Der Aussteiger

Gregor Gysi Auch wenn er von sich aus geht, bleibt es eine Schwäche dieser Gesellschaft, dass sie einen solchen Politiker nicht halten kann

Die Pressekonferenz passt nicht zum Pathos der Reue und Buße, sagt Thomas Falkner, einer seiner Wegbegleiter und Berater. Wenn Mönchskutte, dann auch Schweigegelübde. Seine schriftliche Erklärung hätte reichen müssen. Was soll er denn sonst sagen?
Das stimmt. Gysi erklärt seine Erklärung. Das tut er, um die Belagerung seines Urlaubshauses zu beenden. Auf der Pressekonferenz zwei Tage nach seinem Rücktritt sind die vielen Journalisten ihm zugewandt, fast in seinem Bann, man lacht, niemand wird gehässig. Vielleicht sind manche erschrocken über die Folgen ihrer Texte. Denn es ist klar, dass seine Entscheidung auch eine Reaktion auf die Medien war, die ihm in den Tagen vor seinem Rücktritt unter die Nase rieben, wie lächerlich er von nun an bei bestimmten sozialen Forderungen wirken werde. Jemand fragt ihn übrigens danach: Wäre er ohne Presseöffentlichkeit zurückgetreten, hätte man ihn nur intern auf den Fehler aufmerksam gemacht? Darauf sagt er ehrlich: ich weiß es nicht.
Gysi ruft zum Schluss, schon ohne Mikro: "Möchte mich verabschieden, die meisten von Ihnen werde ich sicher nicht wieder sehen. - Ich denke, für alle gibt es nun Anlass, über sich nachzudenken." Der letzte, angehängte Satz wurde bisher nie zitiert. Am Abend schon zeigt man in einem TV-Beitrag Gysi als eitlen Selbstdarsteller. Der Topos, auf den man sich festgelegt zu haben scheint. Der Bericht ist nicht aus den Aussagen montiert, mit denen Gysi seine Motive erklärt, sondern aus jenen Momenten, in denen er noch mal salopp nachlegt, um eine Verständigungsebene herzustellen. Auch in der Presse am nächsten Tag erntet er Hohn. Gysi selbst vermeidet in der Pressekonferenz jede Schelte und Vorwürfe an andere. Auf die Frage, ob Bild eine "gezielte Kampagne" betreibe, antwortete er nach einer Pause: "Ja, natürlich. Aber es ändert nichts an meinem Fehler und hat nichts mit meiner Entscheidung zu tun."

Auf dem Redaktionstisch liegt ein Hügel aus Zeitungsseiten über Gysi. Berichte, auch einige Recherchen über die Bonusmeilen, vor allem aber Kommentare, Psychogramme, endlose Spekulationen über seine Motive, über die Zukunft der PDS, dazu Fotos, Karikaturen. Fast alles darin ist so maßlos und vernichtend, dass sich nach der Lektüre der Schluss aufdrängt: Er musste zurücktreten. Das wäre er nicht mehr losgeworden. Niemand hatte zwar vor, ihn zu stürzen, aber die Demontage wäre allen äußerst genussreich. Und diesmal hätte er sich nichts gut verteidigen können, hätte kein dickes Fell vorführen, nichts ironisieren, auch nicht vor den Kadi bringen können. Der Fehler, "den ich mir nicht verzeihen will", passt nicht in sein Selbstbild. Das schwächt.
Auch über dieses Selbstbild wird zu Genüge gehöhnt. "Es muss ein schönes Bild gewesen sein, eine Ikone vielleicht oder sonst was Goldiges ..." (Süddeutsche Zeitung). Gysi hat über Politiker-Images ausführlich geredet, sie als ein wichtiges Element beschrieben, das niemand straflos verletzen dürfe. Es sei bei jedem spezifisch gerichtet, mache einige Fehler verzeihlich, andere zum Tabu.
Warum sollte das nicht stimmen? Bei den ersten schnellen Umfragen in Hellersdorf, wo er zuletzt über 50 Prozent der Stimmen bekam, ergibt sich ein Bild, das sich zusammensetzt aus Enttäuschung und dem Anerkennen der Konsequenz, die Gysi gezogen hat. Im Westen scheint sich eine Art Bedauern zu melden, dass der eloquente Gysi aus so lächerlichem Anlass abhanden kommt. Seine Begründung fällt hier durchs Raster der Denkmuster, sie kann kaum geglaubt werden. Vielleicht würden ihn viele sogar noch mehr mögen, wäre er ihnen ähnlicher geworden, indem er eine Art Kavaliersdelikt zu kaschieren hätte, von dem doch alle wüssten. Der Ost-West-Unterschied ist an den unterschiedlichen Reaktionen wieder einmal zu besichtigen.

