Sie zog den engen Blumenkittel über die Knie, bestieg das Fahrrad und radelte in den See. Bis man sie nicht mehr sah. Bis die letzten ihrer schlohweiß zu Berge stehenden Haare vom eiskalten Wasser aufgenommen wurden, um in den nächsten Jahrmillionen Dolomitgestein zu werden.
Sie radelte durch die Berge, die sich auf dem See spiegelten. Hinterließ eine kleine Fahrrinne, brachte die Berge in Seenot, in kleinen Kreisen, die Steine am Ufer benetzend, bis alles wieder ruhig war.
Ich habe sie gesehen. Wie sie keinen Blick zurückgeworfen hat. Ihren blaublumigen schmalen Rücken einer alten Frau mit großem Appetit, die Hände zierlich schmal, mit eleganten Altersflecken überzogen, eine blaue Zwetschke nach der anderen auseinandernehmend, entkernend und ab in die Verdauung, genau vier Stunden, bevor sie in den See geradelt ist, den Radlsee.
Vor den Zwetschken aß sie, und wir mit ihr, Zwetschkenknödel, wie im Sommer oft, einen nach dem anderen, mit brauner Butter überzogen, und Zimt. Als Kinder aßen wir sie um die Wette, zwölf, der Rekord. Gezählt haben wir sie nicht die Knödel gestern. Hätt ichs gewusst, ich hätte die Knödel gezählt, waren es doch die letzten. Dann machten wir uns fertig für den Berg, weil immer - gleich nach der Reise aus der Stadt - dem meist geliebten Menschen zuerst der See gezeigt wird, dann die Alm, Gipfelkreuz später. Sie blieb sitzen, winkte uns nach, mit einer halben Zwetschke in der Hand.
Am See fing ich an, von Filomena und ihrem Verlobten zu erzählen, der in den See geradelt war und nicht mehr wiederkam. "Eines Tages radelt sie ihm nach." Der See hat einen Trichter, der Verlobte in die Tiefe zieht, eine blaue Schürze hatte er als Badehose um, wie alle in der Zeit, und sein letztes Wort war "Filomena". Dann fraß ihn der Trichter und zog ihn durch den unterirdischen Kanal zum Turnholzer See, wo manches wieder herausfindet, was am Radlsee hineinfällt. Aber nicht immer. Zuerst war es ein Rad, das Wagenrad eines Leiterwagens.
Der See hat viele verschluckt, das sagt man, und er schimmert in so vielen Farben, wie er Verlobte verschluckt hat. Und jeder, der auf den See sieht, erblickt einen Verlobten - oder er erzählt von ihm, bis ein weiteres Auge auf den See sieht und einen Verlobten erkennt, der vergeht, wie nur der erste meist geliebte Mensch vergeht, nämlich für immer und doch nie wirklich.
Gegen fünf waren wir auf dem Mond: Flach, und doch fast unbegehbar, von Löchern und kleinen Hügeln überzogen, an seinen felsigen Rändern abstürzend ins Leere, wie der Mond. Der Mond hat vom Mond seinen Namen, vielmehr: vom Mond, wie jeder ihn sich denkt. "Wie am Mond", sagt jeder, als hätte er schon oft dort gestanden. Und sollte er jemals auf dem Mond sein, wird er an den Almacker denken, weil er dort immer dachte, auf dem Mond zu sein. Wir kauten an Grashalmen, lagen auf dem Rücken, die Sonne trocknete Schweiß zu weißen Rändern. Ich drehte mich auf den Bauch und suchte nach einem Wunder für dich. Eine kleine blaue Glockenblume, hellblau zart und doch robust wie alles, was hier wachsen will. Das Wunder ist nicht eigentlich gebunden an eine Blume nur. Ein Wunder ist jedes Pflanzengewächs, vor dem Mutter jemals halt machte, in die Hände klatschte und sagte: "Schau dir dieses Wunder an." Vater sieht Wunder nur am Gipfel, doch da sie dort zertrampelt sind, sieht er meistens keine. "Hirnriss" nennt ihn dafür meine Mutter, weil er an den Wundern vorbeiflitzt, um am Gipfel keine zu sehen. Gipfel, die ihr zu geschwätzig sind und doch einsilbig, weil immer die gleiche Geschichte von Triumph und Eroberung - und Mitleid. Mit dem Waldsterben begann auch das Mitleid für die Gipfel, die immer weiter abbröckeln. "Eines Tages wird es keine Gipfel mehr geben, wenn alle draufwollen", sagen die, die draufstehn, und ich beginne ein Leben zu rechnen, dreißig, vierzig, achtzig Jahre, während Filomena in Jahrmillionen weißes Dolomitgestein bildet.
Es wird riechen wie ein kleiner Welpe aus dem Mund, milchig süß, unter den Achselhöhlen verschwitzt. So hat mir Filomena den Welpen auf den Schoß gelegt, dass er meiner wurde, und der Geruch des Welpen aus dem Mund der Geruch von Filomena blieb. Den kleinen weißen Hund trug ich zu ihr, immer, wenn eine Zecke zu entfernen war. Darüber vergingen die Jahre. Der Weg zu ihr blieb, er führte steil über die Weinberge nach unten, über sonnige Felsenplatten in die Schlucht hinein und durch den Wald, den weißen kleinen Hund an der roten Leine hinter mir herziehend. An einem kleinen Bachbett kam man vorbei, wo der Wasserfall eine felsige Wanne gegraben hatte - für solche, die glücklich sind zum Baden. Wenige Meter daneben, am moosigen Nadelholzboden, konnte man sich unter den bauchigen Felsen hineinschmiegen, immer weiter hineinkriechen wie in eine Höhle, für solche, die unglücklich sind zum Verstecken.
