Am Schwimmbad, dem "Prinzen" in Kreuzberg, sitzt im Sommer auf einem Mäuerchen im Baumschatten eine Zeitungsverkäuferin und betrachtet geduldig, was um sie her geschieht. Anfangs, vor einigen Jahren, saß sie still, mit einer auffälligen Würde, manchmal strickte sie, ihren Kunden blickte sie aufmerksam ins Gesicht. Inzwischen halten viele bei ihr an, auch wenn sie keine Zeitung wollen. Ihre Gemeinde holt sich den Morgengruß ab - "Glick-und-Gesundhait". Man kann sehen, wie ein Lächeln aufkommt, wie es kurz die Gesichter verändert und bis zum Eingang ins Bad wieder verschwindet. Dass sie schon seit vier Jahren in meinen Notizen vorkommt, fällt mir erst jetzt auf.
November 2004. Die Zeitungsverkäuferin vom Schwimmbad steht plötzlich an unserer Brücke. Wie immer in der großen hellgrauen Weste vom Tagesspiegel mit blassrotem Rand, ein Wolltuch um den Kopf, im Nacken fest zusammen gebunden. Man sieht unwillkürlich: das ist nicht auf türkische Art gebunden. Es ist die russische Art. Ihre Hände sind schmal, ihr Rücken gerade, ihre Stimme wie bei einer Märchenerzählerin, auch wenn sie nur sagt: "Ich winsche einen schenen Tag." Vom Wasser her zieht es kalt. Ob sie hier eine Zeitung verkaufen wird? Die Passanten sind nicht daran gewöhnt, an der nächsten Ecke ist ein Kiosk. "Guten Tag, Sie stehen jetzt hier?" "Jo, das Schwimmbad ist zu. Was soll ma machen, ich verkaufe meine Aujen. Koiner will eine Zeitung." Das sagt sie ohne Bitterkeit, reißt ihre wasserblauen Augen auf und lacht.
Januar 2005. An einem Sonntag - sonnig aber kalt - höre ich an der Brücke einen Mann zu seiner Frau gehässig sagen: "Hach, ganz schön schlau die Alte, sich mit paar alten Zeitungen hier an die Brücke stellen und die verkaufen!" Der Mann in Pelzmütze, die Hände in tiefen Manteltaschen, der Frost ist schärfer geworden. Das Paar dreht seine Sonntagsrunde. Woher dieser schnelle Verdacht, diese Missgunst? Da gehe ich zu ihr und frage, wie das Geschäft läuft. Sie wieder im Ton, als erzähle sie ein Märchen: "Och, es gejt, es gejt. Sonntag ist ganz gut. Die anderen Tage - da kaaft niemand nichts. Was kann man machen, so ist das Leben", und wieder lacht sie und tritt immer von einem Bein aufs andere, gelernt, mit Kälte fertig zu werden. Ihr Wägelchen mit Zeitungen lehnt am Geländer, Tagesspiegel, BZ, Morgenpost, Zitty. "Wo kriegen Sie die Zeitungen her?" Die bringe ein Mann jeden Morgen um 5 Uhr 30, erklärt sie. Am nächsten Tag nehme er die alten wieder mit und das Geld für die verkauften. Und weil sie gern erzählt, setzt sie fort: "Vorige Woche kam er nicht, er hatte einen Unfall, das Auto Schrott." Sie sagt Schroot. "Aber er war nicht schuld. Er war verletzt. Einen Tag später kam er wieder, hatte einen Leihwagen genommen. Er braucht doch diese Arbeit. Was will man machen, so ist das Leben."
Sie fragt nach meinem Namen, ich nach ihrem. Sie heiße Emma. Und mit Vaternamen? Karlowna. Als ich wiederhole, Emma Karlowna, sagt sie: "Ja, das war ich einmal. Ich war Oberschwester, Starschaja Sjestra, im Krankenhaus bei uns. Dort konnte ich alles. Hier kann ich nichts. So ist das Leben."
April 2005. Die Knospen sind aufgesprungen, eine Explosion, die Menschen lagern schon am Kanal. Emma Karlowna erzählt auf der Brücke ein "russisches Sprichwort".
Gott gab dem Menschen 30 Lebensjahre. Dem Esel auch. Der aber sagte: Mir reichen zehn. Ich muss so viel Schweres schleppen. Gott bot dem Menschen die 20 Jahre des Esels an, der Mensch nahm sie. Gott gab nun dem Hund 30 Jahre Leben. Der Hund sagte: Mir reichen zehn. Ich muss immer bewachen, knurren und bellen. Gott bot die 20 Jahre des Hundes dem Menschen an, und der nahm sie. Gott gab auch dem Affen 30 Lebensjahre. Der sagte: Mir reichen zehn. Über mich lachen alle. Der Mensch nahm auch die 20 Jahre des Affen.
