Ulrich Weiß ist nur ein Jahr älter als die DDR wurde. Als sie endete, war er Mitarbeiter der Staatssicherheit bei der Auslandsspionage, der Aufklärung (HVA). Sein Gebiet war die Ausforschung von CDU und CSU, das heißt die Anleitung von Mitarbeitern im Osten, die die West-IMs warben und betreuten. Er wuchs in und mit der DDR auf, in Thüringen, wo sich der Vater um Felderzusammenlegung und die LPG bemühte, studierte Philosophie und gehört zu jenen, die die DDR prinzipiell bejahten. Seit 1989 bewertet er die eigene Geschichte und die der DDR neu, sucht in den Theorien, umgeht keine Erfahrung. Er tut es ohne Netz, ohne sich erneut an einem geistig sicheren Platz einzurichten, mit gewisser Rücksichtslosigkeit gegen sich. In diversen Kreisen führt er
Die Nacht hinter dem Vorhang
GESPRÄCHE MIT ULRICH WEISS Aus dem Universum der DDR-Auslandsspionage in die Realität eines oppositionellen Sozialisten in der Bundesrepublik Deutschland
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2;hrt er kontinuierlich Diskussionen, arbeitet an Texten, schreibt selbst. Er lernt gern von jungen Leuten, die sich im Sinne ihrer eigenen Lebensinteressen engagieren, seien sie radikal links, anarchistisch oder ohne Theorie.Als im Januar 1990 das Stasigebäude in Berlin, an der Normannenstraße/ Ecke Ruschestraße gestürmt wurde, bewachte Ulrich Weiß die Akten in seinem Arbeitsraum.Im Lauf des Tages war klar geworden, dass etwas geschehen würde. Die Bürgerrechtler hatten aufgerufen, mit Ziegelsteinen zum Staatsicherheitsgebäude zu kommen, um es zuzumauern. Die Dynamik der Ereignisse war nicht berechenbar. Ein paar Leute vom Ministerium für Sicherheit (MfS), die von sich meinten, gute Nerven zu haben, blieben drin, auf eigenen Entschluss. In seiner Etage waren es vier.Sie dachten nur das eine: niemand darf an die Panzerschränke kommen, an die Blechkisten, wie sie bei ihnen hießen. Da lagen die Personalakten und Berichte der Informanten aus dem Westen, für die sie verantwortlich waren. Mit einer Brechstange wären sie in einer Minute zu öffnen gewesen. Akten zu vernichten war längst nicht mehr möglich, der zentrale Reißwolf war gekappt.Sie hatten kein Licht gemacht, auf einem Monitor verfolgten sie, was sich am Tor abspielte und wie das Gebäude gestürmt wurde. Dann konnten sie nur noch von den Geräuschen her die Bewegungen orten.Die Waffen hatten sie weggepackt. Es gab keine Vorstellung davon, auf welche Weise sie im entscheidenden Moment Eindringlinge zurückhalten wollten. Irgendwie hofften sie, ihnen klarzumachen, dass sie diese Akten nicht antasten sollten. Allerdings hatten sie auch eine Ahnung, dass vermutlich die "Aufklärung" aus dieser Geschichte rausgehalten würde.Für sie war der Sturm auf den MfS-Bau nicht ein spontaner Volksaufstand, sondern eine zielgerichtete Aktion, an der auch die Geheimdienste partizipierten. Wer konnte ein Interesse haben, die Aufklärung aufzurollen? Der Westen nicht. Denn würden die Akten auf der Straße liegen, dann wären ja nicht nur die IMs öffentlich, sondern auch Interna der Parteien, Regierungen, Institutionen, die sie gesammelt hatten. Die Bürgerbewegten wiederum betrachteten nicht die Aufklärung, sondern jene Leute als Feinde, die unmittelbar neben ihnen IMs waren und Informationen über sie weitergegeben