Immer unter Häresieverdacht

DER THÜRINGER PFARRER JO WINTER Von den Schwierigkeiten beim Versuch, sich treu zu bleiben

Er darf wieder predigen. Auch wenn er keinen Talar überwirft und wieder seine Gedichte in die Predigt einflicht oder zur Gitarre Lieder im Gottesdienst singt und antimilitaristische Aktionen plant - er darf nun wieder auf die Kanzel seiner Dorfkirche treten. Er darf auch im Pfarrhaus wohnen bleiben, mit seiner Frau Maria. Mittelalterliche Heiligenfiguren stehen im Haus, die er in vergessenen Ecken oder auf dem Dachboden gefunden hatte und restaurieren ließ. Auf Grund von nie wirklich nachgeprüften moralischen Anschuldigungen war ihm das Predigtrecht entzogen worden, für eine Frist, die ursprünglich fünf Jahre dauern sollte. Auf Grund großer Gegenwehr wurde das Verdikt nach einem Jahr zurückgenommen. Die ganze Auseinandersetzung aber hat fünf Jahre gekostet. Es ist die schwierige, doch manchmal auch beglückende Geschichte vom Bemühen, den Widerständen zum Trotz sich und den Ideen treu zu bleiben, mit denen man begann.

Jo Winter war lange Jugendpfarrer. Mit dem Kreis, den er hier vor 25 Jahren aufbaute und mit dem er die Gruppe "Gewaltlos leben" gründete, trifft er sich bis heute zu Diskussionen und Aktionen, obwohl sich die "Glieder" weit verstreut haben. Jugendgruppen der nachfolgenden Generationen sind immer neu entstanden. Das Aktivistische ist ihm geblieben. Und in seinen Stasiakten durfte er nachlesen, dass ihn ein Kollege als "noch nicht erwachsen" charakterisierte. Was wohl heißt: nicht angepasst und nicht zufrieden mit der Erfüllung der konventionellen Pflichten.

Wie in eine fremde Geschichte eindringen? Zuerst sieht man das Dorf: Langenschade, acht Kilometer lang, Fachwerkhäuser, sie folgen fügsam dem Tal, das sich mit einem Bach windet. Oder der Bach schlängelt sich mit dem Tal. Heißt er Schadebach, weil er mit seinen Überschwemmungen Schaden anrichtet? So vermuten es die Einwohner. Die Kirche steht auf einem kleinen Buckel im Tal. An dieser Stelle, wo die Überschwemmungswasser nicht hinreichten, haben die Mönche, die vor 1.000 Jahren über die bewaldeten Hügel kamen, eine Kapelle errichtet, um die Talbewohner zu taufen. Ein enger steinerner Tunnel, vorn und hinten offen, der Wind wehte hindurch. Jo Winter hat mit der Jugendgruppe diesen Raum, der an einer Seite der später errichteten Kirche kaum noch kenntlich lag, restauriert: ihr kleiner Versammlungsraum heute. 350 Einwohner hat das Dorf, davon gehören 250 zur Kirchgemeinde. Die Aktiven der Gruppen kommen aus einem Umfeld von rund 50 Kilometern.

Diese Pfarrstelle wurde 1997 von der Kirche aufgegeben und der nächst größeren Gemeinde Unterwellenborn zugeordnet, ohne Voranmeldung oder Gespräch, per Verordnung. Pfarrer Winter wurde aufgefordert, die Stelle zu wechseln. Den Brief mit dieser Mitteilung hat er unkommentiert zurück geschickt. Annahme verweigert. 1.200 Gläubige gelten als untere Norm für eine Pfarrstelle. "1.000 Jahre konnte sich die Kirche diese Gemeinde leisten, die nie größer war als heute. Jetzt nicht mehr?" Er akzeptiert das nicht: hier sei der Ort, an dem er gebraucht wird.

Regeln einfach so zu akzeptieren, weil Autoritäten sie setzen, war wohl nie seine Sache. Als Sohn einer Witwe - sein Vater fiel 1944 - hatte er Mathematik fürs Lehramt studiert. Aus seiner Geburt als Kriegshalbwaise leitet er übrigens ab, ein "geborener Pazifist" zu sein. Das leuchtete seinen Jugendlichen ein. Doch während seines Mathematikstudiums hatte man ihn als angehenden Lehrer aufgefordert, die evangelische Studenten-Gemeinde zu verlassen. Es gab Drohungen, Sitzungen, den Rausschmiss aus der FDJ. Ein Jahr vor dem Studienabschluss wechselte Jo Winter zur Theologie. Die Staatssicherheit begann irgendwann, sein Tun zu beobachten.

