Auf den Kontinent jenseits des Atlantik richtete sich so große Sehnsucht, dass sie untilgbar eingeschrieben bleibt in den Namen Amerika. Für die armen und politisch eingeschnürten Europäer war es ein Ideal - und so ist es auch im deutschen Gedächtnis gespeichert. Diese Aura einer Befreiung und dann auch der Glanz des grandiosen ökonomischen Aufstiegs überstrahlen alles, was von der Gewalt bekannt ist, die von den Einwanderern aus Europa und Asien ausging. Nebenbei gesagt, ist es ja auch nicht üblich, Gewalt zu tadeln, wenn sie von einem gewissen Erfolg legitimiert scheint. Die Vereinigten Staaten waren ein voller Erfolg.
Das Eigentümliche ist, dass die USA die unterschiedlichsten Gruppen inspirierten - sogar die schärfsten Gegner. Amerikanische Manager, die US-Militärtechnik, die Wissenschaft, die Vorstellung von einer Gesellschaft, die ständig Energie und Initiative freisetzt und angeblich blendend ohne "soziale Hängematte" auskommt - das Idealbild des blühenden "neoliberalen" Kapitalismus.
Aber auch der 1. Mai kommt von dort und die Bürgerrechtsbewegung, der Feminismus, der Kampf gegen den Vietnam-Krieg, die Nichtregierungsorganisationen (NGO). Vor zwei Jahren begann in den USA während des WTO-Treffens in Seattle der Protest gegen die Auswüchse der Globalisierung - ein Protest, der seither eine globale Dimension erreicht hat. Auch die Bewegungen der Linken fanden seit Jahrzehnten jenseits des Ozeans Vorbilder, neue Methoden, neue Texte. Und doch mussten gerade sie sich absurder Weise immer einmal wieder die Litanei anhören, sie seien "antiamerikanisch". Im Golfkrieg 1991 wurde bei Linken auch noch die Unterstellung eines "verborgenen Antisemitismus" daran geheftet und so eine neue Formel geboren, die in den politischen Auseinandersetzungen seinerzeit - aber auch danach - erhebliche Wirkung zeigte. Viele Leute verstummten lieber, als in dieser Schusslinie zu stehen.
Heute, im Rückblick, ist in der Freitag-Debatte von 1997 etwas von jener Furcht spürbar, missverstanden zu werden und in den falschen Topf zu kommen. Obwohl damals schon ausgesprochen wurde, dass ein Gespräch über Amerika immer schnell etwas Bekenntnishaftes bekommt. "Political correctness", als Norm ebenfalls gern und rasch von den USA übernommen, wurde zu einem politischen Anstandskodex banalisiert, zu einer informellen Sprach-Prüfungsinstanz, der man sich freiwillig unterwarf. So zähmten sich die Diskutanten. Heute erst merkt man, dass ein Thema in der Debatte nahezu vollkommen fehlte: die USA in der Rolle des Imperiums.
Kurz vor dem 11. September fiel in einer Redaktionssitzung beiläufig der Satz, natürlich würden auch die USA eines Tages untergehen, aber das sei vermutlich nicht schon morgen. Ich war verblüfft und versuchte zu diesem vorausgesagten Untergang vorstellbare Abläufe zu assoziieren. Vergeblich. Gelang es den anderen etwa? Danach zu fragen, verpasste ich, aber wenige Tage später fiel mir das Buch des Amerikaners Chalmers Johnson in die Hand: Ein Imperium verfällt. Wann endet das amerikanische Jahrhundert?, das in den USA 1999 unter dem Titel Blowback erschien - der Begriff vom Bumerang-Effekt wurde von der CIA für unbeabsichtigte Folgen der amerikanischen Außenpolitik verwendet. Johnson hatte es als Kenner der von den USA verfolgten Asienpolitik gewagt, auch in Zeiten der wirtschaftlichen und machtpolitischen Erfolge der USA Gründe für ihren drohenden Abstieg zu benennen.
Wer vor vier Jahren in unserer Amerika-Debatte Ähnliches reflektiert hätte, wäre wohl als komischer Kauz angesehen worden oder als altlinker Schwarzseher. Die vorweggenommene Selbstbeschuldigung, es könnte sich der ominöse "Antiamerikanismus" offenbaren wie ein im Innern verborgener böser Geist, wendete sich zu einem Denkverbot.