Der Schaden für seine Partei, für Berlin, für die Koalition, Egoismus, Unlust an der Kärrnerarbeit als Wirtschaftssenator, mangelnde Ausdauer - Gysi muss sich böse Vorwürfe anhören. Er sagt dazu, die Wirkungen seines Rücktritts seien nicht berechenbar. Ob Bleiben oder Weggehen den größeren Schaden anrichte - wer könne es voraussagen? Tatsächlich gehen die Meinungen der Parteienforscher über die möglichen Folgen für die PDS auseinander, die einen erwarten die tiefe Krise, andere mobilisierende Energie. Dass die PDS nun ohne Glanz sei, wird ihr von allen bescheinigt. Der PDS, "der er überhaupt eine Art Wirkung verschaffte, zieht er das Spielbein weg, auf dem sie doch in Wahrheit steht." Das stellt einer der Herausgeber des Tagesspiegel, Hermann Rudolph, fest. Er sieht sie schon "allein zu Haus, als ostdeutsche Regionalpartei. Jetzt holt der Bedeutungsverlust die PDS vollends ein." Nur Gysi sei es gewesen, der sie "mit der Chuzpe des großen Spielers aus der Konkursmasse der SED heraus neu erfand. Am Ende hat er sie wohl doch nur benutzt für seine Ausflüge in die Politik, ... auch, nicht zu knapp, für sein Geltungsbedürfnis und seine Eitelkeit." Nach diesen Schmeicheleien kommt er zu ernstem Ton: "Nun soll man Gysi nicht schöner malen als er ist. Er gehörte schon, in seiner Weise, zu diesem fatalen Menschenversuch namens DDR." Was für eine Erfindung. Spielt sie nicht mit der Assoziation von Zombies, die aus jenem Hort stammen und sich unter uns mischen? Die wir loswerden sollten.
Gysi tauchte 1989 als Überraschung auf und hat mit anderen etwas bewirkt, das niemand erwartete: Es gibt im vereinigten Deutschland eine sozialistische Partei. Es ist nicht mehr als eine europäische Normalität, die aber im Land, das so sehr nach Normalität strebt, gerade nicht dazu zu gehören scheint. Für diesen Vorgang wurde er zur Symbolfigur, auf die sich viele bezogen, positiv und negativ. Er konnte Vorurteile auflösen, eine Sprache finden, die in Ost und West zu verstehen war, Brücken bauen. Wahrscheinlich hat er ungeheure Energien aufgebracht, um die Transformationsprozesse von einer Staatspartei zu einer Partei, die sich im pluralistischen Wettbewerb behauptet, mit zu steuern, Verschlossenes zu öffnen, neue Themen anzugehen. Für Verhandlungen, Tausende Gespräche, für die Bewältigung von Krisen wird große Ausdauer nötig gewesen sein, die ihm jetzt so leichthin abgesprochen wird. Im NATO-Krieg gegen Jugoslawien hat er für sein Nein, das er nicht nur murmelte, sondern auf allen Ebenen verteidigte, so viel Prügel bezogen, dass man als Zuschauer den Kopf einziehen konnte.

Er hat den Leuten, die die Vereinigung ablehnten", meint Thomas Falkner, "vorgelebt, dass man auch in der neuen Situation zu seinen Idealen stehen und Erfolg haben kann, ohne sich zu verbiegen und dass es sich lohnt, sich unter den neuen Bedingungen zu engagieren. Er hat eine Vorstellung davon vermittelt, dass man sich mit Intelligenz, Kreativität, Integrität, Unabhängigkeit den Zumutungen des politischen Alltags widersetzen und trotzdem Politik betreiben kann." Nun werde für die PDS und auch für andere politisch Engagierte vor allem im Osten ein Problem daraus erwachsen, dass Gysi unfreiwillig zum Beweis wurde, wie erdrückend die Strukturen des kapitalistischen Systems seien und wie sie den guten Kern zerstörten, befürchtet Falkner. Die Berührungsängste würden wieder zunehmen. "Es ist, als hätten die Leute durch ihn eine Grunderfahrung gemacht, die ihre Abgrenzungsneigungen wieder verstärken kann." Innerhalb der PDS wurde die Integration ins parlamentarische System, vor allem Regierungsbeteiligung über die Kommunen hinaus, oft skeptisch verfolgt. In der jungen Welt heißt es in diesem Sinn: "Will die PDS überleben, dann kann sie das nur als Partei der sozialen Kompetenz, dann muss sie den Regierungssozialisten das kapitalistische Regieren verleiden."
Auch wenn Gysi von sich aus ausgestiegen ist, bleibt doch die Tatsache, dass sich diese Gesellschaft eine solche Figur, eine solche Farbe, nicht erhalten kann. Abweichungen scheinen chancenlos, sie werden irgendwann eliminiert. Dieser und andere eigenwillige Politiker - Lafontaine wäre zu nennen, aber es gibt noch mehr - scheitern nicht an offenen Widerständen, sondern an Anderem. Das können verborgene Spiele der Macht sein, der Ausschluss von Entscheidungen, aber auch ein gehässiges Zermürben, eine fortlaufende Demontage. Noch einmal Gysi: "Ich bleibe ein politischer Mensch. Zur Zeit ohne Amt."

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