Was tun Nazis, wenn sie an die Macht kommen, in Sachen Wohnungsnot?

Nationalsozialismus Wohnen Dieser Text handelt vom Umgang der Nazis mit Mieter*innen im ersten Jahr ihrer Herrschaft. Der vielfach verbreiteten Fehlinformation, die Politik der Nazis gegenüber der „Volksgemeinschaft“ sei sozial gewesen, werden Fakten entgegengestellt

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Die Zerschlagung der Mieter*innenbewegung der Weimarer Republik

In vielen Regionen Europas gab es vor 1933 starke Mieter*innenbewegungen. Allein in Berlin waren vor der Machtübergabe an die Nazis etwa 100.000 Mieter*innen mit Mietstreiks, Demonstrationen und Zwangsräumungsblockaden, aber auch auf der Ebene von Parteien und Verbänden, aktiv. Frauen spielten in der Bewegung eine tragende Rolle, bildeten oft die Mehrheit in Räten, Delegationen und Komittees. Die Mieter*innenbewegung konnte teilweise sehr erfolgreich Zwangsräumungen verhindern, Mietsenkungen und Instandsetzungen erstreiten.

Unmittelbar nach der Machtübergabe an die Nazis eskalierte der Terror von SA und SS. Unzählige Gegner*innen der Nationalsozialisten wurden in wilde KZs verschleppt, misshandelt und viele von ihnen ermordet. Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 und mit der einen Tag später erlassenen Reichstagsbrandverordnung wurde der Terror noch einmal verschärft. Durch diese Verordnung „zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ erhielt die Regierung diktatorische Vollmachten. Fortan herrschte permanenter Ausnahmezustand. Grundrechte wie persönliche Freiheit, Meinungs- Vereins-, Versammlungs-, Pressefreiheit und Briefgeheimnis waren außer Kraft gesetzt, Hausdurchsuchungen und Verhaftungenwaren jederzeit möglich.

Auf die Reichstagsbrandverordnung beriefen sich nun auch Vermieter*innen, um sich der Kampfmittel der Mieter*innen, der Versammlungen, Mietstreiks und Zwangsräumungsblockaden, endgültig zu entledigen. Das Organ der organisierten Vermieter*innen, die Zeitschrift „Das Grundeigentum“, rief Vermieter*innen dazu auf, die Polizei zu rufen, wenn sie bemerkten, dass Mieter*innen sich versammelten, denn die Ziele der organisierten Mieter*innen seien „kommunistisch und staatsgefährdend“.

Damit traf man die Aktiven an der Basis der Mieter*innenbewegung, in den Häusern und Wohngebieten, von denen uns heute nur ein kleiner Teil namentlich bekannt ist. Spätestens ab März 1933 dürften Versammlungen, Aushänge, Flugblätter und Rundschreiben der Mieter*innenbewegung kaum noch möglich gewesen sein.

Über die Schicksale der für die Mieter*innenbewegung tätigen Funktionäre der KPD ist mehr bekannt. So wurden Franz Wisnewski und Georg Kautz, die den Zentralen Berliner Mieterrat organisiert und dessen Versammlungen mit bis zu mehreren Tausend Teilnehmer*innen geleitet hatten, am 28. Februar 1933 verhaftet und in das KZ Sonnenburg verschleppt, wo sie zunächst bis Ende September 33 in „Schutzhaft“ gehalten wurden.

Nach alldem ist davon auszugehen, dass die Mieter*innenbewegung, die Zehntausende, wahrscheinlich Hunderttausend Aktivist*innen während der Weimarer Zeit mit Leben erfüllt hatten, in die sicher noch ein Mehrfaches an proletarischen Mieter*innen Hoffnungen gesetzt hatten, die eine große Zahl an Zwangsräumungen verhindern konnte, die häufig erfolgreich gegen Mieterhöhungen vorgehen konnte und die zum erfolgreichen Erprobungsfeld für feministischen proletarischen Kollektivismus geworden war, im Verlauf des Frühjahrs 1933 innerhalb von wenigen Wochen vollständig zerschlagen und unterdrückt wurde.