Ende September, drei Wochen nach den Anschlägen von New York und Washington, verblüffte in einem TV-Magazin Johan Galtung, der alte Friedensforscher. Es fielen noch keine Bomben auf Afghanistan, und viele fühlten sich zur Abbitte gegenüber der Bush-Regierung aufgefordert, weil sie gar nicht so martialisch vorging, wie dank der Kraftreden unmittelbar nach dem 11. September befürchtet wurde. Galtung aber hielt es für einen Fehler, dass die USA nicht auf das Angebot der Taleban eingegangen waren, Osama bin Laden in einem arabischen Land vor Gericht zu stellen. Er forderte Verhandlungen. Die Moderatorin war perplex: Verhandeln wäre ja ein Eingeständnis, dass sie Erfolg hatten! Galtung bestand darauf: Man müsse die Kette von Verbrechen und Vergeltung trennen. Sie widersprach atemlos: Aber Verhandeln sei doch eine "Nobilitierung der Täter". Galtung: Man müsse Leute wie die Südafrikaner Nelson Mandela und Frederik Willem de Klerk zur Vermittlung heranholen, solche, die es geschafft hätten, den Kreislauf von Tat und Rache zu durchbrechen. Aber dann hätte man ja auch mit Hitler verhandeln können, fragte die Moderatorin schockiert. Und zu ihrer Überraschung antwortete Galtung: Ja, schon 1923/24 hätte man genau hinhören und den Versailler Vertrag umschreiben sollen. Man müsse immer prüfen, was gefordert werde.
Die Leute um Osama bin Laden wollen, dass die US-Militärs Saudi Arabien verlassen? Ist das legitim? Warum sollen die Truppen nicht abziehen?
"Auf der Festung Ehrenbreitstein geht das Sternenbanner hoch. Das Bild der hereinflutenden Amerikaner übertrifft alle Erwartungen und alles Dagewesene. Berittene mit hohen Trapperhüten sprengen im Galopp durch die Straßen; Harley-Davidson-Motorräder flitzen vorbei, manchmal die Seitenwagen in der Luft. Die Infanterie kommt auf Lastwagen daher, keiner zu Fuß. Tadellos neu sind die Khakiuniformen. Da strotzt es nur so von gelbem Leder, schwerem Segeltuch und blankem Nickel. Nach dem Geruch von Armut, Kommiss und Lazarett, wie er das abgerissene und ausgehungerte deutsche Heer umwitterte, weht nun ein Duft von gebratenem Speck und Camel-Zigaretten durch die Stadt", beschreibt Richard Scheringer seine Erinnerungen in Das Große Los.
So konnten 1918 die sagenumwobenen Vereinigten Staaten von Amerika in Europa erstmals besichtigt werden. Es war ein gelungener Auftakt. Später, 1945, kamen sie als Befreier wieder und brachten auch Ideen zurück, für die ihre Vorfahren in Europa vergeblich gekämpft hatten. Für Demokratie, Meinungsfreiheit, unabhängige Justiz, Gleichberechtigung, Menschenrechte wurde auch gestorben, immer wieder, in der ganzen Welt. Der Enthusiasmus für diese Ideale trägt weit und gibt der amerikanischen Machtpolitik seit langem ein moralisches Motiv. Erinnert das nicht daran, wie die Staaten Osteuropas einst von den Überzeugungen und Zukunftshoffnungen vieler Kommunisten und Sozialisten lebten, die nicht eingelöst wurden? Die noch lange trugen und auf deren Ausstrahlung immer wieder zurückgegriffen werden konnte? So überstrahlt das Ideal der Demokratie die Politik des Imperiums.
Seit Afghanistan bombardiert wird, hat Galtung ein Gegenprogramm von fünf Punkten vorgeschlagen: Dazu gehört tatsächlich der Abzug der Amerikaner aus Saudi-Arabien. Und ein Ende der Sanktionen gegen den Irak, die Schaffung eines palästinensischen Staates, ein vom iranischen Präsidenten Chatami geforderter Dialog der Kulturen und eine breite Koalitionsregierung in einem künftigen afghanischen Bundesstaat - also keinem Zentralstaat mehr - unter dem Schutz der UNO und der Organisation Islamischer Staaten. Nicht machbar? Eine Überforderung der USA?
Auch ein Galtung musste sich natürlich sofort anhören, er sei "antiamerikanisch". Aber der 71-Jährige, der im Frühjahr noch selbst in Afghanistan als Vermittler war, bleibt gelassen. "Freunde der Vereinigten Staaten sind die Kritiker ihrer gefährlichen Politik. Jene aber, die sich mit Solidaritätskundgebungen überbieten und beim Krieg mitmachen wollen, schaden langfristig den USA."
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