Bei den europäischen Nachbarn ist die Frage aufgekommen, wie es Deutschland mit Europa hält. Je näher der Termin zur Bundestagswahl rückt, desto insistenter die Betrachtungen zu Macht und ihren Strukturen in der Europäischen Union. Denn seitdem mit der Schuldenkrise das, was in den Ursprüngen eine Gemeinschaft war, in zentrale Länder und solche der Peripherie zerlegt worden ist, gerät der kommunitäre Gedanke wieder in den Mittelpunkt, aber vor allem, wer ihn bestimmen mag.
Den Riss beschreibt der britische The Guardian in einem Artikel („Angela Merkel: saviour or tormentor? Europeans give verdict”), der Leserreaktionen aus Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien bündelt: „Effizient, organisiert und erfolgreich. Arrogant, dominant und autoritär. Die Weisen des Europäischen Projekts. Gnadenlose Peiniger eines jeden südlich der „Olivenlinie“. Für einige wäre die Eurozone ohne Führung der Deutschen kollabiert. Für andere hätten es Millionen Südländer ohne sie leichter gehabt.“
Das sei keine repräsentative Umfrage, stellt das Blatt klar. Und natürlich seien viele Reaktionen von „Scherzen und feindlichen Äußerungen“ gleichermaßen durchsetzt gewesen. Aber „einige Trends sind unverkennbar“, meinen die vier Journalisten, die an dem Artikel zusammen geschrieben haben; sie lassen ihn mit dem Satz des französischen Lesers Jacques Lecucq enden: „Mark oder Euro, Deutschland will eine starke Währung, was nicht für alle seine Nachbarn gilt. Es hat seine Ziele erreicht und Angela fährt nun die Dividende ein. Haben sie falsch gelegen, stark zu sein, hatten wir das Recht, schwach zu sein?“
Italien ist „Süden“ und Ort der römischen Verträge
Italien nimmt in dieser Gemengelage eine besondere Stellung ein. Auch wenn das Land nach heutigen Begriffen schwer überschuldet ist (zuletzt: 2.034.763 Milliarden Euro, 130,3% des BIP zum Ende des1. Quartals 2013) und sich jenseits der „Olivengrenze“ befindet – die viertgrößte Volkswirtschaft in der Europäischen Union ist zugleich in den römischen Verträgen ein Gründerstaat des Europäischen Gemeinwesens. Zum Gewicht in der Krise tritt das europapolitische, das sich unter anderem in der Kommissionspräsidentschaft von Romano Prodi (1999 bis 2004) niedergeschlagen hat.
Es ist also kein Zufall, dass zeitgleich zur Süddeutschen Zeitung die italienische Tageszeitung La Stampa online in Auszügen die Übersetzung des Interviews mit Richard von Weizsäcker veröffentlicht hat. Hier wie dort gleich zu Anfang die Frage nach dem Europäischen Hegemon Deutschland, auf die der ehemalige Bundespräsident diplomatisch antwortet: Dringend werde ein gemeinsames Europa benötigt. Und: „Die Teilung zwischen Norden und Süden hat mir nie eingeleuchtet.“
Das mag Balsam für die Seele sein, da Klischees gegen Menschen in Südeuropa nicht nur von unsäglichen Headlines einer deutschen Massezeitung wie „Jeder Euro ist zu schade“ von einem Redakteur stammen, der danach zum Pressesprecher eines Kanzlerkandidaten gekürt wurde. Sondern von deutschen Politikern im Wahlkampf selbst transportiert werden. „Maut für Ausländer“ meint auch die Europäer, so als ob es das politische wie wirtschaftliche Diskriminierungsverbot, Grundgedanke schon der EWG, nie gegeben habe. Dies ist die Ursuppe jenes Arroganzvorwurfs, der nur ein Quäntchen davon entfernt ist, in allgemeine Stimmung und von dort in tragende Politik umzuschlagen.
Noch sind wir in einer Phase des Psychologisierens, meint die italienische Journalistin und Autorin Barbara Spinelli: Im Versuch „eine offensichtliche wie einnehmende Macht zu erklären, die Berlin sorgfältig verbirgt und von der die Europäischen Hauptstädte nicht wissen, wie ihr begegnet werden soll.“ Sie hat ihren Artikel bei der Tageszeitung La Repubblica mit der ersten Zeile des Brechtgedichts „Deutschland, bleiche Mutter“ betitelt und resümiert „den starken fordernden Willen der Deutschen, der sich nicht nur bei der Verteidigung ökonomischer Doktrinen ereifert, sondern auch in feierlichen moralischen Visionen“. Schulden werden so, mehr noch als Verantwortung, zur moralischen Schuld mit der bereits ein Umbau einher gegangen sei: „Eine Union, die nicht mehr Gemeinschaft ist und in der schuldige Schuldner mit der Bezeichnung als ‘südliche Peripherie‘ gedemütigt werden.“
Klischees, Stereotypen und handfestes Handeln
Das sei noch ein „Handeln ohne normativen Kern“, meint Spinelli in Anlehnung an Habermas, aber bereits Ausdruck unmittelbaren Handlungswillens, wenn die Kanzlerin in Abkehr von ihren Integrationsbekenntnissen am 13. August im Fernsehinterview in Aussicht stellt, Kompetenzen von der Union wieder auf die Nationalstaaten zurück zu verlagern. Der solidarische Gedanke, der im Ursprung stand, werde damit verlassen.