hatten. Alle Büros aber befanden sich in einem großen Gebäudekomplex auf dem MfS-Gelände, ununterscheidbar. Es stand nicht einmal etwas an den Türen. Sie selbst brachten einen Zettel an "Aufklärung". Würden sie also in dieser Nacht ungeschoren bleiben?Eine paar Mann gingen schnurstracks in die Räume der Gegenspionage, also die Verfolgung von Westspionen in der DDR. Sie wussten, was sie wollten, nahmen die Akten heraus und verschwanden.Der Vandalismus eines Teils des Publikums durfte sich im Küchentrakt austoben, wer immer sie dahin geleitet hatte. Sie machten Kleinholz daraus, berichtet Weiß, obwohl dort nichts Sensationelles zu finden war, keine Westkonserven, dasselbe Sortiment wie in jeder Kaufhalle, sicher vollständiger, aber kein anderes Programm.Das Eigentliche, für ihn Entscheidende, geschah danach und war ganz unspektakulär: "Als die erste Welle vorüber ist, kommt eine Unmasse von Leuten, vom Fernseher weg, ganze Scharen mit den Kindern, nach Mitternacht. Sie schlendern durch den Hof, gucken in jeden Winkel und auf die dunklen Fenster. Ich stehe hinter der Gardine und sehe sie, die Leute, von denen ich bis dahin angenommen habe, dass es ganz berechtigt sei, sie zu lenken, zu leiten, zu schützen. Und sie laufen da wie durch den Tierpark. Sie sehen dich nicht, aber du stehst hinter dem Gitter, du bist der Affe, sie schauen in völliger Gelassenheit. Es ist klar, wir sind weit entfernt von den Leuten. - Wenn du dich vor jemandem verantworten musst, dann vor ihnen. Nicht vor denen, die uns am nächsten Morgen Spießruten laufen lassen und später beim Kanzler auf dem Sofa sitzen. Die sind es nicht, sondern die, die da einfach durchziehen. Das ist ein Urteil: es kann keinen Grund geben, sie zu ihrem Glück zu zwingen.Das dachte ich in dieser Nacht.Ich habe es auch auf ein Blatt geschrieben. Jetzt finde ich es nicht mehr."Der Laden ist zu schützenWährend des Studiums in Leipzig forderte eines Tages die SED-Leitung sie auf, eine Veranstaltung der ausländischen Kommilitonen zu besuchen und kritisch zu beobachten: ein Kubaner sei im Dschungel umgekommen. Sie fügten "mysteriöse Andeutungen" hinzu, wie sich Weiß erinnert: der Tote werde von ultralinken-negativen Kreisen benutzt und gegen die DDR ausgespielt.Es war Che Guevara. Eine Trauerfeier für ihn. Die Rede hielt ein Lateinamerikaner. Weiß fand "kein Haar in der Suppe", war beeindruckt von Guevara. Nur die Losung "Schafft viele Vietnams", von der er später hörte, war für ihn inakzeptabel.Als er das Philosophie-Studium wählte, wusste er, das war Marxismus-Leninismus. ML-Lehrer wollte er zwar nicht werden, wie die meisten, aber es war eine politische Entscheidung. Sie hatte mit seinen bisherigen Erfahrungen, aber auch mit der Atmosphäre jener Jahre zu tun: "In den sechziger Jahren war ein großer Optimismus aufgekommen, der zwar schon wieder an sein Ende geriet, was mir aber nicht bewusst war. Uns war sozusagen alles möglich: Überholen ohne einzuholen, Neues Ökonomisches System, Reformversuche, Automatisierungsprojekte. Technik, Technik! Sie bringt alles. In diesem Sinn habe auch ich die Philosophie betrieben. Was noch nicht gelang, war plausibel: als Rudimente oder negative Einflüsse von außen. Auch die Mauer war mir plausibel: der Laden ist zu schützen, mit der