22 Ordner der Stasi aus den Jahren 1982-1989 fand er, einige, auf die verwiesen wird, fehlen. Er hatte sie gar nicht lesen wollen, vier Jahre weigerte er sich. Als er sich endlich doch dazu entschloss, stieß er auf die Berichte von 37 Leuten. Keiner von ihnen hat sich nach der Wende selbst bei ihm gemeldet. Winter hat die Notizen kopiert, jedem und jeder die eigenen schriftlichen Zeugnisse zugeschickt. Erst dann begannen die Gespräche.

In den Akten ist er der "reaktionäre Pfarrer W.", "negativ-feindlich". Die äußeren Kennzeichen wurden auf einem Formular angekreuzt. "Mund: groß / Lippen: dünn / Augen: grün-braun / Haarstruktur: glatt / Frisur: ungescheitelt nach vorn, ungepflegt / Finger: Nikotinfinger ..." Doch auch ein gewisses Vergnügen mag Winter gehabt haben, als er lesen konnte, welche Tüchtigkeit ihm bescheinigt wurde: "Winter gibt sich jugendgemäß, ist derb in der Ausdrucksweise, hat schier unerschöpfliche Ideen und ist auch in seiner ganzen Haltung ein Mensch, der den jugendgemäßen Pfarrer versinnbildlicht. ... der Intelligenzgrad des W. ist operativ zu beachten."

Die Stasi plante auch Maßnahmen gegen den Pfarrer, und schon damals gab es die Versuche, unter die Gürtellinie zu zielen: Ein Oberst Seidel bittet um "Unterstützung, dass W. als Chaot, auch von der Moral her gesehen, ins Abseits gerückt wird". Auf Mopedfahrten sei er zu kontrollieren: "Zielsetzung ist ein evtl. Nachweis, daß er unter Alkoholeinwirkung fährt". Als er 1988 zu einer Kehlkopfuntersuchung in die Universitätsklinik Jena geht, wird in interessanter Orthographie gebeten zu "prüfen, ob durch inoffizielle einflusznahme die moeglichkeit besteht, die berufsuntauglichkeit zu bescheinigen". Da offenbar die Erfolge ausblieben, beruhigte sich die Stasi mit der Einschätzung, Pfarrer Winter sei "objektiv nicht in der Lage, im Territorium gesellschaftspolitische Veränderungen entsprechend seiner Zielstellung zu erreichen".

Während seiner Lektüre der eigenen Akten gab ihm die Gauck-Behörde einen Forschungsauftrag über Stasi und Kirche in Saalfeld. Die Kirche unterband es nicht, aber er wurde doch für die "Aktenschnüffelei" getadelt. Für Jo Winter verflechten sich die Intrigen von damals und heute. "Altlasten" ahnt er immer wieder und Verbindungen und Loyalitäten , die noch halten.

Die Stasi bemerkte immerhin auch, dass es Unzufriedenheit von "leitenden Amtsträgern" der Kirche gab, die sich gegen das Auftreten des Sängers Stephan Krawczyk richtete. Mit ihm war Winter damals sehr befreundet. Es sollte "ausgenutzt werden", dass den Amtsträgern manches zu weit ging, "um Winters Kontakte zurückzudrängen". Von unbequemen, engagierten Pfarrern wie Jo Winter mochte wohl der Kirchenapparat nicht die Balance mit der Macht gefährden lassen. Geheuer war er konventionelleren Kollegen sowieso nie: Wie er wohl eine Taufe mache, fragte ihn ein alter Pfarrer einmal. Immer schon stand er unter Häresieverdacht.

Die Jugendgruppen seines Kreises erarbeiteten einmal eine Art Selbst-Verpflichtung, nach dem Vorbild von Martin Luther Kings Zehn Geboten. Das Konzept gründete auf Wahrhaftigkeit und Pazifismus. Es entstand 1984 aus der Beschäftigung mit der Bergpredigt. 200 junge Leute waren am Text beteiligt. Der Name "Gewaltlos leben" entstand aus dem Moment. Er ist ihnen geblieben. Und es ist wohl die einzige kirchliche Friedensgruppe, die die Jahre 1989/90 überlebt hat und weiterhin aktiv ist.

