Letzter Fels in der Brandung

Perspektive des Gewerkschafters Für Richard Polzmacher, Bezirkssekretär der IG Metall in Bayern, hat sich die »alte Ursuppe« aus Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung in ihre Bestandteile aufgelöst

Als er seine Lehre anfing, gab es noch die 44-Stunden-Woche, jeden Samstag wurde vier Stunden gearbeitet. Dann startete die große Aktion für die 40-Stunden-Woche und er erfuhr, »wie viel man bewegen kann, wenn man sich organisiert«. So beschreibt Richard Polzmacher die Erfahrung aus den sechziger Jahren, die für ihn seitdem zählt. Er lernte Modellschreiner bei Krauss-Maffei in Allach bei München. In der Gewerkschaft zu sein, war in seiner Familie selbstverständlich, aber mehr Aktivität gab es nicht. Im Betrieb traf er »einfach sehr gute Leute«. Einer hat ihn auch provoziert, wenn die Lehrlinge gemotzt haben: »Schlau reden kann jeder, aber was tun!« Und schon war er als Kandidat für die Jugendvertretung aufgestellt. 1967 hat jener Kollege ihn auch für die SPD gewonnen: »Da hilft alles nichts, da musst du rein, die Arbeiterfraktion stärken!« Die SPD hatte erheblichen Zulauf, nur Arbeiter waren nicht darunter.

Bei Krauss-Maffei gab es wie in allen großen Betrieben eine Jugendgruppe der Gewerkschaft, Polzmacher wurde ihr »Jugendleiter« und ging auch zur Gewerkschaftsjugend in München. In den Jahren um 1968 mischte hier der Gewerkschaftliche Arbeitskreis der Studenten mit, eine Art Ableger des SDS, wo sich jene engagierten, die den Kontakt zu Arbeitern suchten. Von da her datiert unsere Bekanntschaft. Inzwischen gehört Richard Polzmacher zum Landesvorstand der IG Metall in Bayern und ist zuständig für die Tarifpolitik. Er wohnt in einem niederbayerischen Dorf bei Landshut.

In Fleisch und Blut

»Wenn ich in Zeiten, in denen Tarifrunden laufen, zum Stammtisch komme, klopft mir der Nebenerwerbslandwirt Hueber auf die Schulter und sagt: ›Hart bleiben. Geld brauchen wir.‹ Das ist ihm schon klar, er ist auch organisiert, aber alle vier Jahre wählt er seinen Stoiber. Am Stammtisch sind auch ehemalige 68er - jetzt Anwälte, Ärzte, Künstler, die irgendwann hier rausgezogen sind. Für die ist Gewerkschaft gar nichts. Die zählt überhaupt nicht, sie wissen nichts darüber. Irgendwann hat einer gestaunt: ›Was Du alles erzählst, das ist ja kaum zu glauben - ich habe ein ganz anderes Bild von den Gewerkschaften!‹ Für diese Leute gilt, Lohnforderungen machen die Volkswirtschaft kaputt. Das haben sie in Fleisch und Blut. Zu solchen Schlussfolgerungen muss man auch kommen, wenn man das ganzes ökonomische Wissen aus der ›Süddeutschen‹ holt.«

Simple Tatsachen würden unterschlagen, meint Polzmacher, so die Produktivitätssteigerung von sechs bis sieben Prozent pro Jahr: höhere Produktion mit den gleichen Leuten. Die großen Unternehmen könnten eine dreiprozentige Lohnerhöhung aus der Westentasche zahlen. Öffentlich aber schreien sie, als wäre es der Untergang der Wirtschaft. Nur entwickle sich die Wirtschaft gerade dort am günstigsten, wo die Gewerkschaften stark seien. »In Baden-Württemberg ist das Lohnniveau hoch und die Wirtschaft erfolgreich.« Wo Gewerkschaften entmachtet wurden oder keinen Fuß auf dem Boden hätten, sei die Wirtschaft schwächer, die OECD sage es auch. Das widerlege jene fixe Idee, intakte Gewerkschaften, die hohe Löhne durchsetzen, würden die Wirtschaft abwürgen. »Es ist eben Nonsens. Aber das haben die Leute drauf. Das wird gepredigt bei uns, das ist Lehrmeinung.«

Die Debatten heute seien grundsätzlicher Natur, meint Polzmacher, »es gibt zur Zeit politische Strömungen, die wollen die Gewerkschaften als letzten Fels in der Brandung sprengen. Dann hätten sie freie Hand. Es ist irrsinnig, was für Geld die Unternehmer in den Kampagnen gegen uns rauspulvern. Ohne Ende. Der Verband der bayerischen Metall- und Elektroindustrie macht Anzeigenkampagnen, Veranstaltungsreihen. Ein enormer Aufwand.«