Mit dem Hund und der Zecke im Fell kam ich an den ersten Häusern an. Weiß und still standen sie in der Sommerhitze. Ich habe Filomena immer nur im Sommer gesehen, traf sie unter der Weinlaube an, im leichten Blumenkittel, Kamillenblüten von Stauden zupfend, andere Hunde um sich, und ihre Hände gruben sich ins Fell, während die anderen misstrauisch gähnten. Sonnenöl wurde geholt, Tiroler Nussöl auf die Zecke getropft und herausgeschraubt.
Weinlaube und Scheune vergingen, ein kleines Einfamilienhaus kam stattdessen, vom Schwiegersohn mit Schulden gebaut und mit der Bürgschaft von Filomena, der ein Platz im Altersheim gewiesen wurde, als sie nicht mehr verträglich war für Schwiegersohn und neuer Firma. Rebellisch und stur soll sie gewesen sein, dass man das Türschloss auswechseln musste, um sie sich vom Leib zu halten. Da ging sie auf die Flucht. Bis man sie suchte. Verschwunden eine alte Frau, wirr, zerzauste Haare, ringend um Hilfe vor Umnachtung. Bis ein Sturm aufkam, die Alm erleuchtet vom Mond und von den Blitzen, im Dorf die Feuerwehrsirene.
Filomena, die ganz woanders war, fand man hineingeschmiegt in die Höhle unter dem bauchigen Felsen am Wasserfall. An der Hand wurde sie aus der Höhle gebracht, Erde im Gesicht von den Tränen, die sie sich die Nacht über von den Wangen wischte. Um sich blickend, ob man sie aufnehmen würde bei den Menschen, in deren Augen sie suchte.
Das Altersheim erklärte, nicht verantwortlich sein zu wollen für eine, der die Suppe sowieso nie schmeckte für das viele Geld, das sie dalassen musste. Da begann sie zu gehen, die Hinterbliebenenrente ihres Mannes Mittag für Mittag in die Hände derer drückend, die ihr ein Essen gaben und sie eine Nacht lang bei sich schlafen ließen.
Sie ging und ging. Über das gesamte Hochplateau der verstreuten Höfe, Stückchen für Stückchen jeden Tag, an den kleinen Kapellen vorbei, an Pestsäulen, Marienbildern, Kruzifixen und Blumenvasen mit den Bildern Verunglückter. Sie ging über die alten Wege, Schulwege, Kirchwege, Feldwege, Heuwege, Sumpfwege, Waldwege, verwachsen, weil von subventionierten Straßen ersetzt für subventionierte Jeeps mit Schiebedach. Sie saß auf den verblichenen Bänken, eingesunken schief in der Erde wie die Eisenkreuze auf dem Friedhof, wenn der Sarg morsch und eingebrochen war. Sie strich durch die Neubausiedlungen, an den neuen Eisdielen vorbei, am neuen Blumenladen und der neuen Apotheke. Mit der Handtasche beige, angewinkelt am Arm, und dem blauen Blumenkittel, ging sie Tag für Tag die gleichen Orte ab und wer sie sah, hörte sie leise reden mit den Orten, den Mund bewegend für unsichtbare Hörer, die hinhörten und zu nicken schienen, wiederholte alles nochmal für die, die ihr nicht gleich folgen konnten, ohne Eile. Unaufgeregt, wie über Dinge, die geschehen, wie von selbst, durch Menschen, die handeln, wie von selbst, bis dahin, wo man sich ihrer selbst nicht mehr sicher sein konnte.
Morgens war sie auf ihren Wegen bis Mittag, wenn die Häuser sich wieder öffneten und die Nachrichten aus den Küchen drangen. Immer vermied sie den Eindruck, gewartet zu haben.
Unauffällig wie nebenbei drückte sie die Türklinke, fragte in die Wohnung, war wie unverdient überrascht, wen sie alles zu Gesicht bekam, Kinder und Enkelkinder und alles, was einmal klein war und jetzt nicht mehr. Kein Dreck mehr an den Kinderfingern, früher verklebte Haare jetzt durch Haargel ersetzt. Aus Vorsicht vor den Jahren und den veränderten Anblicken nahmen wir uns als Fremde an. Kein Wort darüber, dass sie zu meinen ersten Gerüchen gehört. Ihre Hände, die sich in das Hundefell gruben, die ersten Bilder einer Frau sind. Dass sie zu den ersten Dingen gehört, die es gab, lange, bevor ich mich als vorhanden begriff. Ich kannte die Orte, lange, bevor ich sie betrat, oft, ohne sie jemals zu betreten, wie den Mond, von dem keiner weiß, wann er ihn zum ersten Mal gesehen hat.
Sie aß leise und konzentriert, wie alle, die jeden Tag zu Mittag essen, das Mittagsmagazin im Radio, bis man wieder aufstand und jeder ging. Die Zwetschkenkerne häuften sich in ihrem Teller, mit jedem Satz schien sie leichter zu werden, verschob sich die Last ihrer Geschichte ins Vergangene. Wie wenig ich sie kannte. Sie wollte wiederkommen, als sie auf das frisch gemachte Bett ihre Strickjacke legte. Sie sagte nicht, dass sie ihr früheres Haus aufsuchen wollte. An der Straße entlangging, die inzwischen eine Schnellstraße ist, mit Gedenktafeln an jeder Kurve. Sie war in den Garten gegangen, hatte die nicht gemachten Beete gegossen, war zurück an die Straße, die sie überqueren musste. Gegen vier radelte sie in den See. Diese Uhrzeit gab die Zeitung an, die nur schrieb, dass sie von einem Motorrad erfasst wurde und ihren Verletzungen sofort erlag.
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