Damals schrieben sie ein Jahr lang gemeinsam an den Texten für das antimilitaristische Kabarett Amika. Aus Kinderbüchern, Armeeverordnungen, eigenen Erfahrungen entwickelten sie einen Lebenslauf vom Kindergarten bis zum Soldatenleben: Wie schon bei den Kleinsten die Liebe zu den Panzern der Nationalen Volksarmee geweckt wird. Wie sie dann als Schüler militärisch getrimmt werden. Das Kabarett spielte eine "Minensuchaktion" nach, die in einem Buch mit dem Titel Spielen und lernen von 1980 für den Sportunterricht empfohlen wurde. Wer eine Mine berührt, fällt um. Als das Spiel zu Ende sein soll, bleiben die Schüler auf der Bühne liegen, während der Sportlehrer tobt. Es ertönt "Ich hatt' einen Kameraden". Im Publikum wischten sich manche die Augen bei der Szene. Mit dem Stück zogen sie erfolgreich durch die Kirchen und kirchlichen Gruppen des Südens der DDR.

Auch für Nikaragua sammelten sie. Da berührten sich Ost und West, linke und kirchliche Gruppen. Vielleicht suchten sie gegen die Arroganz der Macht die Berührung, ohne sie zu proklamieren? Und nach dem November 1989 hissten sie jeden Freitag die weiße Fahne am Fahnenmast des Wehrkreiskommandos, in dem noch die NVA saß. Das weiße Tuch war stets am folgenden Tag verschwunden. Zur Weihnachtsrüstzeit aber besuchte der Oberst die Gruppe. Vorsichtig versuchte man ein Gespräch, die weiße Fahne blieb hängen. Eines Tages rief der Oberst an: Es werde eine Bundeswehrinspektion erwartet. Er bat, sie mögen die weiße Fahne einziehen: "So kann ich das Objekt doch nicht präsentieren." Später tauchte ein Major der Bundeswehr auf. "Der Oberst hat viel von ihnen erzählt", leitete er den ersten Kontakt ein. Den Fahnenmast ließ er kurzerhand demontieren.

Dachte er, das Problem mit der Gruppe erledigt zu haben? Als sich 1992 die Bundeswehr in der Gegend mit einer Show "Unser Heer" präsentierte, stand die Gruppe wieder mit Mahnwachen da: "Die werben fürs Sterben".

Irgendwann begann eine seltsame Geschichte um den Pfarrer, eine unheimliche Intrige. Hatte das indirekt noch mit der Stasi zu tun? War es eine Antwort auf Jo Winters Bemühungen, über den Einfluss des MfS auf die Evangelische Landeskirche im Saalfelder Raum wissenschaftlich zu arbeiten? Denn beides begann 1994 fast zeitgleich.

1995 wurde Jo Winter von einer Anzeige der Theologiestudentin Claudia B. überrascht, die 1992 ein Praktikum bei ihm absolviert hatte: Der Pfarrer habe sie damals vergewaltigt. Inzwischen studierte sie in den USA. In einem therapeutischen Gespräch erinnerte sie sich der ihr angetanen Gewalt. Die Kirche schickte ihre Funktionäre ins Pfarrhaus zu einem Verhör. Sie verfügt über ihre eigene Gerichtsbarkeit. Weder der pastorale Amtseid, die entlastenden Erklärungen vieler Leute, noch die Tatsache, dass die Glaubwürdigkeit dieser Zeugin durch ihre wechselhaften Aussagen erschüttert wurde, hielten den Prozess gegen ihn auf.

Natürlich gibt es, wie meist, eine Vorgeschichte, auch mit Claudia B. Sie war schon 1988 zeitweilig in die kirchliche Jugendgruppe Langenschade gekommen, mit den zwei Schwestern T. aus dem nahe gelegenen Rudolstadt.

Die drei jungen Frauen verschwanden wieder, doch 1991 wurde Claudia B., als sie sich zum Theologiestudium entschloss und eine Art Schuldbekenntnis ablegte - "sie habe sich benutzen lassen, immer das liebe Kind sein wollen und immer alles mitgemacht" -, mit offenen Armen von der Gruppe "Gewaltlos leben" wieder aufgenommen. Und ebenso offen wurde sie für drei Monate im Pfarrhaus aufgenommen, um ein Praktikum zu absolvieren. Das lobte sie anschließend überschwänglich. Mit dem Studium in den USA wandelte sich dann ihre politische Haltung so stark, dass es 1992 nach einem Besuch zum Bruch mit Jo Winter und der Gruppe kam.

