenen Film ausmacht, was jenseits aller Effekte möglich ist. Insofern ist Bruno Ganz eine Art Vater für mich. Seine Filme aber, mitsamt dem unverwechselbaren Timbre seiner Stimme, sind in der Welt und werden mich immer daran erinnern, was ich am Kino liebe.
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