Vielleicht wird kein Wochenende mehr so gelingen wie dieses. Die erste "Adventure-Tour" stand unter einem guten Stern. Dabei fuhr man los ohne Erfahrung, begleitet von Skepsis aus allen Richtungen. "Werden sie jetzt noch belohnt für den Mist, den sie bauen?" "Und wer macht eine Reise mit anständigen Jungs?" Angst flatterte mit: das könnte auch ins Auge gehn. Ein Ausflug von Polizisten mit Jugendlichen, die bei der Polizei "einliegen" - deren Straftaten im Computer verzeichnet sind -, ist nicht berechenbar. Den Erwachsenen war das sehr bewusst. Die Jungen ließen die Sache wohl eher auf sich zukommen: Was will die Polizei denn jetzt von uns?
Und dann drei Tage bestes Wetter. Strand, Sonnenuntergänge, Feuer, der Wind immer lau. Tagsüber weite Ausflüge auf Inline-Skates. Acht Jungen, eine Polizistin, zwei Polizisten, ein Organisator vom Landesjugendring, ein Sportlehrer, ein Polizeiseelsorger, eine Reporterin. Sieben Erwachsene waren mit ihnen zusammen, an einem Nachmittag auch eine Künstlerin mit einer Dia-Show. In der Jugendherberge eine Gruppe von jungen Jongleurinnen und Akrobatinnen, coole Mädchen, die am Strand trainierten, an den Jungen nicht uninteressiert waren, aber gleichgültig gegen dumme Sprüche. Unter allen diesen mehr oder weniger zufällig zusammengewürfelten Menschen bildete sich in den zwei ein halb Tagen etwas Freundschaftliches.
Die Polizistin Heidi Schwarz ist das Herz des Unternehmens. Mit ihrem Kollegen Bernd Schumacher bestreitet sie die Abteilung für Gewalt- und Kriminalprävention im Kriminalkommissariat Schwerin, Abteilung Jugend. Der dritte Polizist ist Holger Rausch, Verkehrslehrer. Alle in zivil heute. Heidi Schwarz will einen Erfolg des Experiments, sie glaubt daran: Sowohl die Polizisten als auch die Jugendlichen sollen die Barrieren senken, die sich zwischen ihnen - den Bullen und den jugendlichen Straftätern - auftürmen.
Hindernisse gab es schon im Vorfeld. Die Polizei wollte das Wochenende mit der Jugendgerichtshilfe und dem Jugendring gemeinsam veranstalten. Als sich die Justiz kurzfristig zurückzog, weil sie keine Kandidaten für das Wochenende fand, wandte sich Heidi S. an die "Berufsschule mit sonderpädagogischer Aufgabenstellung der Stadt Schwerin", an der sie häufig ihre Aufklärungsstunden hält. Hier landen die Jugendlichen, mit denen die Lehrer in anderen Schulen nicht fertig werden, 1.000 Schüler sind es. Sie werden auf Berufe vorbereitet und machen ihren Hauptschulabschluss oder auch nicht. Die Sozialarbeiterin der Schule konnte der Polizei helfen.
Acht Schüler zwischen 15 und 18 Jahren fletzen sich auf den Stühlen, geben pampige Antworten, tun so, als würden sie jeden Moment aufstehen und gehen. Aber sie sind doch neugierig. Einer fragt, ob er seinen Freund Christian, der eine Realschule besucht, mitbringen dürfe. Heidi S. lehnt kaum den Wunsch eines Halbwüchsigen ab. Ja, kommt alle. Die einzige Bedingung: kein Alk, keine Drogen. Das unterschreiben sie grinsend. Und pünktlich am Freitag bei der Polizeiinspektion.
