Es gibt die kleinen Taten, die große Folgen haben. Oder die bescheidenen Handlungen, deren Folgen gar nicht im Voraus berechnet werden. An eine große Glocke werden sie kaum je gehängt. Dass Dieter Lattmann Ende 1989 einen Aufruf formulierte, die linke Düsseldorfer Volkszeitung nicht aufzugeben, war eine solche Tat. Die Redaktion druckte den Aufruf, ohne noch daran zu glauben, dass sie unter den sich verändernden Bedingungen noch eine Chance hätte. Der Verlag meldete ein Konkursverfahren an und gab das neben dem Aufruf bekannt - in der letzten Nummer, die erschien. Darunter stand zwecks Geldsammlung Lattmanns Konto, Städtische Sparkasse München, Stichwort Volkszeitung, nicht einmal fett gedruckt. Doch die Spenden kamen unerwartet reichlich, gleich in den ersten Wochen und danach noch Monate lang. Und so gründete sich die Zeitung im Januar 1990 in Berlin neu, um sich, wie schon öfter erzählt, im November desselben Jahres mit dem Sonntag zum Freitag zu verschmelzen.
Die "kleinen Taten" geschehen kaum aus dem Nichts, sie gehen eher aus einer Biografie hervor, die schon manche Bewährungsprobe bestanden hat. Der Aufruf hätte nicht funktioniert, hätte der Konto-Inhaber nicht Vertrauen genossen, wäre der Name nicht bekannt gewesen. Er hätte auch kalt gelassen, wäre mit ihm nicht ein Ton getroffen worden, der zu jener Zeit erhofft wurde.
Dieter Lattmann schreibt in seinem Aufruf mit erstaunlicher Schärfe gegen die Symptome westdeutschen Allmachtsstrebens an. Kohls zehn Punkte zur Wiedervereinigung waren gerade auf den politischen Markt gebracht. Ob denn eine "bedingungslose Kapitulation der DDR erzwungen" werden solle, fragt Lattmann. Er schreibt vom schwarz-rot-goldnen Rausch der Vereinigung deutscher Widersprüche und einem schlagartigen Verlust an Kritikfähigkeit. Und das, wo "so viel Ermutigendes, Niedagewesenes auf Plätzen und Straßen der anderen Republik geschieht". In seiner Autobiografie sagt er auch im Rückblick, dass "eine Zeitlang alles noch offen schien", er schätzte Gorbatschow, dessen fast verzweifelte Abrüstungspolitik und Glasnost. In dem Aufruf drückt er seine ganze Sympathie für jene aus, die einen besseren Sozialismus wollen.
Die Linke in der Bundesrepublik sei nun zerstreut, beinahe stimmlos, fährt Lattmann in dem damaligen Text fort. "Nicht wenige Strukturen, Traditionen und geistige Treffpunkte der Linken erscheinen dadurch gegenwärtig im Westen wie ausgeleert." Er hat diese Treffpunkte gut gekannt, und es ist schon hinreißend, wie er die Friedensbewegung Anfang der achtziger Jahre beschreibt: wie tief das in die Gesellschaft eingedrungen war, wie sich ungeahnte Mengen bei den Protesten zeigten, aus bis dahin politisch stummen Bevölkerungsschichten, darunter auch Prominente, die sich zuvor kaum in eine regierungskritische Massenkundgebung begeben hätten. Die Ratlosigkeit der Sozialisten sei im Grunde alt, betont Lattmann, nun seien die Skrupel bis zum Empfinden persönlicher Niederlagen geschärft. Doch "der zyklische Prozess für einen Aufschwung der Linken wird kommen ...", sagt er, zugleich fasst er die eigene Illusionslosigkeit in drei Worte: "... aber nicht bald". Und dann wieder sein Credo, das ihn wohl immer geleitet hat: Resignation ist keine Politik.
In diesem Schriftsteller, der auch Politiker war und bleibt, scheinen sich bestimmte deutsche Charakterzüge zu vereinen, die positiven Eigenschaften, die zuweilen anderen Naturen, mediterranen, angelsächsischen oder slawischen, Anlass für freundlichen Spott, gemischt mit Anerkennung, bieten mögen. Und die unter Deutschen selbst schnell abgewehrt werden, wenn jemand sie verkörpert. Als erstes der Ernst: absolut ernst nehmen, was gesagt und versprochen wurde, auch was man selbst tut. Beim Wort nehmen - sich und andere. Nicht mogeln. Glaube an die Vernunft. Zu all dem gehören auch die absolute Zuverlässigkeit und Treue, die er seinen Freunden bewahrt, aber auch seinen Wählern im Allgäu, zu denen er noch 20 Jahre nach seiner Zeit als ihr Bundestagsabgeordneter Kontakt hält. Die Bereitschaft, Konsequenz aufzubringen und gegebenenfalls die Folgen zu tragen, gehört zu dem Charakter. Als Primärtugend gilt Anstand.