Mauer kann und wird sich im Innern eine große Dynamik entwickeln. Und da kamen welche zu mir und fragten mich: Ob ich bereit wäre, unmittelbar, an der vordersten Front, etwas zu tun, um das zu schützen. Und das war mir eine Selbstverständlichkeit."Schreck über den wiedergefundenen BriefEinmal erkundigte er sich beim Parteisekretär eines Betriebs nach möglichen Kandidaten für das MfS. Der nannte ihm einige, die gar nicht in Frage kamen: sie verkörperten den Typus des treuen Parteiarbeiters, der die Weisungen umsetzt. Eine junge Frau beschrieb er negativ: die sei unmöglich, chaotisch, nicht lenkbar. Sie lerne Spanisch. Jeder Punkt signalisierte ihm: sie ist geeignet. Sie gehört zu jenen, die zwar an alle möglichen Ecken und Kanten stießen, die ungewöhnliche Dinge machten, die etwas wollten, das die DDR ihnen nicht bot, und die waren die richtigen für seine Welt.Aus dieser Perspektive blieb die Kritik an der DDR immer latent. Doch sie hatten ja andere Aufgaben. "Da konnten die Widersprüche wachsen und wachsen, das war noch lange keine Anlass, meine Arbeit in Frage zu stellen."Natürlich wurde er massiv mit den Problemen konfrontiert, die seine Ansprechpartner in Betrieben und Universitäten hatten. Sie knallten ihm Berichte auf den Tisch und hofften, er werde sie mit dem nötigen Nachdruck an die richtige Stelle weiterreichen. Überhaupt war da eine gewisse Erwartung, die Staatssicherheit werde in Kenntnis der realen Lage eine Wende einleiten.Die Erwartung haben sie auch irgendwie angenommen. Aber wenn sie die Dinge weitergaben, ernteten sie Antworten wie: Das ist der 20. Bericht! Habt ihr einen anderen Mann? Wir lösen ihn sofort ab! - "Dann dachte ich: Mein Gott, ein Glück, dass du damit nichts zu tun hast. Ist ja unerträglich."Er richtete den Blick auf das Land und die Welt aus seiner spezifischen Vogelperspektive. Sein Maßstab war der Kampf der Systeme. Noch im Lauf des Jahres 1989 war Ulrich Weiss dafür, den Zerfall der DDR und des Sozialismus notfalls auch mittels Repressionen aufzuhalten. Kürzlich fand er einen Brief von damals wieder, einen nie abgeschickten Brief, der ihn an etwas erinnert, etwas Vertrautes, schon Fremdes. Und wieder einmal wird ihm bewusst, welcher Gewinn es für ihn ist, die damalige Haltung hinter sich gelassen zu haben.Anlass des Briefs war China, die militärische Gewalt gegen die Protestbewegung auf dem Platz des himmlischen Friedens im Juni 1989. Ob denn alles vergessen sei, fragt Weiß? Ob es nicht mehr stimme, dass die "Politik des Imperialismus auf die Vernichtung des Sozialismus gerichtet" ist? Dann kommt das irritierte Eingeständnis: "Die Situation des Sozialismus in der Welt ist gegenwärtig tatsächlich dramatisch. So habe ich das noch nie erlebt." Reformen seien dringend nötig, aber die Konfrontation sei zu scharf, um sie auf breiter Basis durchzuführen. Dem Imperialismus Spielraum zu geben, sei tödlich. Er wisse: "das hat eine ganz üble Konsequenz, nämlich die, dass buchstäblich jede Opposition, auch jene die ursprünglich prosozialistische Forderungen gestellt hat, als potentielle Konterrevolution zu behandeln ist." Er räumt auch die erhebliche Schuld der Partei ein, aber - "es geht um die Existenz des Ganzen".So bringt er Verständnis für die chinesischen Genossen auf. "In dieser