Mit NATO-Bomben begann vor drei Jahren der vorläufig letzte Krieg auf dem Balkan. Am Ende eines Jahrzehnts der Kriege ist eine Region von Protektoraten entstanden, Zwischenlösungen, die niemand wirklich akzeptiert. Die atemlose Entrüstung (über die Serben) ist vorbei. Es ist keine Erkenntnis gefolgt. Nur die Gewöhnung an Krieg, mit eingezogenem Kopf. Nicht einmal Trauer ist möglich ohne Wissen über Ursachen und Zusammenhänge. Diese allmählich erworbene Gleichgültigkeit befriedigt wohl kaum, sie ist nicht einmal verlässlich, kann plötzlich wegkippen. Dann bleibt wieder nur der Rückzug in die "Ratlosigkeit", die in den vergangenen Jahren zu einem Grundempfinden wurde. Aber ein Meinungsvakuum hält nicht lange. Es füllt sich unbemerkt mit vagen, emotionalen, von den Medien herangeschwemmten Begründungen. Damit ist es die beste Vorlage für Manipulation.
So flüchten sich die meisten Leute in politische Abstinenz und lassen den Parteien freie Hand, fast, als würde das Wahlvolk sich aufgeben und dafür bestrafen, dass es diese neuartigen Kriege nicht einschätzen kann und alte Überzeugungen in den Müll wirft. Der angemessene Ton für eine Bilanz der Kriege seit 1990 findet sich nicht. Golfkrieg, Balkan, Afghanistan und noch mehr. Sachlich reden, zynisch, anklagend? Mit jedem neuen Krieg wurden die Waffen zerstörerischer, die Verwirrspiele raffinierter, die Kriegsfolgen unberechenbarer, die Rücksichtslosigkeit gegenüber der Bevölkerung größer. Und das alles in einem Dutzend Jahre, als wären es hundert. Zuletzt sind aus dem amerikanischen Verteidigungsministerium Planungen eines Einsatzes von Atomwaffen durchgesickert. Vor ihnen schützte bisher ein Tabu, das seit 1945 von unendlich vielen Stimmen geschaffen wurde. Sollte es gelingen, es in Luft aufzulösen? Da ist ein Denken und Planen wie von Zombies am Werk, mit einer stringenten Dynamik. Es wird unheimlich.
Als am 24. März 1999 von italienischen Flughäfen die Bomber starteten, war es kaum ein Geheimnis, dass damit nach dem Kalten Krieg das Existenzrecht der NATO bewiesen werden sollte. Vor allem die US-Politik bemühte sich, dieser Allianz eine neue Dimension zu verschaffen. Inzwischen aber hält man sie in den USA offenbar eher für ein Hindernis bei der ungeahnten Beschleunigung militärischer Aktivitäten. Sollte man deshalb etwa - gemeinsam mit einer rot-grünen Regierung - die NATO verteidigen? Jeden Tag eifrig die Politik am "kleineren Übel" ausrichten? Möglicherweise läuft von amerikanischer Seite auch nur ein Einschüchterungsmanöver, um die Westeuropäer zu lebhafteren Rüstungsanstrengungen zu animieren. Wie dem auch sei, eine orientierungslose Bevölkerung lässt jede Wendung zu, es fehlt so völlig ein Leitfaden, ein populäres Konzept, das den Krieg als Mittel der Politik ausschließt.
Eben ist Jugoslawien als Name und Begriff gelöscht worden. Die Behauptung, Jugoslawien sei von vornherein ein den Völkern aufgezwungener Staat gewesen, gehörte in den vergangenen zwölf Jahren zu den Kriegsargumenten. Es klingt historisch fundiert und ist so gut "nachvollziehbar". Bei einer Umfrage ergäbe sich vermutlich, dass ein hoher Prozentsatz Deutscher Jugoslawien für eine kommunistische Erfindung von 1945 hält, die es verdiente, zu verschwinden. Wer weiß, dass Jugoslawien bereits 1919 entstand, betrachtet diesen Staat ebenfalls gern als zufällige Konstruktion, die eben nicht haltbar war. "Von liberalen Intellektuellen im 19. Jahrhundert erdacht". "Aus irgendwelchen Scherben des Habsburger und des Osmanischen Reichs zusammengeklebt". Die Sätze fanden sich jetzt in trockenen Nachrufen auf die jugoslawische Föderation.
So dürftig ging es nicht zu bei der Geburt dieses Staates. Die jugoslawische Idee hatte ihre Plausibilität und viele Verfechter. Sie hatte auch Gegner, die heftigsten waren bornierte Nationalisten. Es kam zu Konflikten, Tumulten, zur Erschießung des Königs aus der serbischen Dynastie. Im italienischen Exil wurde die faschistische Ustascha aufgepäppelt. Doch die größte und erfolgreichste Partisanenbewegung des Zweiten Weltkriegs fußte ganz auf dem "jugoslawischen Gedanken". Gerade die Vorstellung von einem gleichberechtigten Zusammenleben der Völker schweißte die Kämpfer samt ihrer vielen Unterstützer zusammen. Wäre es nur eine fixe Idee gewesen, hätte es kaum so erbitterter Kriege bedurft, um Jugoslawien aufzulösen. Nachträglich stellen sich die deutschen Betrachter an die Seite der üblen politischen Kräfte. Fast ohne es zu merken, lassen sie überhaupt nur Nationalisten als die authentischen Stimmen der jugoslawischen Völker gelten. Wer über den Dunstkreis seiner Ethnie hinaus denkt, ist suspekt.
Da im zerbombten Afghanistan nicht so schnell Frieden einkehrt wie versprochen, tauchen immer häufiger in den Medien die ethnischen Gegensätze als Ursache der Konflikte auf, obwohl dort eher große Familienverbände die Grundstruktur der Gesellschaft ausmachen. Die Öffentlichkeit in Deutschland - in Westeuropa überhaupt - hungert nach Bestätigung dafür, dass ein Staat mit unterschiedlichen Religionen und Völkern nicht funktionieren könne. Mit solch falschen Diagnosen lässt es sich elegant vermeiden, über Öl und Gas nachzudenken, das die Maschinerien der hochindustrialisierten Welt am Laufen hält. Und die unendlich gewalttätigen Machtkämpfe um die begrenzten Ressourcen lassen sich auf diese Weise ebenso verdrängen wie die eigene Rolle in den Kriegen des letzten Jahrzehnts. Deutschland schickt seine Soldaten aus, die noch frisch auf fremden Terrain sind, vielleicht noch moralisch unverbrauchter als andere. Bevor sie künftig mit Routine ihr Kriegshandwerk ausüben, können sie sich in dieser ersten Etappe der neuen Kriege nützlich machen, indem sie die Schäden beseitigen, die US-Bomben angerichtet haben. Dabei werden sie lernen, dass Kriegsschäden in Wirklichkeit nicht reparabel sind. Darüber werden sie wahrscheinlich nie sprechen. Weil niemand es wissen will.
Es wird unheimlich
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