So lebt nun der Mensch seine eigenen 30 Jahre, die lebt er gut. Von 30 bis 50 lebt er die schweren Eselsjahre: er muss seine Kinder aufziehen, sie kleiden, ein Haus einrichten. Von 50 bis 70 lebt er die Jahre des Hundes: er verteidigt, was er zusammengerafft hat, denn der Mensch will besitzen, will niemandem etwas abgeben. Tja, und zuletzt, von 70 bis 90 ist er schwach und hässlich, und die Jungen lachen über ihn.
Juni 2006. Ein anderer Zeitungsverkäufer hat ihr den Platz am Schwimmbad streitig gemacht. Das ist eine echte Kränkung. Auch für uns Schwimmer, wir vermissen Emma Karlowna. Fürs kommende Jahr ist ihr der Standort wieder versprochen. Einen Sommer bleibt sie nun an der Brücke. Inzwischen hat sie einen Klappstuhl und ein professionelles Drahtgestell für die Zeitungen, auch größere Auswahl. Gestell und Klappstuhl befestigt sie täglich geschickt mit Fahrrad-Gummibändern außen am Brückengitter. Sie wird immer brauner, die Augen blauer. Unter dem Kopftuch drängt ihr Haar hervor, mädchenhaft, wie im Wind.
Vor fünf Jahren ist sie erst nach Deutschland gekommen. Sie hatte den Antrag auf "Rückkehr nach Deutschland" gestellt, weil ihre jüngere Schwester hier krank geworden ist. "Aber als ich kam, war die Schwester schon unter der Erde. So ist das Leben." Ihre zwei Söhne sind dort geblieben, und ihre Enkel. Mit ihnen telefoniert sie. Komm, ruft ihre kleinste Enkelin in den Hörer. Die Kinder der gestorbenen Schwester wohnen an der Nordsee, sind um die zwanzig, selbstständig, es gab Besuche dort und hier, mehr nicht. Als Emma Karlowna nach Deutschland kam, haben die Ämter sie nicht dorthin "verteilt", sondern nach Berlin. Der Verwandtschaftsgrad zwischen Tante und Nichten galt beim Amt nicht. Scheiß-Berlin, sagt sie unerwartet. Es wirkt, als wäre es schajs geschrieben. - "Aber das ist doch ein Glücksfall", widerspreche ich, "alle wollen nach Berlin!" - "Was soll ich in Berlin?" entgegnet sie. Sie sah in Kreuzberg den Landwehrkanal und beantragte beim Sozialamt hier eine Wohnung, "damit ich ein paar Enten und Vögel sehe. Wir hatten doch immer Vieh, Hühner, Gänse, Ziegen, ich habe immer Tiere gehabt, ich will wenigstens welche sehen."
Nachdem die Sowjetunion zerfallen war und die Kasachen sagten, Russen und Deutsche sollen Kasachstan verlassen und dahin gehen, woher sie gekommen sind, da verließen ihre beiden Söhne mit ihren Frauen das Land, das bis dahin das Ihre war, wo sie geboren und aufgewachsen waren und zogen ins Ungewisse, nach Russland, an die Wolga, dorthin, wo Emma Karlowna im Krieg geboren wurde. "Wir waren doch Wolga-Deutsche. Als der Krieg anfing, mussten unsere Eltern in 24 Stunden alles zurücklassen und wurden irgendwohin gebracht, nach Sibirien, nach Kasachstan. Wir waren für alle die Faschisten. Meine Mutter mit zwei Töchtern auf dem Arm. Oh, was wir erlebt haben! Meine Großmutter sagte: Wir hatten alles, Haus und Felder, eine Scheune voll Getreide, Ställe voll Vieh, und dann hatten wir nichts."
Oktober 2007. Es ist noch lau. Ein dünner Fotograf mit Mengen von Kameras um den Hals fotografiert ein Model, das lasziv am schmiedeeisernen Brückengeländer lehnt. Emma Karlowna legt den Kopf schief und senkt die Stimme: "Da drüben, am Ufer unter den Kastanienbäumen, hat er sie nackt fotografiert. Ja, hier gibt es alles."