Situation gibt es ohne Gewalt, Propaganda und List (ja was denn sonst) überhaupt keine Lösung mehr, die eine zukünftige sozialistische Entwicklung möglich macht."Akten zerschreddern neben der KircheDie Akten, das Papier, die ganzen Unmengen an Aufzeichnungen vernichteten sie bis Ende Juni unter allerhöchster, das heißt bundesdeutscher, Billigung."Eine sehr widersprüchliche Angelegenheit", findet Ulrich Weiß heute. Damals waren er und einige beteiligte Kollegen damit einverstanden, unter diesen Umständen die Akten zu eliminieren, um die Spuren ihrer Partner im Westen zu verwischen. Doch damit gingen auch die Informationen, die diese Leute aus den Parteien, Ministerien, Firmen der Bundesrepublik gesammelt hatten, verloren. Sie hätten noch ungeheuer brisant werden können, wie schon an den Mitschriften von Kohls Gesprächen zu sehen sei, eher ein Nebenprodukt der Geheimdiensttätigkeit."Damals kam ich mir vor wie in dem Märchen, wo ein Mädchen verdammt ist, ihr Zimmer voller Wollfäden zu spinnen. Wir haben einen Raum nach dem anderen mit der Papierwolle gefüllt." Zuerst geschah es in der Normannenstraße, dann zogen sie in ein ehemaliges MfS-Objekt in Berlin-Weißensee, in die Orankestraße, neben die Kirche. Nur einige Leute waren es, sie wurden immer weniger, Weiß hat es mitgemacht bis zum Schluss. Mit kleinen Tisch-Schreddern aus Büros, die heiß liefen, die sie aus ihrer Ummantelung holten, zwischen zwei Schreibtische klemmten, so haben sie die ganzen Akten zermahlen. Dazu kamen noch die Akten der Aufklärungsabteilungen der Bezirke, die eingesammelt wurden. Sie haben irgendwann aufgehört, den Papiermüll in Säcke zu stopfen, sie haben, wenn der Raum bis oben voll war, den nächsten Raum genommen."Manchmal kamen Leute vom Komitee zur Auflösung der Staatssicherheit", erinnert sich Weiß. "Dann wurde alles still in dem Gebäude. Ihnen war es ernst, dass keine Akten vernichtet werden durften. Niemand sagte ihnen: Schäuble und Diestel haben die Beseitigung angeordnet. Wir haben sie in einige Räume mit Akten geführt. Alles sei in Ordnung, der Pfarrer war dabei, um sie zu besänftigen. Und wenn sie wieder draußen waren, haben wir weiter geschreddert."Zwei Herren vom VerfassungsschutzKurz haben sie überlegt, ob sie das Material über neofaschistische Aktivitäten in West und Ost, die von ihnen auch bearbeitet worden waren, übrig lassen. Doch auch daran hingen Informanten, lebendige Menschen, also wurde es zermahlen. Nur selten, für Momente, haben sie darüber nachgedacht, dass sie unwiederbringliches Wissen vernichten. "Wir hatten schon fast einen Schatten."Im Herbst 1990 klingeln zwei Herren, sie zeigen Ausweise, sie wissen, welche Position Weiß bei der HVA hatte, aber beruhigen ihn, es sei kein Verhör. "Wir wollen Ihnen helfen, die Last der Vergangenheit abzuwerfen und den rechtstaatlichen Weg in das geeinte Deutschland zu gehen", notiert Weiß anschließend in seinem Gedächtnisprotokoll. Sie versäumen nicht, auf den Vorteil für ihn hinzuweisen und erklären ihr Anliegen: Dass in Spitzenpositionen weiterhin unerkannt Menschen säßen, die sich für Geld verkauft haben, sei eine Gefahr für die Demokratie. Er könne helfen, sie zu enttarnen, sogar in deren eigenem Interesse. Sie würden sonst eventuell Opfer anderer Geheimdienste.Damit verletzen