Für die Gemetzel und Vertreibungen in Serbien, Kroatien, Bosnien war kein Hass nötig. Es gab ihn nicht, zumindest nicht am Anfang. Diesen Gedanken, den der Grazer Journalist Nobert Mappes-Niediek schon einmal in einem Freitag-Beitrag (Freitag 5/2006) ausgeführt hat, legt er in seinem Buch über die "Ethnofalle" nun ausführlich dar. Mit diesem frappierenden Gedanken reißt er ein ganzes Gedankengebäude ein: Denn war nicht ein tief verwurzelter Hass die einzige Deutung, die griff? Musste nicht der Grund für die selbstzerstörerischen Kriege in Jugoslawien ein Erwachen böser Geister sein, die auf ihre Stunde gewartet hatten? Wer nicht alle feinen Verwicklungen studieren wollte, griff nach dieser Erklärung und begrüßte den "alten rachsüchtigen Adam", mal auftrumpfend, mal depressiv.
Dass da vorher kein Hass war, belegt Mappes-Niediek mit vielen Daten, Geschichten, Beobachtungen. Er geht zu Recht davon aus, dass erst einmal ein Berg von Zweifeln an dieser Feststellung zu überwinden sein würde. Denn mit dem Krieg wucherte der Hass und brachte auch seine Legenden hervor. Zu ihnen zählte der "Mythos vom mordenden Nachbarn", der besonders schlüssig schien und auch manche psychoanalytische Interpretation nach sich zog. Mappes-Niediek hat es geprüft: Belege dafür, dass sich Nachbarn gegenseitig umbrachten, waren kaum zu finden. Die Mörderbanden kamen von woanders: "Die Täter, vor allem die schlimmsten, waren die Freischärler: entwurzelte junge, oft kriminelle Männer; sie stammten vielfach aus Belgrad, manchmal aus den Vorstädten von Nis, Novi Sad oder Sarajevo." Wahrscheinlich war der Mythos, vermutet der Autor, ein Versuch, "den neuen Nationalismus mit der eigenen Biographie zu versöhnen und die eigene Umorientierung plausibel zu machen." Man sagt mit dieser viel kolportierten Geschichte quasi: Zwar haben wir wirklich Jahrzehnte lang als gute Nachbarn mit den anderen gelebt, doch wir wussten ja nicht, welcher Verbrechen sie eines Tages fähig sein würden.
In seinem Buch beschreibt Mappes-Niediek, dass Jugoslawien an einer ganz speziellen Konstellation zerbrach, die noch dazu weltweit als vorbildlich galt. Dort hatte sich ein ausgeklügeltes Proporz-System der "Völker und Völkerschaften", der ethnischen Gruppen und Einheiten herausgebildet. Alle zehn Jahre fand eine Volkszählung statt, bei dieser Gelegenheit konnte sich jeder selbst definieren. Die Zuordnungen verwiesen kaum auf kulturelle Unterschiede, heißt es im Buch, denn die waren fast erloschen, lebten gerade noch als Folklore. Stereotype und Ressentiments zwischen den Völkern gab es, aber sie ähnelten denen, wie sie in wohl allen Ländern zu finden sind, bis hin zu den immer gleichen Witzen.
In Jugoslawien waren allerdings alle Bürger und Bürgerinnen des Landes genötigt, sich "national" zu definieren. Nur dadurch konnten sie einen Platz im herrschenden System der Quotierungen einnehmen. Weil die Muslime in Bosnien nicht in dieses Raster passten, war da eine Lücke entstanden, und um sie zu schließen, wurde Anfang der sechziger Jahre die muslimische Nation erschaffen, die eigentlich eine konfessionelle Gruppe darstellte. Man konnte sich auch als "Jugoslawe" erklären, aber das wurde wider Erwarten nicht einmal gefördert, die Kategorie passte eben nicht ins System der austarierten ethnischen Gruppeninteressen, auf dem die jugoslawische Staatsraison beruhte, und die Tito als eine spezielle Herrschaftsform zu verewigen suchte.
Mappes-Niediek nennt es das System des "Runden Tischs". Runde Tische haben seines Erachtens eine Berechtigung in Übergangszeiten. Das Prinzip lebt vom Konsens, die gleichberechtigt Beteiligten sind genötigt, sich stets zu einigen. Mehrheitsentscheidungen sind dazu ein absoluter Gegensatz. Der Konsens war nicht immer erreichbar, bald riefen die Gruppen nach einem Schiedsrichter, den die Jugoslawen in Tito hatten. Der Schiedsrichter achtete auf das Gleichgewicht, er machte sich unentbehrlich. Dazu bot ihm das System reiche Möglichkeiten, bis hin zum Erfinden neuer Nationen. Je unübersichtlicher und heterogener die vielen ethnischen Gruppen, desto meisterlicher ließ sich mit dem System ein Land lenken, wofür im Buch auch kuriose Beispiele stehen.
Mit unverkennbarem Vergnügen an Geschichte zieht Mappes-Niediek seine Vergleiche mit der Habsburger Monarchie, die dieses Prinzip erfand und entwickelte, um ihren heterogenen Vielvölkerstaat zu dirigieren. Tito kannte das System noch selbst als junger Mann, er reicherte es mit sozialistischen Kategorien an, die er dann selbst wieder zugunsten der Vielvölkergedankens in den Hintergrund drängte. Das Buch ist voller Material, erzählt auch manche bekannte Geschichte neu, bringt eine eigene Ordnung in Informationsfetzen, die nach den Jahren der täglichen Kriegsberichte herumschwirren.