Auch Begriffe sind ernst zu nehmen und zu verteidigen. Als erstes das Versprechen der Demokratie. Lattmann gehört zu der Generation - freiwillig gemeldet, mit 16, trotz Skepsis, doch im Sog -, die Demokratie als eine phantastische Eröffnung wahrnahm. Später kam er zur Formel: Demokratie ist noch nicht verwirklicht wie auch Sozialismus noch nicht. Beides sind erst vorläufige Stadien. Der forcierte Antikommunismus als Staatsideologie aber habe mit Krieg zu tun, sei Vorbereitung darauf, sei Kriegserklärung mit Vernichtungsabsicht. So begann er auch auf diesem Feld die Rolle zu übernehmen, die ihm schon immer lag, schon als Kind: Vermittler zu sein, sei es zwischen Kollegen oder zwischen Bürgern und politisch Bewegten, zwischen den linken Gruppen oder auch zwischen den Systemen und Blöcken. Bis heute bleibt der Gedanke und Wunsch anwesend, dass auch in Deutschland "wie sonst in Kontinentaleuropa die Linke eine demokratische Selbstverständlichkeit werde".
Unter diesen eher strengen Eigenschaften liegt eine heftige Sehnsucht nach der Welt, nach Erlebnis und Ausbruch. Am Ende seiner kurzen Lehrzeit in einem Verlag nach dem Krieg ging er auf "die Walz", auf seine eigene, unorganisierte. Er präparierte sein Rad und sein schmales Gepäck, in der Seitentasche Hemingways Wem die Stunde schlägt und fuhr von Braunschweig los durch Dörfer und Städte, durch den Teutoburger Wald, am Rhein entlang. Manchmal bekam er bei Bauern Brot und Milch, "in Entbehrungen trainiert und unersättlich neugierig" fuhr er immer weiter, klapperte alle Verlage ab und gelangte bis Zürich. Ihn schien auch eine Sehnsucht danach zu treiben, mit anderen Menschen zu verschmelzen, ihr Inneres zu verstehen und es zu beschreiben.
Doch es kann immer nur die Annäherung gelingen, ihm setzen auch Selbstkontrolle und Selbstbeobachtung Grenzen. Er ist fähig zum guten Gespräch, kann sein Interesse zeigen, auch widersprechen, ohne zu kränken. So erlebte er viele Schriftstellerkollegen, seine Autobiografie hat etwas von einer Geschichte der Nachkriegsliteratur - aus der Nähe geschrieben. Lattmann denkt ohne Nachsicht über sich selbst nach, über seinen Wunsch, geliebt zu werden, von Kindheit an. Etwas Unbedingtes gehört zu dem Charakter, auch der Mut, sich ohne Selbstschonung auszusetzen. Und doch bleibt ihm bei all der Gedankenklarheit und Gründlichkeit eine gewisse Naivität erhalten, die ihn - wie er es manchen Freunden bescheinigt - in manchen Momenten anfechtbar machen kann, aber die Anfechtungen auch ertragen lässt.
Der SPD ist er treu geblieben. Er guckt ins Parteibuch, da steht: Jeder ist willkommen, der sich "zu den Grundsätzen des demokratischen Sozialismus bekennt." Und auch wenn jene in der Partei immer weniger werden, denen es um Sozialismus geht, will er doch die SPD-Mitglieder, die "an der Basis noch aushalten, nicht allein lassen." Er will sich keine Resignation erlauben. Die sähe er offenbar in einer Trennung von der SPD, die ihn wiederum trotz seiner Tabubrüche irgendwie ertragen hat: als Bundestagsabgeordneter stand er unter dem Schutz seines Berufsstands und somit außerhalb mancher Querelen. Er wusste gewiss die Durchsetzungsfähigkeit der großen Partei zu schätzen. Die Tausenden Künstler, die durch die Künstlersozialkasse KSK eine medizinische Sicherung und eine Rente erhalten, wissen heute kaum noch, dass es im Bundestag sein Projekt war, für das er mit größtem Einsatz gekämpft hat, auch später erneut, als die KSK in Frage gestellt wurde.
Dieter Lattman will die eigene Zeit schreibend begreifen und deuten, aus der Geschichte her und aus dem eigenen Erleben, auch das teilt er mit vielen seiner Generation. Vor allem den deutschen Faschismus historisch zu deuten, ist ein Antrieb, und die mentalen Wurzeln bis in die Familiengeschichten zu finden. Was liegt zwischen den großen gesellschaftlichen Linien und den feinen individuellen? Zwischen Politik und Alltag? Ihn interessieren Lebenswege, in denen sich Geschichte und Persönliches deutlich verbinden, aber auch die Unwägbarkeit von Schicksalen. Hintergrund scheint fast immer seine Frage nach Zivilcourage: wer bringt sie auf, wer nicht? Wann nicht? Und warum?
Es liegen viele Scherben um ihn. Er findet sich nicht leicht ab mit der Ohnmacht angesichts des "auftrumpfenden Kapitalismus - just in dem Augenblick, in dem das Erfolgssystem westlicher Industriestaaten immer erbarmungsloser zu Lasten der überwältigenden Mehrheit der Erdbevölkerung geht", wie er 1989 in seinem Aufruf schrieb. Da gab es von den bevorstehenden Kriegen noch nicht einmal eine Ahnung. Gegen die Ratlosigkeit setzt er als Lösung: "Mit Gleichgesinnten in der eigenen Reichweite" so sozial, human und lebenserhaltend für Mensch und Natur zu handeln wie nur möglich. Die Kommune der Freunde bleibt sein Stück Festland. Und er schöpft schon wieder Hoffnung, wenn er die jungen Leute von Attac sieht: Er erinnert sich an eigene Erfahrungen, aber bremst sich, sie vor ihnen auszusprechen. Er zweifelt, fürchtet, sie wollten sich in ihrem Miteinander einrichten und bestätigen, aber dann blickt er wieder voller Erwartung auf ihre "energetische Phantasie" und will an ihre Ausdauer glauben.
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