Und leider gelinge es ihnen, laufend die veröffentlichte Meinung zu beeinflussen: Gewerkschafter als Deutschlands größte Bremser etcetera. »Die Leute, die arbeiten, wissen, dass es Kokolores ist. Aber wir erreichen im Grunde nur unsere Mitglieder. Wenn du hier in Landshut in keiner Zeitung mehr erscheinst, wird es schon schwierig. Die Schlacht ums öffentliche Bewusstsein steht schlecht, so dass wir im Moment wirklich einen Trend gegen die Gewerkschaften haben.«

Leider würden zur Zeit in der Führung der Gewerkschaften - in der IG Metall besonders - die Figuren fehlen, die gegenhalten könnten und dafür genügend Ausstrahlung hätten. »Dem Umstand, dass wir eine Mediengesellschaft haben, musst du Rechnung tragen. Es hilft nichts, du musst hingehen, auch wenn es dir zuwider ist - der Zwickel geht ja nicht mehr zur Christiansen - aber du musst Klartext reden, das gehört dazu.«

Zum Verrücktwerden sei es, wenn Leute wie Merz oder Westerwelle rumrotzen dürften, es komme darauf an, die Macht der Gewerkschaften zu beschneiden! Als wären die Schwierigkeiten der Ökonomie auf die Macht der Gewerkschaften zurückzuführen. Welch grandiose Überschätzung! Bei der 1.-Mai-Kundgebung wird Polzmacher als Redner dazu etwas anmerken: Es war der Neonazi Schönhuber, der als Letzter forderte, die Macht der Gewerkschaften zu brechen, vor ihm nur Hitler (s.auch »Ungute Traditionen«, diese Ausgabe, Zeitgeschichte).

Tarifpolitik als Häuserkampf

Die politische Auseinandersetzung wird heute im Kern um das Tarifrecht geführt. Die Tarifvertragsparteien sind bisher gesetzlich festgelegt, dazu gehört das Recht, einen Abschluss durch Streik zu erzwingen. Das Betriebsverfassungsgesetz bestimmt wiederum die Existenz und Rolle von Betriebsräten, eine bundesdeutsche Besonderheit. Zu ihrer Kompetenz zählen nicht die Löhne, Arbeitszeit und andere tarifrechtliche Dinge. Die neuste Kampfansage heißt, das Tarifrecht den Gewerkschaften zu entziehen und den Betriebsräten zu übertragen.

»Wenn das passiert, löst sich die Tariflandschaft auf, dann machen die meisten Unternehmen mit ihren Betriebsräten eine eigene Tarifpolitik. Dann ist der Flächentarifvertrag kaputt, dann hast du das, was Norbert Blüm den ›Häuserkampf‹ genannt hat: Tarifbewegungen und Kämpfe von Betrieb zu Betrieb. Wir würden uns natürlich auch darauf einlassen - das Streikrecht haben wir immer noch. Aber im Grunde ist es für beide Seiten Irrsinn, das haben die Unternehmer nur noch nicht begriffen: Durch Streik in einem einzelnen mittleren Betrieb kann morgen die Automobilindustrie in Westeuropa blitzartig stillstehen, bei der üblichen Just-in-time-Produktion. Aus Unternehmerperspektive ergibt diese Politik nur einen Sinn, wenn zugleich das Streikrecht abgeschafft oder eingeschränkt wird. Aber dann stünden wir vor einem ganz großen Konflikt, das wäre schwer durchsetzbar, denke ich.«

Für Richard Polzmacher wäre das von der Dimension her mit dem Streit um die paritätische Finanzierung der Sozialversicherung vergleichbar. Das bisherige Prinzip, das zwei Weltkriege, Inflationen und Währungsreformen überlebt habe, sei das »sicherste Versicherungssystem« auf der Welt. Das Absurde ist: Bismarck hat es eingeführt, um die Sozialdemokratie klein zu halten, was nicht aufging, nun fängt Schröder an, sich davon zu verabschieden. »Und dagegen richtet sich unser Protest. Schröder soll auf das Geschrei der Unternehmer nicht hören, er hat ihnen durch seine Steuerreform genug Kohle nach geschmissen. Aber die husten ihm was, stecken die Kohle ein und machen weiter mit der Destruktion.«

Die Unternehmer warten auf Stoiber. Der würde tatsächlich mit den Schnitten ins soziale Netz noch viel weiter gehen, vor allem versuchen, die Tarifpolitik in die Hände der Betriebsparteien zu geben! »Und das wäre ein Umsturz des sozialen Systems.«