Abbau des Mieter*innenschutzes und steigende Obdachlosigkeit

Vermieterkreise gingen offenbar von vornherein davon aus, dass die Nazis eine marktradikale Richtung einschlagen würden. Im Februar 1933 stellten sie sich auf den Standpunkt, „dass ein Bedürfnis für die Beibehaltung des Mieterschutzes in irgend einer Form nicht mehr besteht“. Vielmehr müsse der „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ und der „freien Preisbildung“ im Mietrecht wiederhergestellt werden (Landesarchiv Berlin B Rep.142-04 Nr.202)

Und die Nazis lieferten. Am 1. April 1933 wurde das Mietrecht insbesondere für ärmere Mieter*innen entscheidend verschlechtert: Mit dem Wegfall des Wohnungsmangelgesetzes wurde die öffentliche Wohnraumbewirtschaftung ersatzlos eingestellt. Wurden in der Weimarer Republik Zwangsräumungen oft so lange aufgeschoben, bis das Wohnungsamt Ersatzwohnraum gefunden hatte, gab es diese letzte Rettung vor der Obdachlosigkeit nun nicht mehr.

Wie nicht anders zu erwarten, stieg die Obdachlosigkeit in den folgenden Monaten sprunghaft an. Im Landesarchiv Berlin ist hierzu umfangreicher Schriftwechsel vorhanden (Signaturen B Rep. 142-01 u. 142-04) . Beispielhaft sei hier die Situation in der Stadt Harburg-Wilhelmsburg wiedergegeben. Noch im Jahr 1932 hatte das Wohnungsamt alle Zwangsgeräumten unterbringen können, entweder in Mietwohnungen oder in städtischen Notwohnungen und Obdachlosenheimen. Aber schon Ende April 1933 beschrieb der Magistrat die veränderte Situation so: „Mit dem 1. April ds. Js. ist eine völlig neue und die Obdachlosenfürsorge erheblich mehrbelastende Rechtslage auf dem Wohnungsmarkt eingetreten.“ Die Beseitigung der behördlichen Wohnraumbewirtschaftung habe „eine gegenüber den Vorjahren erheblich gesteigerte Zahl von exmittierten Familien zur Folge gehabt“. Die neue Rechtslage habe eine „katastrophale Auswirkung“. „ Es ist ein die Ruhe, Ordnung und Sicherheit störender Zustand, wenn obdachlose Familien auf der Straße umherirren und die Behörde keine Möglichkeit findet, die Familien, besonders, wenn die Obdachlosigkeit eine Massenerscheinung werden sollte, geeignet unterzubringen.“ Viele dieser Menschen hätten keine realistische Perspektive auf eine neue Wohnung, da die Hauseigentümer, wie es in dem Schreiben heißt, „aus Wirtschaftsgründen bei Neuvermietungen dem wirtschaftlich Stärkeren den Vorzug gibt“.

Ganz Ähnliches wurde aus vielen anderen Städten und Gemeinden des Deutschen Reiches berichtet.

Bettlerrazzien

Im Verlauf des Sommers 1933 begann das Propagandaministerium unter Josef Goebbels mit einer breit angelegten Pressekampagne gegen Bettler*innen und Obdachlose. Über Wochen kündigte man an, man werde mit Razzien gegen das „Bettelunwesen“ vorgehen. „Schluss mit der Bettlerplage!“ Deutschland sei zu arm, „um berufsmäßige Bettler, Arbeitsscheue, Trinker und Betrüger zu unterstützen. Wir brauchen unser Geld für die Anständigen und Gesunden!„Behörden, Wohlfahrtsorganisationen und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe wurden vorab über die geplante Verhaftungswelle informiert. Zum Teil wurden die Razzien ausdrücklich begrüßt und man kooperierte während der Festnahmen.

Zwischen dem 18. und dem 23. September 1933 nahmen Polizei, SA, SS und Stahlhelm auf Straßen und Plätzen, aber auch in Nachtasylen, Obdachlosenheimen und Kneipen zehntausende Obdachlose, Bettler*innen und Sexarbeiter*innen fest. Die Menschen wurden in Arbeitshäuser, Gefängnisse, eigens eingerichtete Konzentrationslager wie etwa in Elmshorn oder Meseritz oder in bestehende frühe Konzentrationslager wie Dachau gebracht. Es wurden weit überwiegend Männer festgenommen. Der Großteil der verarmten Frauen war offenbar in der Öffentlichkeit nicht gleichermaßen sichtbar. Ob sie in Familien, Bekanntenkreisen oder als versteckte Sexarbeiterinnen überlebten, bleibt hier unklar.

