Am 5. März bringt Dmitri Tcherniakov, einer der prominentesten Opernregisseure russischer Herkunft, Sergej Prokofjews Krieg und Frieden auf die Bühne der Bayerischen Staatsoper in München. Schon der Name der Produktion mutet heute wie ein Schlag in die Magengrube an, obwohl bekannt ist, dass die Repertoirepläne der großen Häuser lange im Voraus festgelegt werden und nicht der Nachrichtenagenda folgen. Brisant ist überdies das Datum der Premiere: Sowohl der große Komponist Prokofjew als auch der monströse Tyrann Stalin starben am 5. März 1953. Man sollte den Regisseur jedoch nicht verdächtigen, das Datum bewusst gewählt zu haben, um mehr Aufmerksamkeit zu erheischen. Das hat er nicht nötig: In den vergangenen 15 Jahren hat Tch
hren hat Tcherniakov in Amsterdam und Paris, Brüssel und Wien, New York und Hamburg gearbeitet. Im Herbst inszenierte er den Ring des Nibelungen an der Berliner Staatsoper.Vergleicht man die Zahl seiner Inszenierungen in Russland und Europa, könnte man Dmitri Tcherniakov mit einigem Recht als „europäischen Regisseur“ bezeichnen. Doch um zu verstehen, wie und warum er Oper macht, sind eine Reihe seiner russischen Inszenierungen aufschlussreich.Dmitri Tcherniakiv wurde 1970 in Moskau geboren, 1993 schloss er dort sein Studium an der Russischen Akademie für Theaterkunst ab. Selten hatte Russland sich weniger für die Oper interessiert. 2001 aber debütierte er am Mariinski-Theater in St. Petersburg mit Nikolai Rimski-Korsakows Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch. Es war der Moment, in dem die Postmoderne die russische Opernbühne erreichte. Tcherniakov nutzte Elemente des Bühnenbilds der historischen Inszenierung, aber er reicherte ein Märchen mit Sozialkritik an. Die Stadt Klein-Kitesch glich einem schmutzigen Provinznest der 1990er, und ihre betrunkenen Bewohner trugen schäbige, geschmacklose Kleidung, wie man sie damals auf den Straßen sah. Im Kontrast dazu repräsentierten die Bewohner des „idealen“ Kitesch das „spirituelle“ Prä-1917-Russland – ein Land, das längst untergegangen war. Dieses gespaltene Bild der russischen Gesellschaft – oder vielmehr die Frage: „Was macht die russische Gesellschaft aus? Wie koexistieren diese Wesensarten? – zog sich fortan durch sein Werk. Was er aus Kitesch lernte, war, dass die russische Gesellschaft nicht gerne über ihre Traumata spricht. Ein jüngeres Trauma – der Tschetschenien-Krieg – spiegelte sich in Verdis Aida am Opernhaus von Nowosibirsk 2004 wider. Die Handlung verlegte Tcherniakov aus dem alten Ägypten in die Moderne. Keine Pyramiden und Prunk, dafür Männer in Uniform und Militärlaster. Das Bühnenbild zeigte die halb zerstörte Fassade eines klassizistischen Sowjetpalasts. Zerbrochene Fenster und Einschusslöcher in den Wänden unterstrichen das Bild eines verkommenen und zerfallenden Imperiums.In Moskau gastierte die Inszenierung im Staatlichen Kremlpalast, also buchstäblich innerhalb der Mauern des Kreml. Von heute aus gesehen war das eine politische Aktion. Aber damals lagen noch Jahre der Stabilität vor der russischen Gesellschaft und sie wollte sich keineswegs als „Barbaren auf den Ruinen des Imperiums“ verstehen, sondern als Europäer und Erben einer großen Kultur.2006 beauftragte ihn das Bolschoi-Theater, der Kulturerbeverwalter unter den russischen Opernhäusern, mit einer Neuinszenierung von Tschaikowskis Eugen Onegin. Das zentrale Bühnenbild zeigte einen großen Speisesaal, dessen Einrichtung sowohl vertraut (als ob man darin aufgewachsen wäre) als auch zeitlos wirkte. Die Nachbarn des Dorfes saßen Tag für Tag an einem langen