Aus 2 mach 1/ Aus 3 mach 4/ Das schafft das Hexenelixier. Diesen Satz aus Goethes Faust stellt die Bundestagsabgeordnete Luc Jochimsen der ungewöhnlichen Konferenz voran. Die Kulturexpertin der Linksfraktion hat eingeladen. Viel Prominenz aus Theatern, Literatur, Medien, Wissenschaft und Thüringer Landespolitik ist da, darunter manche, von denen wohl kaum vermutet würde, dass sie einem Ruf der Linken folgen. Auch die Partei- und Fraktionsvorsitzenden Lafontaine, Gysi, Bisky haben es sich nicht nehmen lassen, zu kommen, obwohl sie am gleichen Wochenende auf zwei Parteitagen an die Podien zu treten haben, auf denen über die Vereinigung zur Linkspartei und die Berliner Koalition abgestimmt wird. Hier in Bad Frankenhausen geht es aber um Identität und um Kultur in Deutschland. Mit "Zwei" meint Jochimsen DDR und BRD, mit "Drei" die Kulturen von drei Millionen Migranten, und da hört die Weisheit auf. Wie lebensnotwendig ist Kultur in ökonomisch schwachen Zeiten? Mehr denn je?
Eine Neudefinition sei fällig, weil im Bundestag im kommenden Frühjahr die Ratifizierung der UNESCO-Konvention "Kulturelle Vielfalt" ansteht. Sie ist von 143 Staaten signiert und gegen eine geplante WTO-Entscheidung gerichtet, nach der Kultur-Subventionen künftig als Verstoß gegen den freien Handel kriminalisiert werden sollen. Kunst ist da als Ware eingestuft und Künstler als Dienstleister. Im Bundestag wird die UNESCO- Konvention ohne Frage durchkommen. Aber die Linkspartei meint, es müsse damit eine Klärung einhergehen, was denn kulturelle Vielfalt in Deutschland bedeute.
"Nachdem wir uns Jahrzehnte lang die Lebenslüge geleistet haben, nicht Einwanderungsland zu sein", sagt Jochimsen zu Beginn, "muss endlich anerkannt werden, dass es hier schon seit alters her Minderheitenkulturen von Juden, Sinti, Roma, Sorben gibt, und nun durch Migration neue große Minderheiten, meist muslimischen Glaubens. Bisher galt die Vorstellung von einer deutsch-christlich-abendländischen Leitkultur. Die Wechselbeziehungen mit den alten und neuen Minderheitenkulturen zu definieren und sie zu fördern, ist ein Auftrag an die Politik."
Die Konferenz findet a einem ungewöhnlichen Ort statt, im gigantischen Panoramabild Werner Tübkes in Bad Frankenhausen, mitten in Thüringen, wo nur 100 geladene Gäste Platz haben. Aufs Podium werden Diskutanten in großen Gruppen geladen. Jeder sagt hier seines. Die männliche Form stimmt fast: unter den vielen Rednern ist nur in einer Runde eine Frau, die Schriftstellerin Serap Cileli. Weiblich sind die beiden Moderatorinnen, Luc Jochimsen, MdB, frühere Chefredakteurin des Hessischen Rundfunks und Fernsehens und Birgit Klaubert, Vizepräsidentin des Thüringer Landtages und dort kulturpolitische Sprecherin der Linksfraktion.
Diese Tagung ist nicht auf Kontroverse angelegt, und das ist im Vorfeld auch auf Kritik innerhalb der Linkspartei gestoßen. Aber es wird wiederum anerkannt, dass hier etwas eingeübt wird, woran es in der Kultur der Bundesrepublik mangelt: der normale Umgang mit Linken, ein unaufgeregter Austausch zwischen Menschen mit recht unterschiedlichem politischen Hintergrund.
Dabei spielt sich in der Thüringischen Politik gerade der Streit um Etatkürzungen für Theater und Orchester, auch für Kitas und Blindenschulen heftig ab. "Im Bewusstsein des kulturellen Reichtums und der Schönheit des Landes" - so beginnt eigentlich die Verfassung Thüringens. Theater, Museen, Bibliotheken, Schlösser sind eine historische Hinterlassenschaft, von der der Tourismus profitiert und natürlich das gesellschaftliche Leben. Doch ihr Bestand ist gefährdet, da seit Jahren die Mittel beschnitten werden. Nun hat Kultusminister Jens Goebel, CDU, erneut vor, an Theatern und Orchestern zu sparen. Im Bus, mit dem die Konferenzteilnehmer von Erfurt nach Bad Frankenhausen fahren, verteilt eine Frau Material der Initiative "Erhalt Thüringer Kultur". 12 Millionen Euro im Jahr sollen demnächst wieder gestrichen werden, das wären 0,13 Prozent des Landeshaushalts, die ihn nicht merklich entlasten, aber die Kulturlandschaft nachhaltig beschädigen würden.