Die Sozialdemokratie fällt als Kraft gegen diese Entwicklung immer mehr aus: »In der SPD sehe ich im Moment richtige Auflösungserscheinungen«, sagt Polzmacher, »unsere Betriebsräte und prominenten Metaller sind oft auch als Stadt- und Gemeinderäte aktiv - die zerreißt es förmlich. Diese Schicht unserer Funktionäre verabschiedet sich von der SPD. Die alte ›Ursuppe‹ von Sozialdemokratie und Gewerkschaft ist längst in ihre Bestandteile aufgelöst.«

Von der »Tagesschau« angekündigt

Deutsche Betriebe, sagt Polzmacher, seien jedes Jahr Exportweltmeister. »Was die auf der ganzen Welt verkaufen, wird von Menschen gebaut, die Produktion können.« Deren Bewusstsein habe sich mit der Art und Weise ihrer Arbeit verändert, aber nicht die Tatsache, dass sie von ihrer Arbeitskraft abhängig seien. »Bei Konflikten tauchen Ingenieure, Techniker und Verwaltungsangestellte plötzlich bei den Gewerkschaften auf. Die IG Metall hat Tausende von Neuaufnahmen, auch wenn im Saldo mehr Verluste durch Alter und Entlassungen stehen. Aber der Gedanke der Gewerkschaften ist nach wie vor absolut attraktiv in den Betrieben. Immer wieder merken die Leute, da herrscht nur der Schein von Fürsorge. Und dann ist plötzlich der kollektive Gedanke wieder da: wir müssen uns organisieren, das ist das Einzige, was uns bleibt. Ich erlebe das täglich - der schöne Schein verfliegt wie nichts und die Realität kommt zum Vorschein.«

Polzmacher erinnert an die erste Computerfirma, die bestreikt wurde. Ein amerikanisches Unternehmen. Es war vor zehn Jahren. »Digital Equipment hatte seinen Sitz in München, darum hatten wir die Verantwortung, aber zusätzlich Niederlassungen in 15 oder 16 Städten, so zweieinhalbtausend Leute. Die hatten Spitzenbetriebsräte, Topleute, einige sind später Hauptamtliche in der IG Metall geworden. Also, es gab Krach um den Sozialplan, weil Digital die Hälfte der Beschäftigten abbauen wollte. Wir haben den Kampf um den Sozialplan mit der Tarifsicherheit für die Bleibenden verbinden wollen.

Und dabei ist etwas Eigenartiges passiert, was allerdings für die Branche nicht unüblich war: mit uns Gewerkschaften hat die Geschäftsleitung überhaupt nicht geredet. Auf der Betriebsversammlung habe ich deren Vertreter angesprochen, und der hat nicht geantwortet. Arroganz auf höchstem Niveau. Die Leute wurden darüber immer wütender. Der Organisationsgrad stieg auf über 30 Prozent. Das lief nach dem Motto: ›Wir sind eine Firma, die von der Kommunikation lebt. In der heutigen Welt redet man miteinander. Wenn die Geschäftsleitung nicht will, ist das unter aller Kanone.‹ Schließlich haben wir eine Urabstimmung im IG Metall-Vorstand beantragt. Zwickel war Vorsitzender, der holte uns nach Frankfurt und sagte: Das könnt ihr doch vergessen bei 30 Prozent Organisationsgrad. Es wurde eine fünfstündige Debatte. Vier der wichtigsten Leute aus der Firma waren dabei. Mit denen ist es dann tatsächlich gelungen, Zwickel zu überzeugen. Wären wir mit dem Streik gescheitert, hätten wir alt ausgesehen. Aber wir haben es riskiert. Bei der Urabstimmung waren von den 30 Prozent fast alle für Streik. Wir haben bundesweit nach dem Chaosprinzip einfach einzelne Standorte ausgewählt. Es herrschte große Spannung, was geschehen wird, der erste Termin wurde quasi in der ›Tagesschau‹ angekündigt. Und alle haben mitgemacht - die Standorte waren dicht. Für die Geschäftsleitung ist die Welt zusammengebrochen.«

Offizielle Tarifverhandlungen zu akzeptieren, fiel den Amerikanern noch lange schwer. Bis sie dann doch nach Düsseldorf, ins SAS-Hotel kamen. Von Montag bis Donnerstag wurde verhandelt. Am Ende gab es eine richtige Tarifbindung, für die erste Computerfirma. Und einen Sozialplan - den besten, der für die Branche in der Bundesrepublik jemals ausgehandelt wurde.

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