Viele der Verhafteten wurden nach einigen Tagen oder Wochen wieder freigelassen, andere aber unbefristet festgehalten. In dieser frühen Zeit hatte der NS-Staat noch nicht die Kapazitäten zur Unterbringung und Ausbeutung dieser großen Zahl an Gefangenen, zumal die Gefängnisse mit den politischen Gefangenen schon überfüllt waren. Das änderte sich in der Folgezeit, als immer wieder ähnliche Razzien gegen Obdachlose und Bettler*innen stattfanden, und die Gefangenen unter der Häftlingskategorie der sogenannten „Asozialen“ auch in die großen Konzentrations- und Arbeitslager verschleppt wurden. Viele von ihnen überlebten nicht.

Für diejenigen, die wieder freigelassen wurden, war es vor allem wichtig, in der Öffentlichkeit nicht mehr sichtbar zu sein und sich nur noch dort aufzuhalten, wo selten Razzien stattfanden. Einige Asyle platzten aus allen Nähten, andere wurden gemieden. Zum neuen Geschäftsmodell wurden private Männerwohnheime. Einige Obdachlose versuchten, ein nichtstehendes Gewerbe anzumelden, andere versuchten, in den freiwilligen Arbeitsdienst oder in die SA einzutreten.

Am 21.Oktober 1933 meldete die Vossische Zeitung, das Betteln auf den Straßen sei so gut wie verschwunden.

Für die bedürftigen Menschen war es nun noch schwerer, ihr Überleben zu sichern.

In den Folgejahren fanden regional immer wieder ähnliche Razzien statt.

Zwangssterilisationen

Anfang 1934 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft. Ziel war, gemäß nationalsozialistischer Ideologie, die „völkische Aufartung“ der „hochwertigen arischen Rasse“. „Minderwertige“ Familien, „Ballastexistenzen“, „Gemeinschaftsfremde“, „Erbunwürdige“ sollten durch Zwangssterilisation an der Fortpflanzung gehindert und so aus der sogenannten „Volksgemeinschaft“ ausgemerzt werden. Betroffen waren Körperbehinderte, psychisch Kranke sowie Menschen mit sogenanntem „angeborenen Schwachsinn“. Hierunter fiel auch der sogenannte „moralische Schwachsinn“, auch „Asozialität“ oder „mangelnde Lebensbewährung“ genannt. So konnte etwa Arbeitslosigkeit oder Wohnungslosigkeit, bei Frauen auch „fehlende Fügsamkeit“ oder „Liederlichkeit“, zum Sterilisationsbeschluss führen, denn all diese vorgeworfenen Eigenschaften wurden als erblich angesehen. Ebenso, wenn eine Person vermeintlich oder tatsächlich der Sexarbeit nachging. Die vielen Menschen, die besonders ab dem April 1933 ihre Wohnung verloren und auch keine neue bezahlen konnten, waren also jederzeit in akuter Gefahr, Opfer einer Zwangssterilisation zu werden. Insbesondere die Arbeitshäuser, Konzentrationslager und Gefängnisse, in denen die Inhaftierten der „Bettlerrazzien“ festgehalten wurden, wurden systematisch nach sogenannten „Erbkranken“ durchsucht, die in vielen Fällen zwangssterilisiert wurden“ (Ayaß 46)

Kürzungen beim Wohnungsbau

In der Folgezeit wurde es zudem immer schwieriger, an eine neue Wohnung zu kommen, denn anders als es heute vielfach beschönigend dargestellt wird, wurde der Wohnungsbau in der NS-Zeit stark zurückgefahren. Insbesondere der Siedlungsbau ging zurück. Während in den Jahren 1924 bis 1932 insgesamt 173.000 Wohnungen gebaut wurden, davon 102.000 öffentlich gefördert, waren es in den Jahren 1933 bis 1940 nur insgesamt 96.000 Wohnungen, davon nur ca.57.000 bis 61.000 öffentlich gefördert (Zahlen nach Rudolf Baade). Dadurch stieg selbst nach NS-offiziellen Angaben der Wohnungsfehlbestand bis Anfang 1938 allein in Berlin auf bis zu 400.000 Wohnungen. Zudem wurden die „Volkswohnungen“ nur an handverlesene „Deutsche Familien“ vergeben. Jüd*innen, sogenannte „Asoziale“ und Ledige waren ausgeschlossen. Ebenso arme Menschen, die (noch) nicht als „asozial“ gebrandmarkt waren, denn für die unteren Einkommensgruppen waren die Mieten in den „Volkswohnungen“ viel zu hoch.

Die „Volksgemeinschaft“ war ein sozial nach unten abgegrenztes Konstrukt.

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