Der Schnellzug hält hier nicht

Spanien Auf die Polizei wartet man ewig, der letzte Kinderarzt ist schon fort: Die Provinz Soria stirbt allmählich aus
Ausgabe 28/2019
Während eines Weidewechsels kann es durchaus auch in Soria zu größeren Ansammlungen kommen
Während eines Weidewechsels kann es durchaus auch in Soria zu größeren Ansammlungen kommen

Foto: Carlos Sanchez/Imagebroker/Imago Images

Im Vorjahr wurde im Bergdorf Villar del Rio die Apotheke geschlossen. Felder, Berge und Wiesen umgeben eine Ansammlung von Häusern in der Provinz Soria, die in der Autonomen Region Kastilien und León im Nordosten Spaniens liegt. Die Luft hier ist sauber und anders als in der Großstadt. Und ganz anders als dort gibt es hier nun keine Medikamente mehr. Montags, mittwochs und freitags kommt eine Reiseapotheke aus dem 15 Autominuten entfernten Nachbardorf vorbei und öffnet für jeweils eine Stunde. Doch wer eine spezielle Verschreibung hat, muss mit dem Auto in die 45 Kilometer entfernte, gleichnamige Provinzhauptstadt Soria fahren.

Verständlich, dass in dieser Gegend das verlassene ländliche Spanien ein Topthema ist, handelt es sich doch mit Soria um die am wenigsten besiedelte der 50 spanischen Provinzen. Landesweit leben 90 Prozent der Bevölkerung auf nur 30 Prozent des Territoriums, bevorzugt werden die Metropolen Madrid und Barcelona. In Soria dagegen leben pro Quadratkilometer gerade einmal etwas über acht Einwohner. Wie kam es dazu, und was bedeutet dieses Gefälle bei der Besiedlung für die ländliche Bevölkerung?

Sammeltaxi Krankenwagen

„Ich war schwer erkrankt und musste für die Behandlung jeden Tag mit dem Auto anderthalb Stunden in die nächstgrößere Stadt Burgos fahren“, erzählt Loli. „Es gab die Möglichkeit, mit einem Krankenwagen transportiert zu werden, aber der ist wenig komfortabel und funktioniert außerdem wie ein Sammeltaxi“, erklärt sie. „Es dauert ewig, bis alle abgeholt und wieder heimgebracht werden.“ Die Journalistin hat braune Locken, strahlende Augen und drei Handys mit drei verschiedenen Netzanbietern. Das sei notwendig, damit sie überhaupt erreichbar sei, hier draußen auf dem Land.

Die Sorianer treffen sich zum Aperitif in einer schmalen Bar. Es gibt Wein vom benachbarten Gut, dazu Oliven und Chips. Im Hintergrund läuft ein Fernsehgerät. Jungen und Mädchen quetschen sich zwischen den Beinen der Erwachsenen durch, die gedrängt zusammenstehen und sich austauschen. Keine Frage, die Sorianer haben Angst. Schon jetzt gibt es keinen Kinderarzt mehr und zu wenige Anästhesisten. Die Gesundheitsversorgung ist bei Weitem nicht das Einzige, an dem es hier in Soria mangelt.

Mit dem Zug lassen sich nur noch zwei Direktverbindungen aus der Provinz heraus nutzen. Beide in das 230 Kilometer entfernte Madrid. Ein Zug fährt morgens um acht, der andere abends um 19 Uhr. Gebraucht werden für die Strecke drei Stunden. In das 200 Kilometer entfernte Valladolid, wo sich der Regierungssitz der Region Kastilien und León befindet, kommt man mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur über den Umweg Madrid und braucht für die Reise insgesamt bis zu sieben Stunden. Der Hochgeschwindigkeitszug AVE fährt an Soria vorbei.

