Stana kommt aus dem Haus. Es ist ein moderner Wohnblock in einem Außenbezirk von Zagreb. Ihr kurzgeschnittenes Haar ist grau durchwachsen, eine kleine Tasche hält sie fest in ihrer Hand. So steigt sie ins Auto zu Sanja R. und mir. Ein wenig später lesen wir Marjana auf, eine Kollegin von Sanja an der Universität. Sie kommt gerade aus ihrer Heimatstadt Split an der Adria zurück, und sie erzählt nochmals die Geschichte, die wir schon in groben Zügen kennen, während Stana wachsam folgt, berichtigt und bekräftigt: Marjanas Mutter, 80 Jahre alt, wohnt neben Stana, die ihr eine gute Nachbarin ist. Für das ganze Haus spielt sie diese Rolle, bäckt Kuchen für alle, spielt täglich im Hof mit ihrem fünfjährigen Enkel und den übrigen Kindern.
Als Marjanas Mutter von einer Reise zurückkehrt, fehlt Stana, und niemand im Haus will die Fragen nach ihr beantworten. Ein auffälliges Schweigen ist da. Der Mann von Stana sagt nur: Sie ist im Krankenhaus und kommt in einigen Tagen wieder. Er schließt die Tür. Erst eine Frau aus dem Nachbarhaus nimmt die alte Dame beiseite und erzählt: Stana sei von einem Mieter des Hauses verprügelt worden, sei mit Gehirnerschütterung in der Klinik. Keiner aber wolle etwas damit zu tun haben.
Auf einmal ist alles vermauert
Was ist das für ein Mann? fragen wir Stana. Er lebt im zweiten Stock mit Frau und drei Kindern, erzählt sie. Ist arbeitslos, steht tagsüber am Fenster, raucht und schweigt. Der älteste Junge, sieben Jahre, ist schwierig, er schlägt oft die kleineren Schwestern. Die Mutter der Kinder ist jung und überfordert. Sie wohnen alle in einem Zimmer. Während der Kriege war der Mann über Monate im Ausland oder anderswo. Hat Geld nach Hause gebracht, aber jetzt hat er nichts. Anlass für sein Ausrasten war ein Klaps, den Stana dem Sohn gegeben hatte, nachdem er die kleineren Kinder aus dem Hof auf die Straße geführt hatte. "Du schlägst meinen Sohn nicht!" Als sie schrie: "Ich werde dich anzeigen", sagte er: "Vergiss nicht, wer du bist."
Stana ist Serbin, kroatische Serbin. Sie wohnt seit 1984 in dem Haus, Parterre, gehörte zu den ersten Mietern. 1991, als es im Winter zu einer Art Serbenhatz in Zagreb kam, beteuerten ihr alle im Haus: Du gehörst zu unserer Familie. Dann aber verlor sie ihre Arbeit in einer Fabrik für Verpackungen, eine große Fabrik, sie nennt sie gern. Die Leute sagten zu ihr, du bist zwar als Serbin entlassen worden, aber klage nicht, 300.000 haben die Arbeit verloren, auch als Kroaten. Das war nicht abzuweisen. Zwischendurch putzte sie stundenweise in einer Schule, bis die Rektorin verlangte, sie und die anderen Frauen sollten "sich erklären". Sie legte einen Zettel hin: "von Herkunft Serbin". Am Tag darauf war sie entlassen. Das alles nahm Stana mit einem gewissen Gleichmut hin, denn in ihrem Leben hatte sich alles gut gefügt. Sie kümmerte sich um die Familie, den Enkel Lion und ihre Mitbewohner.
Als ihr nun der Mann mit seinen Fäusten auf den Kopf schlug, waren andere Mieter in der Nähe. Sie griffen nicht ein. Im Krankenhaus lag sie drei Tage am Tropf. Aber als sie nach Hause gehen durfte, stand davon nichts auf dem Entlassungsschein. Die Polizei nahm ihre Anzeige auf, aber wimmelte die Informationen ab, die sie geben wollte: Wir kommen selbst zu einer Befragung. Der Mann sagte einige Tage später im Vorbeigehen: Denk´ daran, nicht deine Leute regieren, sondern meine.
Auf einmal ist um sie alles vermauert. Was über zehn Jahre galt an Loyalität und Rückhalt, hat sich innerhalb von Minuten in Luft aufgelöst. Die Welt ist verändert. Sehr hässlich ist sie plötzlich. Die Polizei befragt andere Leute, dringt ihr zu Ohren, nicht sie. Das Hospital verweigert ihr den Nachweis der Verletzung. Die Leute im Haus gehen ihr aus dem Weg, außer der alten Mutter von Marjana, die das schändlich findet, aber nichts bewirken kann. Stana gibt sich stolz und grüßt die Mitbewohner nicht. Die Schläge schmerzen längst nicht mehr, aber dieses Schweigen.