die Herren offenbar das Berufsethos von Weiß, denn sein Protokoll hält die eigene Gegenfrage fest: "Sie denken also, der Verfassungsschutz hat sich deshalb an der HVA die Zähne ausgebissen, weil der Osten so gut gezahlt hat?" Sie halten es für ganz selbstverständlich, dass es um Geld ging. Allerdings schlägt nun einer schlau vor: "Überzeugen Sie uns doch vom Gegenteil und machen Sie uns mit Leuten bekannt, die aus anderen Motiven heraus mit ihnen zusammengearbeitet haben."Als sie so kein Entgegenkommen erzielen, versuchen sie es mit einer anderen Variante: Ob er etwa moralische Bedenken habe? An seinen Eid denke? Das sei ganz überflüssig: "Die Sache ist vorbei. Sie sind niemandem mehr verpflichtet." Weiß stimmt ihnen sarkastisch zu: "Alles ist erledigt - Auftraggeber, IM, Führungsoffiziere, Motive, Partei, Schwert und Schild. Nichts mehr da, was die Sieger stören könnte..." Doch ihm sei eine Erkenntnis aus allem geblieben: Geheimdienste sind insgesamt fragwürdig. Und er bietet ihnen eine Diskussion darüber an, auf Grund der Erfahrungen, die er ihnen voraus habe. Vergeblich. Nun folgt eine Drohung: Wer mit der Ausspähung der Bundesrepublik zu tun hatte, habe mit Strafverfolgung zu rechnen, es sei denn, er zeige sich kooperativ. Sie nennen ihm die entsprechenden Paragraphen für einen Straferlass. Alles werde vertraulich behandelt, fügen sie noch an.Weiß holt zu einer Rede aus: "Vor wem schützen Sie angeblich Volk und Verfassung? Doch vor mir und den IM's. Und mit wem wollen sie es tun, und zwar heimlich? Auch mit mir! Das Volk wollte mich in der Produktion sehen, nicht aber in Pullach, Köln oder sonstwo." Sie versuchen, ihn zu besänftigen. "Das brauchen Sie sich doch nicht anzuziehen. Nirgends in der Welt sitzt der Auslandsgeheimdienst mit dem inländischen in einem Ministerium. Ausgesprochen schade, dass Sie mit in das Gerangel der Wende gekommen sind ..."Weiß will sich auf diese Sortierung nicht einlassen: die edlen Aufklärer auf der einen Seite und die bösen Stasileute auf der anderen. Obwohl er natürlich den Widerspruch zwischen beiden Teilen des MfS gut kennt. Schon die Figuren Mielke und Wolf waren zwei verschiedene Geschichten, sagt er, aber es würde eben nicht das Wesen treffen.Den Verfassungsschützern fällt nichts mehr ein. Ihre Telefonnummern lassen sie da, und Unannehmlichkeiten sagen sie voraus. Ulrich Weiß stellt sich ohnehin auf eine Zeit der Instabilität ein. Er begleitet sie zur Tür. Ein Ermittlungsverfahren und Verhöre übersteht er später ohne Bestrafungen.Das IM-Netz als MorgengabeWas wäre geschehen, wenn die Bürgerrechtler nicht den Sturm auf die MfS-Zentrale gemacht hätten? Das überlegte sich Ulrich Weiß, nachdem die Herren des Verfassungsschutz bei ihm waren: "Sie brachten ja zum Ausdruck, dass sie den Laden gern übernommen hätten. Ob es nicht doch zu einer Âgeordneten Übergabe gekommen wäre? Vielleicht wäre ein Drittel der Mitarbeiter samt Führung übernommen worden in einem gesamtdeutschen Interesse und hätte das IM-Netz als Morgengabe mitgebracht?"Und er möchte es heute dem Reinhard Schult, den er damals nicht liebte, zugute halten, dass gerade der Sturm auf die Normannenstraße so ein Arrangement verhindert hat. "Dadurch blieb klar: auch wir sitzen mit in dem gesamten MfS-Boot. Im anderen