Von meinem Wohnzimmer aus habe ich einen guten Blick auf die Fensterfront des Hauses gegenüber. An manchen Abenden entspinnt sich hinter den Scheiben eine Alltagschoreografie, ein Ballett unaufgeregt beiläufiger Verrichtungen, dargeboten für mich allein. Denn nur ich kann eine Verbindung herstellen, sagen wir, zwischen dem dicklichen Mann in Unterwäsche im dritten Stock links, der sich ein Spiegelei am Elektroherd brät und dafür just in dem Moment zur Holzkelle greift, in dem die dunkellockige Frau schräg oben im vierten Stock den Deckel ihres Klaviers anhebt, um ihre abendliche Klavierroutine – Tonleitern, kleine Fugen, gefolgt seit Monaten schon von Schumanns Dichterliebe – zu beginnen. Zahllose dieser Szenen habe ich bereits beobachtet, Geschenke des Zufalls an mich, von beredt schweigsamer Eleganz.
Ein beständiger Fixpunkt findet sich im zweiten Stock rechts. Dort sitzt Karsten Krampitz, 44, seit rund zwei Jahren mit geradezu furchteinflößender Regelmäßigkeit an seinem Schreibtisch, den er direkt unter das Fenster seines Wohnzimmers gestellt hat, und schreibt. Natürlich kennen wir uns aus der gemeinsamen Stammkneipe (Erdgeschoss, an der Ecke links), und ich wusste schon bald nach meinem Einzug, dass er sowohl an einer Doktorarbeit als auch an einem Roman schreibt. Ein Schriftsteller und Gelehrter also.
Sein wieselflinker Fleiß, dieses muntere Schleifen aller Schreibblockaden – wenn sie denn überhaupt vorhanden sein sollten –, seine Fähigkeit zu ungebrochener Konzentration verursachten mir Gewissensbisse. Mir, einem leidlich disziplinierten, zu längeren, nur vermeintlich kreativen Pausen neigenden, allerlei Trivia verpflichteten Drehbuchautoren. Der Mann von drüben tat vor meinen Augen, was ich eigentlich auch tun müsste, und er tat es mit bewundernswerter Konsequenz. Ich stellte meinen Schreibtisch erst mal in die hintere Ecke des Arbeitszimmers, damit Fenster und Häuserfront aus meinem Blickfeld verschwanden.
Die Kneipe unten links
Dank der gegenseitigen Stammkundschaft in der Eckkneipe war ich dennoch gut informiert über den jeweiligen Stand von Karsten Krampitz’ Schreibarbeiten. Unten wurden Titelgebung oder der komplette Umbau des Prosawerks besprochen (und beklagt), oben dann wieder unerschrocken daran gearbeitet. Wasserstand und Tauchtiefe war, auch aufgrund meiner Ermunterung, bald als Titel des Romans festgelegt, der komplette Umbau des Werks, nach langen Gesprächen mit der Lektorin des Verbrecher-Verlags, bedurfte noch einmal einer halbjährigen Schreibphase. Mit diesen direkten Einblicken in die Arbeitswelt der Schriftstellerei gesellte sich bei mir zum Neid die Bewunderung. Karsten Krampitz arbeitet nicht nur konzentriert, er arbeitet auch hart. Ein Profi eben.
Nun liegt der Roman vor (ich verschlang das signierte Exemplar sogleich), und die Doktorarbeit wird bald folgen. Erstaunlich ist es, den redseligen, in Sarkasmus getränkten Spott Krampitz’, den ich von der Theke gut kenne und der da manche Gespräche beflügelte und würzte, nun nahezu ungebrochen und unverstellt im Roman wiederzufinden. Bereichert von einer überraschend tiefgreifenden Emotionalität, die in erfrischendem Kontrast zur Eloquenz des Witzes steht, der, allein ausgespielt, das Werk zur gefälligen Satire degradiert hätte.