Dort hängen sie in Zweiergrüppchen wartend in der Kantine rum, saugen an Saftflaschen und spielen mit ihren Handys, wie von nun an ständig beim Warten, bei Verlegenheiten und Abwehr. Begrüßungen per Handschlag, lautes Lachen bei der Frage, ob wir etwa mit dem Gefangenenbus an die Ostsee fahren, denn da soll es hingehen, nach Zingst am Darß, dem uralten Wald auf dem Fischland, in eine der schönsten Gegenden, die es hier gibt. Der grüne Gefangenenwagen mit den Seeschlitzen steht im Hof vor der Kantine.
Erst nach Ankunft in der Jugendherberge, der Zimmerverteilung, dem Kaffeetrinken verbindet sich alles: als die Inline-Skates verteilt werden und der Sportlehrer Raimund auftaucht, dem es egal ist, ob jemand 17 oder 50, Polizist, Pfarrer oder Jugendlicher ist. Er erwartet nichts anderes, als dass seine Übungen nachvollzogen werden. Alle fügen sich in sein Training, vielleicht vorsichtshalber, weil sie vorher getönt haben, wie perfekt sie im Skaten seien. Noch schnell etwas lernen. Die Erwachsenen haben umgekehrt untertrieben, dass sie noch nie auf Inline-Skates standen. Sie sind ehrgeizig, wollen sich von den Jungen nicht abhängen lassen. Aus einer Box, die junge Leute vom Zingster Jugendhaus aufgestellt haben, dröhnt Techno. Ein Polizist des Ortes begrüßt die Kollegen. Die Jugendlichen aus Schwerin und aus Zingst mischen sich kaum, aber gleiten ohne Unterlass bis in die Dunkelheit nebeneinander her oder aneinander vorbei über den langgestreckten, leeren asphaltierten Parkplatz unter den Dünen. Verletzte lassen sich gern ein Pflaster aufkleben und halten ihre Arme und Beine hin wie ein zu beschützendes, von ihnen getrenntes Wesen.
Wie sie untereinander reden, erschüttert sogar die Polizisten. Im freundlichsten Ton fordert einer: Gib mal Feuer, du Wichser! Die Antwort: Kannst du Knallkopf nicht deutsch reden? Süßlich kommt das Echo: Gib mir bitte Feuer, du Waschweib. - Da, du Hirni. -Und weiter: Was machen denn die Pisser dort? - Ah, da kommen die Mösen. Mensch, guck mal die Titten. - Die doch nicht, du Knallkopf, die andere. - Ach, du schwule Sau. Und wieder suchen sie Zigaretten, denn sie rauchen ständig. Jemand meint, ihm seien vier Zigaretten geklaut worden. Er wisse schon, wer es war. Trotzdem fragt er einen Jungen danach, der mit auf der Bank in der Sonne sitzt, vor dem Aufbruch zu einer der großen Inline-Skate-Touren. Der antwortet: "Wenn ich es wüsste, würde ich es dir nicht sagen." Es haben sich schnell zwei Cliquen gebildet. Wahrscheinlich würde es zum Kräftemessen kommen, wenn die Fahrt länger dauerte.
Ob ihr Redestil aggressiv gemeint ist, hinterhältig oder ein Spiel ist, wissen nur sie selbst. Diese wüste Sprache beherrschen sie alle, die stilleren genauso wie die lauteren, auch der Portugiese Dominique, dem es gelingt, unnachahmlich ironisch zu gucken, ohne dass es gehässig wäre. Ein verächtliches Grinsen verschwindet bei ihm wie ein Spuk und wird ein Lächeln. Über sich sagt er: "Ich sehe wie 12 aus und nicht wie 18, das ist Scheiße." Es scheint mehr seine Angst zu sein. Thomas jagt nach Versprechern, nach Möglichkeiten, Wörter zu verdrehen und Doppeldeutigkeiten herauszukitzeln. Er springt auf sie wie eine Katze. Von ihm käme jetzt blitzartig: Wenn schon, dann Kater.