Der Kultusminister ist auch Gast der Konferenz und verteidigt sich in nachdrücklichem Ton gegen alle Vorwürfe, ohne sie direkt zu nennen: Seine Politik sei auf Vernunft und Augenmaß gegründet, es würde keinen Kahlschlag geben, Thüringen bleibe Kulturland. Dann lässt man ihn ungeschoren, ohne jede Frage gehen. Das bedauern später einige Redner.
Mit zwei Biografien, zwei kulturellen Prägungen soll die Konferenz ihre Arbeit beginnen. Für den Osten spricht Gregor Gysi, für den Westen Hans-Jürgen Rosenbauer, der heute in Brandenburg lebt, wo er den Rundfunksender ORB gründete und leitete. Gysi hält sich nicht an die Vorgabe, spricht nicht über sich, sondern über ein Versagen der linken Intellektuellen im Westen, mit dem 1990 niemand rechnete. Ihr Verstummen zeichnete sich für ihn schon im Anfangsprozess der Vereinigung ab, dann mehr noch angesichts der Kriege, begonnen mit Jugoslawien. Es habe keine Vereinigung der geistigen Eliten gegeben. Er sagt es milde und rasch, als wolle er die Schärfe herausnehmen.
Ob aus zwei Kulturen eine wird, findet Gysi nicht interessant, eher was aus Deutschland heraus Neues entstehe. Damit hat er ein Leitmotiv vorgegeben: Fast niemand will an dieser Konferenz den deutschen Ost- und Westidentitäten nachgehen, sie verblassen angesichts der bedrängenden globalen Zusammenhänge.
Und so nennt der einstige Hamburger Kultursenator Dieter Bialas (FDP) die Ost-West-Unterschiede Firnis, der allmählich abblättern werde. Christoph Dieckmann spricht über sein Misstrauen gegen Kollektividentitäten und will nicht über einer Ostprägung brüten wie eine Glucke über einem Gipsei. Auch Rosenbauer findet die Frage nach der deutsch-deutschen Identität nebensächlich. Eindrücke aus seinem bundesrepublikanischen Lebensweg spult er routiniert ab, aber erzählt eine lustige Anekdote: Als Jugendlicher stellte er in einem Artikel für die Schülerzeitung die DDR nach einem dortigen Besuch zu romantisch-positiv dar, und die Drucker weigerten sich, das zu drucken. Der Konflikt, betont er, ließ sich allerdings gütlich und ohne Folgen regeln. Die wirkliche Herausforderung sei heute die europäische Identität. Doch das europäische Motiv wird dann kaum mehr weiter verfolgt.
Abends liest zum Vergnügen aller Ingo Schulze aus seinem kürzlich erschienenen Roman Neue Leben das passende Kapitel, in dem sein Held erklärt, wie der Westen in seinen Kopf kam.
Im abgedunkelten, runden Saal des Panorama-Museums treffen sich die Konferenzgäste auch am folgenden Tag wieder. Blickkontakte können sie nicht aufnehmen. An ihren Silhouetten ist erkennbar, wie sie zuweilen den Kopf in den Nacken legen oder sich um ihre Achse drehen, um die angeleuchtete Malerei zu betrachten: das ungeheure Rundbild von Werner Tübke mit einer Unzahl mittelalterlicher Gestalten, die auf und ab wogen, wie auf einem sich drehenden Karussell.
Die Figuren werden zu einer Schlacht zusammengedrängt, auf einer Seite die Bauern mit ihrem Banner "Fryheit", auf der anderen die Ritter und Söldner des vereinigten Feudalheeres, in der Mitte Thomas Müntzer, der auf diesem Hügel bei Frankenhausen 1525 gefangen und dann hingerichtet wurde. Die meisten der 6.000 Bauern wurden niedergemetzelt. Figuren reiten durchs Bild, Landsknechte schleppen Bauern zum Galgen, auf dem auch ein Teufelswesen hockt, ein Edelmann stößt einer Dame den Dolch in den Rücken, die ihrerseits einen Toten beklagt. Eine durchsichtige Blase von Hieronymus Bosch leuchtet. Berühmte, auch geschmähte Auftragsarbeit der DDR zu Utopie und Wirklichkeit des gescheiterten sozialen Krieges mit dem Titel Die frühbürgerliche Revolution. Im September 1989 nach einem 12-jährigen Arbeitsprozess feierlich eröffnet, sollte dieses 123 Meter lange und 14 Meter hohe Rundbild einen Gründungsmythos des Staates befestigen, der nur noch einen Monat vor sich hatte.
Jetzt wird das Bild anders gelesen, vielleicht so, wie Tübke es gemeint hatte: als Apokalypse, als Turbulenz einer Zeitenwende, in der alles in Bewegung geraten ist. Und erstaunlicher Weise zieht es immer mehr Publikum an, 100.000 Besucher im Jahr, die den Kyffhäuser, wo tief im Berg der Kaiser schläft, entlang wandern, um zu dem Rundbau des Panoramas zu gelangen.