"Sie ist exkommuniziert", sagt Z?arko Puhovski, Vorsitzender des Helsinki-Komitees zur Verteidigung der Menschenrechte, Professor für Politische Wissenschaften in Zagreb. Er sagt es müde. Solche Dinge geschehen täglich. Ein winziger Anlass zerstört das Gleichgewicht, das nicht leicht zu haben und zu erhalten ist. Und dann zeigt sich eine gemeine rassistische Ebene der Wirklichkeit. Nach zermürbenden vergeblichen Vorstößen bei Ämtern, Vorgesetzten, Gerichten wenden sich Menschen an das Helsinki-Komitee, das mit einer Schar freiwillig engagierter Juristen versucht, den Fällen nachzugehen und öffentlichen Druck hervorzurufen. Rund 1.500 Fälle kämen hier jährlich hinzu, schätzt Puhovski, in 20 bis 25 Prozent sei das Komitee erfolgreich.
Stana beschreibt einer jungen Juristin mit langen blonden Haaren, der sie im engen Büro gegenübersitzt, trotz ihrer Skepsis leidenschaftlich ihre Geschichte. Es ist klar, dass der Mann aus Frustration über seine Lage so aggressiv wurde und sich instinktiv die Schwächste im Haus aussuchte. Er glaubte, sie sei ungeschützt, er könne sich auf die nationalistische Übereinkunft der Leute bei der Polizei, in der Klinik und im Haus verlassen. Oder auch nur auf ihre Angst, falls sie sich dieser stillen Übereinkunft widersetzen. Vielleicht spekuliert er auf Stanas Wohnung, die nicht nur aus einem Raum besteht wie seine. Der soziale Druck und das politische Klima bringen in ihrer Überschneidung den brutalen Nationalisten hervor. Die Frauen, die Stana davon überzeugt haben, dass sie zum Helsinki-Komitee gehen müsse, wünschen so sehr, dass diese Rechnung des Mannes nicht aufgeht, dass sich kein "rechtsfreier" Raum öffnet.
Verhängnisvoller "deutscher Mythos"
Die Reise durch Sarajevo, Tuzla, Belgrad und Zagreb war der Versuch einer Bilanz: Was sagen und wie leben heute die Menschen, die ich in Situationen des Krieges vor sieben Jahren kennen gelernt habe? Die oft Bürgen meiner Erklärungen waren.
Für Bosnien ist es das siebte Jahr "danach". Auch für Kroatien wurde in Dayton, mit dem Friedensvertrag von 1995, Wichtiges festgeschrieben, vor allem der Einmarsch der kroatischen Truppen in die Krajina sanktioniert. Für Serbien sind die NATO-Luftangriff von März bis Juni 1999 und der Sturz von Slobodan Milos?evic´ im Herbst 2000 die Zäsuren. Slowenien reüssiert als einziger der neuen Staaten - das Land scheint schon außerhalb dieses ganzen balkanischen, jugoslawischen Schicksalskreises zu liegen, so wirkt es im Augenblick.
Die Kriege sind vorbei. Die neuen Staaten anerkannt. Ihre Hauptstädte haben das stimulierende Gegenüber anderer großer Städte im früheren Verbund jugoslawischer Republiken verloren, sie existieren fast separat in einem begrenzten Umland. Die neuen Eliten sind suspekt. Vertriebene dürfen nach den Dayton-Bestimmungen zurückkehren, aber wagen es kaum. Alles ist so gründlich durcheinander gewürfelt, dass ein Wiedererkennen schwer wird.
Auf der Reise durch Kroatien, Bosnien und Serbien bin ich häufig Deutschland begegnet. Gastarbeiter oder Flüchtlinge erzählten deutsche Episoden. Die Mark ist als Währung in Bosnien wieder da. Die Flut an der Elbe hat die Gemüter beschäftigt, Fernsehbilder trafen offenbar auf eine vertraute Vorstellung davon, wie man verzweifelt vor seinem zerstörten Haus steht. Es war auch ein leichtes Staunen im Spiel, dass Leute in dem reichen, gut organisierten Land so in Not geraten konnten.
Am meisten aber fielen Phantasien von der deutschen Nachkriegsgeschichte auf: Ein geschlagenes Volk, das nur noch Rüben zu essen hatte und von den Siegern moralische Prügel bezog, sehr zu Recht, letztlich zum eigenen Vorteil und sich durch Fleiß und Kredite zu ungeahntem Wohlstand erhob.
Über die Voraussetzungen des deutschen Aufstiegs gibt es fast überall Erklärungen wie aus dem Märchen: Als hätte die Nachkriegsnot in Deutschland alle gleich gemacht. Als wären Korruption und Mafia unbekannt gewesen. Kein Schimmer von Schwarzmärkten und Schieberbanden in der deutschen Nachkriegswelt, vom himmelweiten Abstand zwischen Reichen und Hungernden, von Persilscheinen und verlogener Entnazifizierung, von der einsetzenden Restauration unter dem Dach des Antikommunismus.
Jemand klärte mich auf: In Deutschland hätte nach dem Krieg jeder Beamte nachweisen müssen, dass er zwei Juden das Leben gerettet habe, wenn er im Amt bleiben wollte. So müsste man auch mit den Serben umgehen. Als ich ihm, einem Serben, diese schöne Vorstellung rauben musste, saß er für Momente zusammengesunken da.