Das beste Verkehrsmittel, um diesem Desaster zu entkommen, ist ein eigenes Fahrzeug, denn seit drei Jahren existiert eine Autobahn. Aber auch sie führt nur nach Madrid. Eine zweite Trasse entlang des Dueroflusses, der nach Westen in Richtung Portugal fließt, ist seit 30 Jahren im Bau und hat es bisher lediglich auf eine Ausdehnung von gut 20 Kilometern gebracht. Deshalb nutzt man in Soria die Bundesstraßen, die durch die Felder führen, allerdings belastet durch den Umstand, dass es im Schnitt zu mehr als drei Unfällen mit Wildtieren pro Tag kommt. Der 39-jährige César Benito erzählt, dass er nach der Kollision mit einem Reh, das plötzlich die Piste queren wollte, eine Stunde auf die Polizei warten musste. Es seien in der Provinz einfach zu wenige Streifen unterwegs.

Fördergelder versanden

Fördergelder kämen nicht wie versprochen an, sagt Maria Fernandez Vicente von der Föderation der Wirtschaftsverbände in Soria. Ihr zufolge habe die Region Kastilien und León seit dem EU-Beitritt Spaniens in den 1980er Jahren mit die größten Mittel aus dem Regional- und Kohäsionsfonds erhalten. „Die Gelder waren für Infrastrukturprojekte gedacht, aber offensichtlich nicht für Soria, sonst müsste man das irgendwo sehen können.“ Und auch aus den nationalen Kompensationsfonds habe die Provinz nur 0,7 Prozent abbekommen.

Mercedes Molina, Professorin für Humangeografie an der Universität Complutense in Madrid, erklärt das mit unreflektierter Politik: „Die Verantwortlichen investieren dort, wo das Bruttoinlandsprodukt und das Pro-Kopf-Einkommen am größten sind – in den Industriezentren rings um die Großstädte.“ Für die ländlichen Gegenden heißt das: keine Investitionen, keine Infrastruktur, keine Unternehmen, keine Arbeitsplätze, keine jungen Menschen – überhaupt keine Menschen mehr. Andersherum kommen auch keine Unternehmen nach Soria, weil es keine Arbeitslosigkeit gibt. Die Leute suchen gar nicht erst nach Jobs, sie gehen gleich weg.

Wer ausharrt, der will, dass seine Kinder bei ihm bleiben, dass Talente nicht verloren gehen und somit auch das wortwörtliche Aussterben der Provinz verhindert wird. Ein Viertel der Bewohner ist heute älter als 65 Jahre. Die Menschen sehen sich von der Politik auch deshalb ignoriert, weil sie bei nationalen Wahlen einfach zu bedeutungslos sind. Derzeit stammen nur zwei Abgeordnete für das Nationalparlament aus der Provinz Soria. Davon gehört einer traditionsgemäß zum konservativen Partido Popular (PP) und der andere zur Sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens (PSOE). Die jungen Parteien Ciudadanos (rechtsliberal) und Podemos (linksprogressiv) hatten auch bei den jüngsten vorgezogenen Parlamentswahlen Ende April keine Chance.

Paradoxerweise führt eine Politik, die sich bevorzugt dem Leben in den Städten widmet, dazu, dass auch dort gelitten wird. Die Madrider Humangeografin Mercedes Molina spricht von der hohen Luftverschmutzung, von den nicht einzudämmenden Spekulationen am Wohnungsmarkt und vom vereinsamten Großstädter.

Die 31-jährige Miriam Andres ist aus ebendiesem Grund nach Soria zurückgekehrt, wie sie erzählt, um der Anonymität des urbanen Milieus zu entkommen. Miriam hat Historische Archäologie in der Hauptstadt studiert und danach in Salamanca gearbeitet. „Aber auf dem Land kann ich atmen, hier kann ich mit der Familie zu Mittag essen und habe mehr Zeit zum Leben“, sagt sie. „Meinen Freund habe ich in Madrid kaum gesehen, obwohl wir zusammengewohnt haben.“ Die angehende Professorin mit den kurzen braunen Haaren ist die neue Sprecherin der Bürgerbewegung „Soria ¡YA!“, was übersetzt ins Deutsche etwa „Soria, jetzt!“ heißt. Sie setzt sich für eine nachhaltige Entwicklung der Provinz ein.