Krampitz erzählt von einem Sohn, der seinen pflegebedürftigen Vater umsorgt, auch um von dessen Pflegeversicherung mitversorgt zu werden. Beim Waschen, Nähren und allgemeinen Herumfahren im Rollstuhl innerhalb eines fiktiven, an Tristesse nicht zu überbietenden Ostberliner Vororts, entspinnt sich ein langer, an diesen stummen Vater gerichteter innerer Monolog und Gedankenstrom. Eine Abrechnung, nicht nur mit dem Vater, auch mit dem Land, das dieses Gespann geprägt hat, der DDR. Wer jetzt gelangweilt abwinkt, darf sich von diesem Text überraschen lassen und augenreibend zur Kenntnis nehmen: Die Episode DDR in der deutschen Geschichte ist noch nicht auserzählt.
Nach all den feingedrechselten Familien-Epen mit ihren klaren Plots und Frontverläufen können die Grenzen nun verschwimmen. Die Familie ist bei Krampitz schon zu Zeiten der Hochblüte der DDR, zerbrochen, ganz ohne die üblichen Fronten. Der Vater war Bürgermeister des nach einem von den Nazis ermordeten KPD-Funktionär benannten Orts, der Sohn opponierte weniger aus intellektuellem als aus jugendlichem, vom Punk der frühen 80er Jahre geprägten Furor gegen den kleinbürgerlichen Mief. Eine Konstellation, die in der westlichen Provinz genauso anzutreffen war. Die Mutter verabschiedete sich bei Krampitz früh mit der Trunksucht aus dem familiären Kontext. Einzig eine Schwester geistert als wohlgeratene Wendegewinnerin an der Peripherie dieses Familienrudiments herum und spiegelt wider, was aus dem Sohn hätte werden können, wenn er denn … ja, was? Wenn er dieser Wende nicht genauso skeptisch gegenübergestanden hätte wie dem Arbeiter-, Bauern- und Kleinbürgerstaat. In der Beschreibung ebendieser Kleinbürgerlichkeit gelingen Krampitz mit die besten, von feiner Boshaftigkeit durchzogenen Preziosen, und hier offenbart er auch seine beachtlichen Ortskenntnisse.
Der Vater als entfesselter Untertan von wilhelminischer Willfährigkeit, das schlichte Gemüt von nicht angemessener Größe umflort. Ein Bild, das ins Mark der rätselhaften Stabilität dieses Staats trifft. Da Personen, die aus der von der Obrigkeit fein austarierten Durchschnittlichkeit herausragten, ausgebürgert wurden, im Gefängnis landeten, mundtot gemacht wurden oder flohen, blieb eine kleinbürgerliche Elite des Mittelmaßes. Der stabilste Kitt für eine solide Demokratur.
Dass es dieser Menschenschlag – gern und nahezu ausschließlich von Männern verkörpert – heute in Ländern wie Ungarn, der Türkei oder Russland zu nachhaltiger Regierungsgewalt bringt, zeigt, dass eine pluralistisch ausdifferenzierte Gesellschaft noch lange nicht fertig ist mit ihm. Sollte Marine Le Pen eines Tages Präsidentin werden, hätte es auch die Damenwelt gleichberechtigt zu höchsten Weihen in der Disziplin Machterfülltes Spießertum gebracht.
Nun schiebt also dieser Sohn seinen Vater durch die Einöde, redet auf ihn ein, springt assoziativ in den Zeiten und folgt einzig der Logik aufblitzender Erinnerungen. Krampitz gelingt es so, ein multiperspektivisches Bild nicht nur dieser problematischen Vater-Sohn-Beziehung, sondern auch des untergegangenen Landes zu zeichnen.