Der verhängnisvolle "deutsche Mythos" (der ein westeuropäischer ist, aber seine Bilder aus Deutschland bezieht) gewinnt dem Krieg etwas Positives ab, ohne dafür eine besondere Rechtfertigung zu brauchen. Die enorme Aufbauphase nach 1945 hat sich als allgemeines Gesetz im Bewusstsein verankert: nach den Zerstörungen sei Raum für erneute Entwicklung, die bringe Arbeit für alle, eine Blütezeit.
Auch in Westdeutschland tröstete man sich damals ja gern über die Kriegsschrecken hinweg, indem man spitzfindig bemerkte: Die Großmacht England müsse sich mit ihrer veralteten Industrie abplagen, während wir als Deutsche durch Krieg und Demontage über modernste Anlagen verfügten und die alten Gegner überflügelten. Wie ein spätes Echo tauchte nach den NATO-Bombardements von 1999 als kleiner Zynismus hin und wieder die Bemerkung auf, die Serben könnten im Grunde froh sein, dass sie eine so veraltete Autofabrik wie in Kragujevac (25.000 Beschäftigte) auf diese Weise losgeworden seien. Sollten sie eines Tages zur Vernunft kommen, würden Kredite, vergleichbar dem Marshallplan, nicht ausbleiben, und sie könnten nach der Beseitigung der Trümmer ein modernes Werk hinstellen.
Vergessen wird nur, weltweit herrscht Krisenzeit, kein Boom, in den man sich einfädeln könnte. Wer den Anschluss an die technologische Entwicklung verpasst, hat verloren. Zwar stagnierte die jugoslawische Wirtschaft in den achtziger Jahren, aber man gab ihr doch Chancen, wieder aufzuholen: eine entwickelte Infrastruktur und ein Menge gut ausgebildeter Leute waren der Grund. Jetzt ist die Struktur zerstört, und die Menschen arbeiten, wenn irgend möglich, in anderen Ländern, auf anderen Kontinenten. Die Einwanderungsstaaten können sich die benötigten Fachleute aussuchen. Überall geben die ihr Bestes. Wer bleibt, muss froh über Hilfsarbeiten sein. Das ist der Nachkrieg in der früheren Föderativen Republik Jugoslawien.
In der Kapelle eingesperrt
Zagreb, der k.u.k. Charme, die schöne Lage zwischen Hügeln, Straßen mit Kastanienbäumen, die Oberstadt mit dem Markt in zwei Etagen - der Besuch ist ein Vergnügen. Im Zentrum ist schon vieles renoviert, die Kathedrale und die sie umgebenden Kirchen tragen Baugerüste. Kreuze und Madonnen leuchten in neuestem Gold. In der alten Sankt Markus Kirche, gleich neben dem Sitz der Regierung im Zentrum der Oberstadt, aber haben rund 20 von Entlassung bedrohte Polizisten eine Außenkapelle besetzt.
In der offenen Tür stehen einige von ihnen, halten Tafeln und Schilder. Da ist zu lesen, dass sie den Raum nicht mehr verlassen dürfen, solange sie nicht aufgeben. Nur zwei bis drei Meter entfernt stehen ihnen ihre Kollegen in voller Uniform gegenüber. Besucher dürfen bislang kommen und gehen. Aufgeregte junge Journalisten lassen sich von den übermüdeten, nervösen Besetzern die Forderungen und ihre Lage erklären. In der kleinen Kapelle gibt es keine Toilette. Die Protestierenden sind gestandene Männer, deren Ausbildung irgendwie nicht mehr heutigen Normen entspricht, die aber seit vielen Jahren im Dienst sind. Draußen gruppieren sich die Bewacher um ihre dicht vorgefahrenen Autos und passen auf - verlegen, aber entschlossen -, dass keiner der Männer aus der Kapelle einen Schritt hinaus aufs Straßenpflaster tut.
Wie sehr die Menschen psychisch beschädigt sind, wurde auf allen Stationen der Reise unbarmherzig sichtbar, auch hier in Zagreb. Die Gesellschaft fällt auseinander. Jeder ist für sich allein. Die eigene Geschichte zählt nicht länger, denn wer nimmt Anteil? Fast glauben sie sich selbst kaum noch. Der Nachkrieg frisst die Seelen.
Mit diesem Text schließen wir die Reihe der Reportagen von Marina Achenbach über die postjugoslawische Nachkriegsgesellschaft ab. Im einzelnen sind erschienen:
Der Zug C(Ausgabe 44/2002)
Momentaufnahme für Skeptiker (Sarajevo 1 / Ausgabe 47/2002)
Wolkenbruch ohne Vorzeichen (Sarajevo 2 / Ausgabe 49/2002)
Straßen, die langsam sinken (Tuzla / Ausgabe 51/2002)
Die Erregung der Ankunft verfliegt wie ein Irrtum (Belgrad / Ausgabe 1/2/2003)
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