Doch der über Jahrzehnte so hochgelobte Proporz der Ethnien blockierte letztlich die Gesellschaft und behinderte wegen der vielen kniffligen Rücksichten vor allem die wirtschaftliche Entwicklung. Er wurde zur Falle. So kam es dazu, dass sich nebeneinander zwei regierende Schichten etablierten: Politiker, die bis aufs äußerste über die Wahrung der Gruppeninteressen wachten, und "Technomanager", die ideologiefrei und supranational agierten. Als sich in der Krise Jugoslawiens die nationalen Parteien gründeten, gehörten die dort so genannten Technomanager anfangs nicht zu ihnen. Doch sie fingen rasch an, sich ihrer zu bedienen, aus der Erwägung, dass die Völker Jugoslawiens nicht auf dem Verhandlungsweg aus ihrer "Ethno-Falle" finden würden. Zumindest nicht so schnell, wie es ihnen nach dem Wegfall der bipolaren Welt, in der sich das sozialistische Jugoslawien auf besondere Weise eingerichtet hatte, wünschenswert schien.
So waren, das ist ein Fazit von Mappes-Niedieks Buchs, die "Aufteilungskriege kein Wahnsinn, sondern Ergebnis einer Verschwörung der reformwilligen Eliten zum Nachteil der Bevölkerung gleich welcher Nationalität." Diese Eliten verfielen dabei selber keineswegs dem Nationalismus, sie hielten Kontakte und schonten einander.
Mappes-Niediek geht es mit diesem Buch nicht in erster Linie darum, die Ursachen des jugoslawischen Zerfalls erneut zu untersuchen, sondern Europa die eigenen Probleme vorzuführen. Denn es funktioniere, wie er beunruhigt wahrnimmt, mit seinen seltsamen politischen Konstruktionen selbst wie ein Runder Tisch, seit es mit dem Euro zu einer Wirtschaftseinheit geworden ist. Da sind eine Menge Parallelen zum "unglücklichen Jugoslawien" zu entdecken: Das Schönreden, Feilschen, die nur vorgetäuschte Gleichberechtigung, die Blockade als Mittell etwas durchzusetzen. Und auch in Europa beruhe, wie er betont, das Konfliktpotenzial zwischen den europäischen Völker nicht auf historischen Gegensätzen: "Es ist vielmehr deren alltägliche Konkurrenz um politische und wirtschaftliche Chancen". Gegebenenfalls lasse sich aber leicht wieder in die Mottenkiste des Nationalismus greifen, das sei nie ein Kunststück, warnt er.
Mappes-Niediek will das Prinzip Demokratie dagegen setzen, auch gegenüber ethnischen Minderheiten und Einwanderern: jeder Mensch soll Bürger mit den gleichen Rechten sein und nicht seine Sicherheit, seine Rechte aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ableiten. Nur dieser Grundsatz würde Europa entwicklungsfähig machen. Kollektive Rechte, die an Gruppen verteilt werden, hätten, wie Jugoslawien zeige, die Eigenschaft, die Unterschiede zu befestigen, die es zu überwinden gilt. "Wenn die europäische Integration weitergehen soll, muss es auch ein europäisches Staatsvolk geben." Und das könne nur aus den Individuen bestehen, die Staatsbürger sind. Weil in Jugoslawien die Entwicklung des Staatsvolks verfehlt wurde, zerbrach es auf so schreckliche Weise.
Dass Einflüsse von außen eine Rolle spielten, deutet Mappes-Niediek nur am Anfang des Buchs an: 1991 bekam die Europäische Union in den Maastrichter Beschlüssen ihre Konturen. Das beobachteten die Völker im Osten: "Hier entstand etwas Neues, von dem man auf keinen Fall ausgeschlossen bleiben durfte. Es war ein Magnet, der die Vielvölkerstaaten des Ostens zerriss. Keiner von ihnen überstand den Wettlauf nach Westen." Er will aber damit keinen äußeren Mächten eine Verantwortung für das Auseinanderbrechen Jugoslawiens zuschreiben. "Es war Westeuropas pure, fette Existenz. Jeder massige Körper wirkt nach den Gesetzen der Physik magnetisch auf seine Umwelt."
Schuldzuweisungen interessieren Mappes-Niediek wenig, weder im Innern Jugoslawiens noch bei anderen Staaten. Er möchte hier vor allem das falsche Prinzip vorführen, das tut er wohltuend unaufgeregt und ohne Dämonisierungen. Mit Vorwürfen an äußere politische Mächte halten sich auch viele Jugoslawen zurück, um jeden Verdacht zu vermeiden, dass sie Schuld von sich selbst abwälzen, von den "eigenen Leuten", der eigenen Geschichte. Für einen Autor aus dem Westen gilt dieser Grund nicht, seine Zurückhaltung wird so eher zur Schonung der westeuropäischen Politik, die sie nicht verdient. Wir sind schließlich Teil des Kräftefelds, das Jugoslawien zerriss und kennen die ungeheuren Bestrebungen der großen Mächte um Ausdehnung von Einfluss, und wir erleben, wie sie dabei immer wieder die unterschiedlichen Schwächen von Staaten zu nutzen verstehen.
Norbert Mappes-Niediek: Die Ethno-Falle. Der Balkankonflikt und was Europa daraus lernen kann. Ch. Links Verlag, Berlin 2005, 223 S., 14,90 EUR
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