Eduard Beaucamp, Kunstkritiker bei der FAZ, schätzt Tübkes Arbeit und begleitet sie seit langem. Die Begriffe Staats- und Regimekünstler, die 1989 aufkamen, findet er absoluten Unfug. Sein Bildsprachen-Verständnis sei pluralistisch: "Wenn wir uns nicht auf andere Bildsprachen einlassen, würden wir auch keinen japanischen oder chinesischen Künstler verstehen und nicht mit anderen Kulturen kommunizieren können". Die Politik sollte sehr wohl der Kunst große Aufträge erteilen, wie es in der DDR geschah, sagt er provokant.
Bisky bringt als erster das Publikum zum Lachen. Vom Zweiten Weltkrieg geprägt, gelebt in Ost und West, sei er jetzt endlich ein Schildbürger geworden, einer von jenen, die das Licht mit Säcken in ihr Rathaus getragen haben - aber in Wirklichkeit so klug waren, sich dumm zu stellen und alle Obrigkeiten auflaufen zu lassen. Dort zu leben, sei ihm möglich, denn er sei über die Medien mit der Welt verbunden. Eigentlich interessiere ihn, "welche Impulse die Linke in die Handywelt" geben könne.
Die Position von Migranten und Minderheiten zwischen den Kulturen gerät dann mehr und mehr in den Mittelpunkt der Reden. Serap Ciceli erzählt von der quälenden Selbstbefragung, bis sie ihr Dilemma endlich mit der Arbeit für muslimische Frauen überwinden konnte. Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, kennt wie sie die Spannung zwischen eigener Kultur und der deutschen. Er betont aber, dass Diskriminierung nicht allein aus der Gesellschaft komme, sondern in Behörden seit NS-Zeiten weiterlebe. Michel Friedman sträubt sich als Jude in Deutschland gegen zu viel Konsens: Warum solle er eigentlich eine Symbiose aus den vielen kulturellen Anteilen anstreben? Er wolle wach bleiben, immer neue Teile in sich finden. Der iranische Publizist Bahman Nirumand befindet, die großartige Kultur Europas, die auf dem Individualismus beruhe, habe auch Kapitalismus, Faschismus, Einsamkeit hervorgebracht. Und er vermutet, die Welt sei jetzt eher auf der Suche nach Gesellschaftsformen, die Solidarität und Gemeinschaft stärken. Dieter Kramer weist als Ethnologe auf die vielen Kulturen hin, die gleichberechtigt mit Europa sprechen wollen.
Das alles fasst der Islamwissenschaftler Udo Steinbach, Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg, zusammen: Wir seien in einem tiefen kulturellen Umbruch, müssten uns heute in ein globales Kulturmilieu hineinfinden, in dem wir nur noch ein Teil seien, und nicht unbedingt der gebende Teil. Wir müssten eine Lernkultur werden. Es seien historische Herausforderungen, die wir nur unendlich schwer begreifen würden. Und so konnte es geschehen, dass sich hier in Erfurt vor drei Wochen ein Pfarrer öffentlich verbrannte aus der angstvollen Vorstellung von einem sich unaufhaltsam ausbreitenden Islam.
Das Thüringer Desaster, so nennt Ingo Schulze den aktuellen Konflikt im kleinen Bundesland, rückt als Metapher für den "weltweiten Kampf der Kultur gegen die Barbarei" erst allmählich in den Blick der Konferenz. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, das Effizienzdenken sieht der Schriftsteller als Hauptproblem. Und Oskar Lafontaine reflektiert über das Ziel einer Demokratie, in der jeder Mensch gleich wertvoll sei. Der Regisseur Sewan Latschinian, der in Senftenberg ein verblüffend erfolgreiches Theater leitet, schließt an: Kultur kostet. Unkultur kostet mehr. Kultur ist wie der ganze Mensch lebt. Wenn in Senftenberg das Theater stürbe - Kino gibt es schon nicht mehr - dann wäre es nur noch ein Ort für die Barbarei. Dass es noch existiert, sei dem Mut des Bürgermeisters und eines Landrats zu danken, die sich über amtliche Vorgaben von oben hinwegsetzten. Im ähnlichen ökonomischen Überlebenskampf sieht sich der Intendant des Nationaltheaters Weimar, Stephan Märki, ein Schweizer, der sich bislang auf die Unterstützung aus der Stadt verlässt, ein noch funktionierendes Gemeinwesen, wo die Wut nicht von Resignation gefressen sei.
Die Teilnehmer dieser Tagung sind sich nicht zu nahe getreten. Mit Neugier ist man gekommen, aber will sich nicht tiefer einlassen. Die Vertreter der Linkspartei wollen es auch nicht einfordern. Es ging eher um ein Sammeln, ein höfliches Sprechen. Ein Abtasten vielleicht. So bleibt denn auch als Fazit nur: Wir werden weiter sprechen. Und in den Händen bleibt zuletzt noch ein Flugblatt, auf dem zu einer Protestdemonstration aufgerufen wird, gegen den Thüringer Kahlschlag bei Bildung, Kultur und Integration, am 8. Dezember vor der Staatskanzlei in Erfurt.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.