Fall hätte die Bundesrepublik auf einmal den größten Geheimdienst der Welt gehabt. Wir haben ja nicht nur die BRD bearbeitet, sondern auch andere Länder und Erdteile. Wir hatten sicher Bereiche belegt, in denen sie nicht so präsent waren. Denen wäre damit eine Kraft zugewachsen, die in ein großdeutsches Machtstreben glänzend hineinpasst."Zwar ging der Verfassungsschutz die ihn interessierenden Leute an, wie auch ihn. Aber Weiß meint, "die Tatsache, dass eine solche Wut gegen uns entfacht wurde, hat viele von uns - unabhängig von ihrer politischen Auffassung und ihrer Haltung zur Bundesrepublik - in eine Feindschaft gedrängt, die sie so gar nicht gehabt hätten".Dem Neffen zur JugendweiheWas ist Sozialismus? Warum war es in der DDR keiner? Konnte es gar nicht sein, noch nicht? Überhaupt nicht? Obwohl es zwischen Havanna und Peking verschiedene Varianten des Sozialismus gab und gibt, bestand nirgends die Möglichkeit, das zu verwirklichen, was man wollte. Überall etablierten sich Zentralismus und Bürokratie. Warum?Alle seine Überlegungen dazu stammen aus der Zeit "danach". Die Zäsur ist 1989/1990. "Vorher habe ich gar nicht denken können." Vorher war für ihn das Maß an Sozialismus mit von dem Maß an Zentralisation bestimmt. Er sah da keinen Gegensatz.Natürlich war ihm die Kritik am realen Sozialismus bekannt, auch die anderen Konzepte. Er hatte mit Achtundsechzigern und Anarchisten zu tun. Aber die bisherige Geschichte war ihm der Beweis, dass diese Versuche gescheitert sind, dass sie keinen Bestand in der Realität hatten."Ich habe es von dem Standpunkt dessen eingeschätzt, der auf der Siegerseite der Geschichte steht. Zwar war wahrlich nicht alles gelungen, aber die Richtung hat gestimmt. Die anderen sind alle gescheitert. Ganz einfach: Ihr hättet es doch machen können! Das habe ich linken Kritikern der DDR entgegengesetzt. Es ist doch kein Zufall, dass ihr gescheitert seid! - Dieses Argument ist 1989 zusammengebrochen. Ohne dieses Zusammenbrechen wäre ich aus den Dingen nicht herausgekommen."Nach dem Studium hatte Ulrich Weiss ein Angebot, an der Uni zu bleiben und eine wissenschaftliche Karriere zu beginnen. Er hat es ausgeschlagen und bereut das heute nicht: Er wäre ein "ganz blöder Wissenschaftler" geworden. Die sprichwörtliche Treue, auch seine Hartnäckigkeit, hätten ihm verboten, Gedanken zu denken, die er nach der Wende denken konnte. Das diagnostiziert er schonungslos. Wäre er im Wissenschaftsbereich geblieben, hätte er sich bestimmt mit viel Engagement im Rahmen des DDR-Systems nach einzelnen Reformen umgesehen, hätte Alternativen gesucht und im Detail oft Recht gehabt. Er hätte sich "theoretisch fest geklopft. Ich glaube nicht, dass ich zur Erkenntnis gekommen wäre, es geht überhaupt nicht."Seinem Neffen schreibt er zur Jugendweihe: Eine Antwort auf die Frage, wie man zukünftig anders leben könnte und sollte, die kenne ich nicht.Keine Hoffnung auf bürgerliche VernunftIm Westen war er bis 1989 nie, aber das Bild, das er sich entworfen hatte, hielt im Wesentlich stand. Als er sich eine neue Arbeit oder Verdienstmöglichkeit suchen musste, stieß er auf Architekten, für die er in Rostock ein Grundstück für eine Bank besorgte. Auf einmal bewegte er sich in Immobiliengeschäften, bei denen es um Gewerbegrundstücke