Man kann es einen Schlagabtausch nennen, der sich, da er über physische Grenzen hinweg ausgefochten wird, paradoxerweise mit Grenzsetzungen befasst. Denn Spinelli hat direkt auf einen langen Artikel von Wolfgang Schäuble in the Guardian geantwortet („We Germans don't want a German Europe”), in dem vordergründig jener Führungswille in Abrede gestellt, Deutschland aber als gelungenes Beispiel dargestellt wird: Zu den „Grundbedingungen, die im Kontext des globalen Wettbewerbs und der demographischen Entwicklung zu einer erfolgreichen wirtschaftlichen Tätigkeit führen und eine Herausforderung für ganz Europa darstellen.“ Damit werde aber jener Stereotyp, den Schäuble in Bezug auf eine besondere Rolle Deutschlands zurückweist, zementiert: Da eine Austeritätspolitik als alternativlos dargestellt werde und unter diesem Vorzeichen nur eine bessere Koordination, aber keine Diskussion in Frage käme.
Dass auf der anderen Seite das Interview Merkels in den konservativen Kreisen Großbritanniens mit Begeisterung aufgenommen worden ist, kann nicht verwundern. Die über nationalistisches Gedankengut weit hinaus gehenden Überbleibsel der Splendid Isolation sind ein Erklärungsmuster für die harte Linie, mit der Premierminister David Cameron zunächst 2011 jede Mithilfe bei der Bewältigung der Euro-Krise verweigerte und dann 2013 für die Zukunft eine „Reform der EU“ auf seine Fahnen geschrieben hat.
Ihn kontrastiert nunmehr Richard von Weizsäcker mit der Bemerkung, dass endlich zu beraten sei, „was wir in Brüssel wirklich bewegen wollen“. Es sei „höchste Zeit für ein ernsthaftes Gespräch“, das mit London zustande gebracht werden müsse – und „jeder Aufruf zur Zusammenarbeit aus Paris muss dankbar und mit offenen Ohren aufgenommen werden.“ Die Skepsis, die der ehemalige Bundespräsident gegenüber einem deutschen Nationalismus hegt („Anders als Frankreich und Großbritannien haben wir keine Tradition als Nation“), schließt sich auf sehr bemerkenswerte Weise mit den Auffassungen von Spinelli kurz: In der Betrachtung der historischen Leitlinien, die derzeit zu mehr Divergenzen führen als durch Koordinationen wett gemacht werden könnten. Ein Memento und keine sehr leise Kritik an den derzeitigen Europamachern.
Wie wirkmächtig allerdings der Gedanke ist, dass nicht nur ein Europa der Nationen wieder heranreift, sondern vor allem die Ingerenz einiger dieser Nationen in die insbesondere Haushaltshoheit anderer, mag sich an den Äußerungen von Enrico Cucchiani erweisen. Der frühere Chef des italienischen Ablegers der Allianz Versicherung und heutige Vorstandvorsitzende der Banca Intesa Sanpaolo hält es zwar für unwahrscheinlich, dass „die Troika nach Italien gerufen oder gesandt“ werde. Aber, so wird das Mitglied des Aspen Instituts zitiert: Es „wäre für sich genommen keine schlechte Sache, nachdem die Länder, in die die Troika gegangen ist, ihren Zustand verbessert haben und es dort stärkere Zeichen der Veränderung gibt als die, die in Italien sichtbar sind.“
Junge Menschen in Italien wünschen sich ein anderes Zusammenleben
Am anderen Ende dieser Wahrnehmung stehen die Zurückweisungen, die bis weit in die italienische Regierung hinein reichen, wonach die so verordnete Austeritätspolitik „nur Deutschland nutze“. Und wie der profilierte Soziologe, Autor und Journalist Luciano Gallino daran erinnern, dass in Sachen Schuldenschnitt Deutschland „niemandem etwas beizubringen hat“. Erst der umfängliche Schuldenerlass nach dem Krieg habe Deutschland überhaupt in die Lage versetzt, das zu werden, was es heute ist.
Der Riss, den the Guardian in Zusammenarbeit mit 4 anderen europäischen Zeitungen dokumentiert hat, ist noch einer der Ambivalenz, da die Menschen begonnen haben, ihre eigene Situation zu überdenken. In Italien hat sich das niedergeschlagen mit dem Wahlerfolg der 5-Sterne-Bewegung bei den Parlamentswahlen vergangenen Februar.
Deren Gründer Beppe Grillo hatte in einem Artikel vom November 2011 Europa mit einem „von Wohnungseigentümern bewohnten Haus“ verglichen: „Da gibt es welche, die das Geld zum Fenster hinauswerfen, die das Treppenhaus für alle sauber halten oder wie die Bewohner im ersten Stock alleine für Mülltrennung sorgen und auch die einzigen sind, die die Gemeinschaftskosten zahlen. Es ist völlig klar, dass diese Form der Gemeinschaft nicht überleben kann, so wie es klar ist, dass eine ökonomische Union der politischen zu folgen hat und nicht umgekehrt. Man beginnt beim Kopf, nicht beim Geldbeutel.“
Eine bleiche Mutter als Hausmeisterin, wer will die schon. MS
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