Am 31. März dieses Jahres hat Miriam Andres eine Großdemonstration in Madrid organisiert, weil die Landbevölkerung auf sich aufmerksam machen wollte. Dafür führen die Sorianer mit 64 Bussen und 165 Zugtickets in die Hauptstadt, finanziert von der Lokalregierung, die je 3.000 Euro für sechs Busse spendierte, während mehr als 80 Unternehmen den Rest bezahlten. Es gab für jeden Teilnehmer ein Frühstück, bestehend aus einen Becher Milch und einem Butterbrot, dazu Kaffeepulver. Und es gab Luftballons, Aufkleber und ausreichend Wasser für alle. Probleme können verbinden. Und sind sie groß, dann schert das nicht weiter und alle ziehen an einem Strang.

Diese neue Gemeinschaft zeigt sich auch mit der historischen Festwoche, die gerade in Soria stattfindet. Leute spazieren in mittelalterlicher Verkleidung zwischen den bunten Häusern mit den französischen Balkonen umher, ein Feuerwerk erhellt den nächtlichen Himmel. Im Stadtkern neben der Tiefgarage ist eine Fotosammlung für Passanten ausgestellt. Die Sorianer legen Wert auf Kultur. Große Kinos, weltberühmte Kunstwerke oder DJs, das gibt es hier nicht, dafür trifft man sich in Buchclubs und diskutiert über Geschichten. Oder man nutzt die Ruhe, um selbst Kunst zu schaffen. So wie der 42-jährige Javier Arribas.

Der Künstler wohnt in einem Steinhaus an der Bundesstraße, die Soria mit der nächstgrößeren Stadt Burgos verbindet. Er zeigt seine Werke in Madrid, Barcelona, Salamanca und unterrichtet an der Universität. Aber leben will er hier, auf dem Land, in dem Dörfchen Cidones. Überquert er die Straße, ist er umgeben von Weiden und Bächen. Vor ihm unterbricht ein Berg die Ebene. Arribas liebt diese Gegend, denn hier gebe es keine Ablenkung. Seine drei Töchter wohnen mit der Mutter in der Stadt, der Künstler selbst hat sich einen alten Stall modern umgebaut. Draußen gackern die Hühner, drinnen knackt abends der Kamin. Arribas versucht sich als Selbstversorger, auf ein öffentliches Versorgungsnetz kann er sich nicht verlassen.

Immer wieder gibt es kurzzeitig Stromausfälle, die nicht nur das Licht, sondern auch die Arbeit am Computer unterbrechen und schlimmstenfalls alles bisher Angefertigte zurücksetzen. Die Digitalisierung hat Javier Arribas das Landleben nur theoretisch ermöglicht, die Politik steht der praktischen Umsetzung im Weg. So muss Arribas beispielsweise das teuerste Paket für Internet und Telefon zahlen, denn es gibt nur einen Anbieter in der Region, und der hat ein Quasi-Monopol.

Mit ihrem Protest im März haben es die Sorianer geschafft, auf ihre Auszehrung aufmerksam zu machen. Zumindest im Wahlkampf jüngst wurde das Sterben der spanischen Dörfer aufgegriffen. Die Organisatoren wissen, dass der Zeitpunkt günstig ist, weil auch in anderen Ländern Europas die Landflucht ein immer drängenderes Problem wird. Das Europäische Parlament hat gefordert, dass die Mitgliedstaaten fünf Prozent der verfügbaren Fördermittel in ländliche Regionen investieren. In Spanien reichen die Vorschläge von Steuervorteilen für Leute, die auf dem Land leben, bis hin zur Ausstattung des ländlichen Raumes mit autonomen Fahrzeugen. Bis tatsächlich etwas passiert, müssen die Sorianer weiter gut planen, wann sie krank werden.

Maren Häußermann ist freie Korrespondentin in Spaniens Hauptstadt Madrid

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