ging. Und das wurde ein richtiges Praktikum über das Kapital.Westliche Architektengruppen kamen im Auftrag von Firmen herüber, schwatzten den Bürgermeistern rund um Berlin Gewerbeflächen auf, jedes Dorf schuf ein Gewerbegebiet. Wenn die Hälfte der Pläne verwirklicht worden wäre, hätte man das Ruhrgebiet in seinen besten Zeiten übertroffen. Jeder Bürgermeister hatte Stapel von Anträgen, mit denen große Firmen Gewerbegebiete suchten. Es waren überall die gleichen. Kein organisierter Beschiss, aber es war einer. Die Städteplaner und Architekten wussten genau, dass das nicht aufgeht. Da wurden Fördermittel abgezogen, die Gemeinde hatte auch etwas zu investieren, da wurden entsprechende Dimensionen der Abwasserversorgung eingerichtet. Die Gläubigkeit der Leute war erschreckend. Manchmal habe er - obwohl es fast geschäftsschädigend war - gewarnt: rufen Sie doch einmal die Nachbargemeinde an und fragen Sie, welche Anträge dort vorliegen. Seien Sie vorsichtig. Aber die Leute wollten das nicht hören.Er fand nichts von der gesamtbürgerlichen Vernunft, die eben mehr als die betriebs- oder volkswirtschaftliche ist, mit der er doch irgendwie, bei aller Skepsis, gerechnet hatte. Das Thema beschäftigte ihn anfangs. Er las Bernstein und spielte die möglichen Perspektiven durch. Aus bürgerlicher Vernunft, meinte er, dürfte die Bundesrepublik die Dinge im Osten nicht kaputt spielen, nicht die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland und anderen östlichen Ländern kappen und nicht das Wissenschaftspotenzial. Auch das Arbeitsethos, das in der DDR viel galt, in der sich die Leute massiv über die Arbeit definierten, hätte man nutzen können.Da steht das alte Wohnhaus an der Ecke, nicht renoviert, ein Garten, viele Stimmen. Das Haus haben Ulrich Weiß, seine Frau und seine vier Kinder gekauft, bauen es aus. Enkelkinder gibt es, Freunde und Freundinnen aller Generationen kommen, das Haus ist offen. Es ist keine Kommune, die sich zusammentut, um die Welt zu kippen, meint er, und die sich gar an diesem Anspruch misst. Hier wird einfach der Wunsch umgesetzt, für sich eine Realität zu schaffen, die den wirklichen Bedürfnissen entspricht. Er sieht diesen Wunsch an den unterschiedlichsten Orten, bei vielen, meist jüngeren Menschen. Er weist darauf hin, dass heute immerhin auch die materiellen Möglichkeiten vorhanden sind, diese Vorstellungen zu leben. Könnte nicht daraus eine neue Gesellschaft entstehen? Als immer größere soziale Bewegung, ohne Parteien, in denen sich Machtstrukturen immer wieder rekonstruieren?Die Warschawianka in Paris1991 hatte er unvermutet, selbst erschrocken, zu einem Freund gesagt: "Die alten Lieder werde ich nie wieder singen." Beim 1. Mai 2000 in Paris hört er sie erstmals wieder neu, unpathetisch, in einem Rhythmus, der ihm etwas verspricht: "Ich klettere auf eine Mauer. Unter mir ein rot-schwarzes Tanzen, Trommlerinnen, jede Menge junges Volk und alte Leute. Keine Polizei, nichts geht zu Bruch, Mensch feiert sich selbst, eine Vorfreude auf ein anderes Leben. Und auf einmal und dann immer wieder ist es da - das Lied - auf die Barrikaden, auf die Barrikaden! Die Warschawianka. Aber wie wird sie hier gesungen! Eher ein Jubel als eine Drohung..."
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