Esstisch und feierten die Entropie. Die Hauptfiguren waren die „Ausgestoßenen“: Onegin, Tatjana und vor allem Lenski, dessen Geschichte vom Regisseur neu erfunden wurde. Lenski, ein Dorfpoet von schlichter Erscheinung und weitem Herzen, mithin ein Typus, der dem sowjetischen Kino der 1950er Jahre entsprang, litt unter seiner verschmähten Liebe und wurde darüber zu einem wahren Dichter. Diese freie, lyrische Inszenierung löste einen ungeheuren Skandal aus. Die Opernprimadonna Galina Vishnevskaya verließ wutentbrannt den Saal, als sie sah, dass Tatjana ihre Arie auf dem Tisch sang. Der Bruch mit der sowjetischen Vergangenheit schien in dieser Inszenierung nun endgültig und nahm eher lächerliche als bedrohliche Züge an.Diese emotionalen Ausbrüche ereigneten sich übrigens in der Neuen Bühne des Bolschoi, da die historische Spielstätte schon seit 2005 geschlossen war. Das alte, 1825 erbaute Haus war mit einer dicken Baufolie verhüllt. Unterdessen gab es Gerüchte über das Verschwinden von Milliarden und den Einsturz des Hauses selbst (was für Moskau in den frühen 2000er Jahren nichts Neues war). Im Jahr 2011 wurde schließlich die Eröffnung der Historischen Bühne angekündigt, was mit einer großzügigen Verschwendung von Staatsgeldern einherging: Eine grandiose Lichtshow wurde geboten, hochrangige Gäste waren geladen und die besten Stimmen der Welt im Konzert versammelt.Die erste Opernpremiere war Michail Glinkas Ruslan und Ljudmila von Dmitri Tcherniakov und zündete wie Dynamit. Offensichtlich erwarteten diejenigen, die den Wiederaufbau finanziert hatten, das „gewaltige“ Bild. Die Eröffnungsszene zeigte eine Schar von Gästen in historischen russischen Kostümen aus dem 19. Jahrhundert, die die Hochzeit von Ruslan und Ljudmilla feierten. Die Kulisse sah traditionell aus, aber irgendetwas stimmte nicht: zu viel Gold, der Saal zu grell gestrichen ... Schließlich bemerkte man einen Kameramann in schwarzem T-Shirt und Jeans. Die ganze „traditionelle russische Hochzeit“ erwies sich als reine Inszenierung, als Fälschung, als bloße Unterhaltung der reichen Familien. Das junge Paar musste aus dieser Chimäre in die reale Welt ausbrechen – ein modernes und beängstigendes Setting: Aus den märchenhaften Bildern läuft Ruslan in ein Re-Enactment des von dem Fotografen Jeff Walls inszenierten Schlachtfeld-Bildes Dead Troops Talk. Tcherniakov unterstrich damit die gefährliche Besessenheit, „die große Vergangenheit“ rekonstruieren zu wollen, anstatt sich der Gegenwart zu stellen. Diese Inszenierung wurde von „oben“ kaltschnäuzig abgelehnt und nur wenige Male gezeigt. Sehr bald änderte sich der politische Wind in Russland, und mit ihm das Repertoire des Bolschoi. Dmitri Tcherniakov galt fortan – genauso wie viele andere Künstler und Regisseure mit scharfem Blick – als zu „europäisch“ und freidenkerisch für den „Treuhänder der russischen Kultur“.Tcherniakovs Arbeiten beruhen bis heute auf einer tiefgreifenden Analyse nicht nur der Partitur und der Musik, sondern auch der menschlichen Beziehungen. Er ist nicht daran interessiert, altbekannte Geschichten zu reproduzieren, sondern sucht nach der wirklichen, existenziellen Erfahrung. Dabei bewegt er sich stets am Nerv der Zeit. Seine (bisher) letzte Arbeit auf einer russischen Bühne war Sadko von Rimski-Korsakow im Jahr 2020 am Bolschoi. Sadko (wie auch der Regisseur selbst) wendet sich von den gesellschaftlichen Fragen ab und gibt sich im Privatleben einer Illusion hin, was sich als unhaltbar erweist. Am Ende blieb er allein auf einer leeren Bühne zurück und musste sich dem wirklichen Leben stellen.