Krisenjahr 1976
Der nächste Streich von Karsten Krampitz wird diese Erinnerungsarbeit auf eine weitere Ebene hieven. Die Doktorarbeit des Historikers über das Verhältnis von Kirche und Staat in der DDR wird, ebenfalls im Verbrecher-Verlag, im Frühjahr 2015 herauskommen. Ausgangspunkt ist die Selbstverbrennung des Pastors Oskar Brüsewitz 1976. Im Spannungsfeld der Diffamierung als Geisteskranker (DDR) und Überhöhung als Märtyrer (BRD). Krampitz arbeitet dabei heraus, dass weniger Brüsewitz’ Akt die Bevölkerung in der DDR aufrüttelte, als vielmehr der Umgang der Staatsmacht damit. Krampitz wertete Hunderte von Protestschreiben an Kirchenleitung und die offiziellen Organe wie Neues Deutschland und Neue Zeit aus. Zusammen mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns und dem Hausarrest von Robert Havemann entsteht so das Bild eines regelrechten Krisenjahrs 1976. Die Staatsmacht agiert hier, inmitten der so gern als Hochblüte verklärten Honecker-Ära, genauso hilflos repressiv wie 1953 und 1961. Auch in diesem Fall schafft es Krampitz, durch einen multiperspektivischen Blick ein vermeintlich vollständig erschlossenes Themenfeld in einen neuen Kontext zu stellen. Gegen die Doktrin: „Das wissen wir jetzt, das müssen wir nicht mehr beachten, das können wir vergessen.“ Für Krampitz hat jede Generation ihr eigenes Recht, Vergangenes neu zu erzählen und zu werten. „Vergessen wollen verlängert das Exil. Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“, schrieb der jüdische Rabbi Baal Shem Tov (1698 - 1760). Krampitz‘ Leitmotiv lautet: Zukunft braucht Herkunft.
Wasserstand und Tauchtiefe Karsten Krampitz Verbrecher Verlag 2014, 208 S., 19 €
Damit eckt er immer wieder an, gerade in der Linkspartei, der er leidenschaftlich zugetan ist. In einer Schrift zum Gedenken an Erich Mühsam kritisierte er neulich die verkopfte Programmatik der Nach-Wende-Linken und rückte ihre Fetischisierung des gepredigten Worts und ihre Verehrungshierarchie in die Nähe des Protestantismus. „Menschen identifizieren sich mit Erzählungen, nicht mit Programmen.“
Mit der Linkspartei streitet Karsten Krampitz, in alter anarchistischer Tradition, lustvoll und fintenreich. Unvergessen ist mir, wie er mich einmal zwang, der Emanzipatorischen Linken beizutreten, um einen Flügelkampf um die Veröffentlichung eines Buchs per Mitgliederabstimmung für sich zu entscheiden. Ebenso unvergessen die Einblicke in die damalige Debattierfreudigkeit und Streitlust dieses Diskurskorridors der Partei. Seitenlange Pixelwüsten wurden da verschickt, die sich um einzelne Formulierungen einzelner Funktionäre in Papieren oder Reden drehten. Zersetzend, selbstquälerisch, lähmend, profilneurotisch, ideologisch verbohrt und – ja – leider auch sehr deutsch. Ein Fest für politische Gegner jeglicher Couleur. Auch dank Krampitz’ Einfluss hat sich die „Ema.Li“ von der Karriere-Erwerbsgemeinschaft, wie er es nennt, in eine Gemeinschaft von Komplizen gewandelt und ist nun eine anerkannte innerparteiliche Strömung.
Zurück ans Fenster. Während in den Wohnungen um Krampitz herum die Nachbarn ihren Alltag in ahnungsloser Eleganz bewältigen, kommen an seinem Schreibtisch die Geschichtsbruchstücke zusammen und fügen sich zu einem alternativen Geschichtsbild. Von der kurzen Morgenröte der Münchner Räterepublik, in der Erich Mühsam eine wichtige Rolle spielte, und über den Krampitz alles weiß, bis zum ambivalenten Verhältnis von DDR-Staat und Kirche (jenseits der Freiheits- und Dissidentenfolklore von Gauck und Merkel) schafft er erhellend Zusammenhänge, wo die konforme Geschichtsschreibung sie lieber verschleiert. Seine Arbeit ist noch lange nicht abgeschlossen. Auf dass uns Angst, Ignoranz und die vom Neoliberalismus so gern gesehene Selbstvergessenheit nicht in ein neues Exil vertreiben.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.