Sie ist zuverlässig, sitzt auch bei Frost neben den Zeitungen, eingewickelt in eine Decke. Sieben Tage in der Woche. Sie erklärt eines Tages: "Ich kann nicht allein zu Hause sitzen. Ich wurde mein ganzes Leben lang gebraucht, jetzt braucht mich niemand. Ich werde krank. Ich muss hinaus. Darum verkaufe ich die Zeitungen. Und ich bete jeden Tag zu Gott - denn ich bin gläubig - dass er mich eines Tages einfach, mitten an einem Arbeitstag, zu sich nimmt. Wer sollte mich pflegen?"
Als sie auf das deutsche Visum wartete, hat sie Geschichtsbücher gelesen, sie habe wissen wollen, "wie das alles mit uns war. Denn wir grübelten: Wie kann das sein, dass wir nach Deutschland kommen und gleich eine Rente kriegen, obwohl wir dort nie etwas eingezahlt haben?" Da stieß sie darauf, dass ihr Recht noch von Zarin Katharina der Großen stammte. Katharina hatte, als sie den russischen Fürsten heiratete, viele Deutsche als Untergebene nach Russland mitgenommen. Und zugleich habe sie Deutschland einen Goldschatz überlassen und einen Vertrag geschlossen, dass ihre Landsleute zurückkehren dürfen. Doch die gründeten in Russland Familien, bauten Bauernhöfe und blieben. Vor 200, 300 Jahren war es auch hier sehr arm, erklärt Emma Karlowna und schaut um sich, als tauchte das damalige Land vor unseren Augen auf. Katharinas Goldschatz sei die Grundlage gewesen, auf der sich Deutschland entwickelte. Und nun dürften sie wegen des Vertrags von Katharina der Großen, der nie vergessen wurde, nach Deutschland zurück. Sie ahnte nicht, dass es einfach die Folge des damaligen "Alleinvertretungsanspruch" der Bundesrepublik Deutschland war, die für alle blutsverwandten Deutschen die Staatsbürgerschaft vorsah, für die in der DDR, aber auch in Polen wie in Russland - Emma suchte lieber nach einer fast mystischen Erklärung.
Ihre deutschen Vorfahren in Russland sieht sie vor sich wie nahe Verwandte, scheint es. Es ist ihre eigene Geschichte, auch wenn es Jahrhunderte sind. Die Sowjetunion gehört noch dazu. Erst "Gorbatschow und Jelzin haben sie aufgelöst und der Bourgeoisie übergeben", wie sie erklärt, und seitdem ist diese Geschichte aus.
"Ich muss hier bleiben, kann nicht zurück, in Kasachstan habe ich niemanden mehr, und die Söhne haben es in Russland schwer."
Juni 2008. Hitzewelle, am Schwimmbad schon sehr früh Unmengen von Fahrrädern, Emma K. hält mir die gewünschte Zeitung hin, wie immer mit einem kleinen Freuden-Ausruf, der klingt wie: "Tju!". Sie teilt das Neueste mit, mit ihrem unnachahmlichen Abwinken, das dem Spaß am Erzählen keinen Abbruch tut: "Heute ist es schlecht, ein Becken geschlossen." Ein tätowierter Dicker mit Schäferhund radebrecht mit ihr Russisch. Mit noch nassen Haaren kommt ein "Frühschwimmer" heraus und sagt verbittert: "Da drin ist ein Gedrängel, man kann eigentlich nicht mehr schwimmen gehen." - Kacheln sind abgegangen. Und die große Uhr steht, Gras wächst in den Steinritzen, Duschen funktionieren nicht. Der sanfte Verfall ist nicht mal unangenehm, erinnert an Kindheitsorte. Man kriegt nur Angst, das beliebte Schwimmbad mit hohen Bäumen und Vögeln, sogar einer Nachtigall, könnte eines Tages "aus Kostengründen" abgestellt werden wie der Brunnen vor dem Eingang. Der Mann von der Kasse bringt Emma Karlowna einen Becher Kaffee. Und beruhigt uns: Die Renovierung sei fürs kommende Jahr eingeplant.
Am nächsten Morgen um 5 Uhr 30: Emma Karlowna kommt die Straße zum Schwimmbad herunter, zieht ihr Wägelchen mit einer Hand, schlenkert stark mit dem freien Arm, jeder Schritt fest aufgesetzt, als wärs ein Gang über ein Feld. Ein hochrädriger roter Dodge fährt vor, sie gibt die gestrigen Zeitungen ab und das Geld, nimmt die neuen entgegen. Der Mann mit Ring im Ohr macht Scherze mit ihr, aber beide beeilen sich auch. "Ach, Emma, Emma, Emma", brummt er. Sie winkt ungerührt ab, mit dem kleinen Lachen, das ganz das Ihre ist, von dem sie einen unerschöpflichen Vorrat zu haben scheint, und das sie vielleicht durchs Leben rettet.
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