Heidi Schwarz hat am meisten von den Jugendlichen erfahren. Sie mischt sich unbefangen unter sie wie niemand sonst. Es ist kein pädagogischer Trick, sondern es entspricht ihrem Wesen. Das ist unverkennbar und unwiderstehlich. Das Geheimnis ist das wahre Interesse: Sie interessiert sich genauso für den Haarschnitt wie für die Berufswünsche oder die Probleme der anderen. Und ihre Anteilnahme ist es. Sie spricht dabei so offen von sich, dass andere beginnen, auch von sich selbst etwas preiszugeben. Einmal reden sie von der Angst beim Gewitter. Sie gibt zu: sie habe immer Angst, ohne zu wissen, warum. Und plötzlich sagt einer: Ich habe auch Angst, ich weiß warum, mein Vater hat mich bei einem Gewitter fast totgeschlagen. Und da sagt ein anderer: Mein Vater hat meine Mutter am Stuhl festgebunden und meinen kleinen Bruder an einem Bein aus dem Fenster gehängt und dann mich geholt, und ich musste meinen Bruder an dem Bein festhalten, und dann hat er meine Mutter mit dem Messer bedroht ...
Bei diesen Jungen sind es fast immer die Väter. Sie trinken, sie schlagen, sie verlassen die Familien. Das richtet sich gegen die Mütter und die Kinder, sie sind die Umhergetriebenen, die im Stich Gelassenen.
Die Rollen, die die Jungen für sich gefunden haben, um sich in ihrer Umgebung zu behaupten und an denen sie festhalten, taugen irgendwann nicht mehr, weil sie selbst sich verändern. Manche erkennen es rechtzeitig. Ricardo meint, das Schlimmste hinter sich zu haben. "Das war in der Pubertät", sagt er von den Zeiten, in denen er mit Polizei und Gericht zu tun hatte. Als spräche er über einen anderen. "Jetzt bin ich ruhiger geworden. Habe keine Lust, immer mit denen" - mit den Cliquen in seinem Stadtteil - "rumzuhängen, und dann baut einer Mist und schiebt es auf dich. Einem Kumpel ist das passiert. Das ist mir zu blöd. Jetzt mache ich mehr Sport." Nach der Schule fährt er für eine Firma, wenn Aufträge da sind, als Fahrradkurier durch die Stadt, zehn Mark die Stunde. Er ist geschickt, hilft, erklärt, repariert, vermittelt auch bei Disputen, alles wie nebenbei. "Ich bin eine Zecke, wie man so sagt. Ich sage ja: ein Linker. Ich habe nichts gegen Ausländer, im Gegenteil. Es gibt eben so ne und so ne." - So ne Ausländer und so ne? "Nein, so ne, die Ausländer nicht abkönnen und andere, die nichts gegen sie haben." Es scheint angeboren zu sein.
Am zweiten Tag taucht die Künstlerin Sibylle Leiser aus Greifswald auf. Ihre Dias zeigen Kinder in schwierigen Lagen. Sie erzählt von den Schicksalen der verlassenen, verprügelten, hungrigen, rebellischen Kinder. Erkennen sie sich darin? Die Hälfte spielt mit den Handys. Fehlt etwas? fragt die Künstlerin. Irgendjemand antwortet: die Weiber. Lachen. Dann kommt ein wirklicher Beitrag: Wie ein Jugendlicher von der Polizei abgeführt wird, fehle. Oder wie ein Kind in der Zelle sitzt. Es geht unter. Was sie hassen? Die Verbote, das Reinreden der Eltern, die doch früher denselben Mist gebaut hätten wie sie. Heidi S. will für die Eltern Verständnis wecken: Sie meinten es gut. Die Jungen lachen höhnisch. Sie lässt nicht locker und erzählt von ihrer 16jährigen Tochter. "Wie heißt sie? In welche Schule geht sie?" Heidi überhört die Sprüche, spricht weiter, es fällt der Satz: Auch ihr werdet einmal Eltern sein. Und da weisen einige auf Horst: Er ist schon Vater. Es wird still. Die es schon wussten, gucken triumphierend in die Runde. Er, der 16jährige, bleibt gelassen: "Warum denn nicht?" Am nächsten Tag klärt er auf, dass er eine Freundin mit Kind hat, das nicht seines ist.