Und nun, wieder zwei Jahre später, diese Anzeige.

Lange schien es, dass die Kirche ihrem Pfarrer keine Chance einräumen wolle. 1997 rief ihn die Landeskirchenleitung wieder zum Verhör, auch diesmal aus einem obskuren Anlass: Eine Information der Staatsanwaltschaft Gera besage, dass ein Strafbefehl wegen Zusammenrottung anstünde. Die Gruppe "Gewaltlos leben" hatte vor einem Bundeswehrcontainer demonstriert. Die Kirche wusste von dieser angedrohten polizeilichen Maßnahme eher als Winter selbst, wobei es dann gar nicht zur Anzeige kam: Die Kundgebung war ordentlich angemeldet worden.

Dann wurde überraschend eine "Gedeihlichkeitsüberprüfung" angesetzt, zwei Jahre früher als üblich. Usus sind solche Überprüfungen nach rund zehn Jahren, meist locker gehandhabt, aber hin und wieder auch als Mittel benutzt, sich unliebsamer Mitarbeiter zu entledigen.

Geklärt wurde nie etwas. Die Kirche wandelte den Vergewaltigungsvorwurf in "seelische Vergewaltigung" um. Damit wurde Winter im kirchlichen Gerichtsverfahren der Thüringer Landeskirche nach § 127 des Disziplinargesetzes 1999 die "öffentliche Wortverkündigung und die Sakramtentsverwaltung sowie die Vornahme von Amtshandlungen" für die Dauer von fünf Jahren untersagt.

Die Welt verdüsterte sich. Wie viele quälende Gedanken über Verrat, über die Motive der Intrigen, dazu Ängste, Kränkungen ließen sich nicht mehr abschütteln. Maria, die Frau des Pfarrers, war fast zermürbt von den Ereignissen. Aber allein blieben sie nicht. Zeuginnen meldeten sich zu den Verhandlungen der Kirchengerichte. In der so oft gescholtenen Presse erhielten Winter und seine Verteidiger das Wort. Und Jo Winter ging in Berufung. So kam es im Februar 2000 vor dem obersten kirchlichen Gremium, dem Disziplinargericht der EKD zur Verhandlung. Vor der Tür des Verhandlungsraumes harrten 50 Freunde 14 Stunden lang mit einem Sit-in aus. Das Gericht hob zwar die Urteilsbegründung nicht auf, gab aber die Angelegenheit der Landeskirche zur neuen Verfügung zurück - eine Aufforderung, den Konflikt beizulegen.

Dezember wurde es, da betrat Landesbischof Hoffmann das dörfliche Pfarrhaus. Der hohe Besuch verkündete: Du darfst hier weiter leben, Pfarrer sein, die sich ausweitende Gruppe "Gewaltlos leben" betreuen und am 11. Februar 2001 wieder den ersten Gottesdienst in der Dorfkirche halten.

Was wird er dann wohl sagen? Was singen? Vielleicht wird er von den bosnischen Kindern erzählen, von den 20 Schülerinnen und Schülern, denen ein kleines Stipendium zukommen soll? Es sind Waisenkinder. Jo Winter und einige andere aus der neu gegründeten Gruppe Za Djaka haben sie im verngenen Sommer besucht. Die Kinder hatten sie bei Großeltern oder Verwandten gefunden, manchmal in abseits gelegenen, übriggebliebenen Häusern oder in kleinen Dörfern. Sie haben eine Kontaktfamilie aus dem Umfeld der Gruppe "Gewaltslos leben" bekommen. Auch diese Aktion ist wieder auf Dauer angelegt. Der Wunsch ist, dass - begleitet von der Hilfe - Freundschaften entstehen.

Von Jo Winter erschienen: Quergewendet. Gedichte. Verlagsbuchhandlung Mehlhorn, Leipzig 1995 27,80 DM

die bande, Gedichte und Zitate aus Stasi-Akten, Leipzig 1996 24,80 DM

Nota. 49 Lieder und Noten, Langenschade 2000, 20,80 DM

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