Die Künstlerin fährt im Programm fort: Was müsste anders sein? Was wünschen sie sich? Ich höre leise: Den Hauptschulabschluss machen, als Stoßseufzer. Denn eigentlich haben sie nichts Stabiles: eine Lehre, die keinen Beruf nach sich ziehen wird, eine Stadt, die kaum Arbeitsstellen zu bieten hat, eine Familie in Auflösung, Freunde, die rumhängen, eine Wohngegend, die verrufen ist. Sie kommen fast alle aus den Neubaugebieten Schwerins. Man muss nur hören, wie das gesagt wird: vom Großen Dreesch. Dreesch 1, Dreesch 2, Dreesch 3. Auch sie selbst sagen es irgendwie entschuldigend, wenn auch mit Trotz.
Nach dem missglückten Gruppengespräch drängen sie aus dem Raum, stürzen in die Kantine. Dort aber, am Tisch, reden die vorher Ablehnendsten plötzlich aufmerksam und offen mit der Künstlerin. Ein Gespräch in der ganzen Runde gelingt kein einziges Mal auf dieser Reise. Niemand von den Anwesenden weiß warum.
Der Polizeiseelsorger Andreas Schorlemmer war bei einer Tour mit den Inline-Skates kopfüber gestürzt und hatte sich überschlagen, zu Füßen der am Waldweg wartenden, voraus gelaufenen Jungen. Sie hatten ihm aufgeholfen, seine Gelenke geprüft, die Schürfungen gereinigt. Beim obligaten Abschlussgespräch sagt er: "Ich habe gesehen, dass ihr Leute seid, die nicht lachen, wenn jemand auf die Schnauze fällt." Da spricht der Pfarrer, der das Positive sucht und verallgemeinert. Irgendwo kichert es verlegen, denn natürlich kennen sie die Schadenfreude gut. Aber er hat Recht, es gibt bei ihnen deutlich Hilfsbereitschaft, Mitgefühl, sie sind großzügig und haben einen aufmerksamen Blick. Ob es das alles bei ihnen mehr gibt als bei Schülern derselben Jahrgänge, die nicht soviel Widersprüchliches erlebt haben wie sie?
Am Morgen der Abfahrt sagt einer im Hof: "Ich will nicht weg!" Das klingt bockig und voll der sekundenlangen Hoffnung, es könnte ein Tag angehängt werden. Manche hatten schon vorgeschlagen, eine dritte Nacht in den Kleinbussen zu schlafen. Die Reise war ein Erfolg. Man mochte einander, das Wichtigste von allem. Wird das bei Polizisten und Jugendlichen als Erinnerung auftauchen, wenn sie sich jagen, verhaften, erwischen, entwischen? Heidi S. sagte: "Das Schlimmste wäre für mich, wenn ich einen von ihnen nach Bützow oder Neustrelitz bringen müsste", in eines der Jugendgefängnisse. Wird sich von der Ausnahmesituation irgendeine Verbindung zum Alltag herstellen? Oder bleiben das getrennte Dinge? Ein gutes Erlebnis - ohne Folgen?
Die Polizisten und die Jugendlichen wollen sich wieder treffen, zu einer Tour um den Schweriner See. Die Aktion war nicht allzu teuer, 1000 DM für Übernachtung und die Mahlzeiten. Die Gehälter sind ja eingeplant, die Busse vorhanden. Einmal pro Jahr können sie nun solche Touren wiederholen, wurde beschlossen. Heidi Schwarz aber wird am folgenden Samstag Abend ihre Uniform anziehen, die Waffe umschnallen und zum Dienst gehen. Ein Sondereinsatz.
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