Vom Ufer losgemacht

SUPPENKÜCHE Hier wird Essen für Obdachlose gekocht, und es werden viele Geschichten erzählt

An der Tür der S-Bahn steht ein alter Mann mit leerer großer Tasche und schaut bei jedem Halt hinaus. Ohne über ihn nachzudenken, bleibt mein Blick an ihm hängen: Er hat einen lockeren Stand, irgendetwas scheint ihn auf den Bahnhöfen zu interessieren, keine Verbissenheit an ihm wie sie von den anderen alten Leuten ausgeht, die da hocken. Ich bin auf dem Weg zu einer Suppenküche, bang, denn dort kenn ich keinen Namen, habe keine Kontakte, mit denen sonst die Erkundungen beginnen. Franziskanerkloster, weiß ich - Wollankstraße in Pankow - die größte Küche für Obdachlose in Berlin, die erste in Ostberlin.

Er nickt geduldig und versucht resigniert, seine Zeile wieder zu finden

Plötzlich sehe ich ihn in der Schlange der Obdachlosen wieder, die sich durch den Hof an der Essensausgabe zieht. Schon liegt das erste kurze Gespräch mit Bruder Peter, dem verantwortlichen Franziskanermönch in kariertem Hemd und Schürze hinter mir. In den kommenden Wochen werde ich in der Küche helfen und so versuchen, etwas von dem ganzen Unternehmen zu verstehen. Der Alte ist also zu demselben Ziel unterwegs gewesen. Wochen später werde ich die Gäste der Suppenküche von der Pein des Schwarzfahrens reden hören: Jeder hat sich da seine eigene Art zugelegt, mit den Kontrolleuren umzugehen, mit Witz, Muff oder Aggression. Der Alte hat die Begegnung offenbar lieber ganz vermeiden wollen. Wer erwischt wird, muss aussteigen, wird aber meist einfach stehen gelassen, schlimmstenfalls aufgeschrieben. Wenn sich solche Anzeigen summieren, kann das eines Tages im gefürchteten Knast enden

In der Wärmestube, die zur Suppenküche gehört, sitzt ein Mann tief in seine wattierte Jacke versunken, aus der nur der Kopf voll dunkler Locken und die fast schwarzen Finger ragen. Er liest. Neben ihm sitzt eine Frau mit festem, weißen Haar, die laut in ostpreußischem Tonfall über die Welt räsoniert. Frauen sind selten in der Männergesellschaft der Obdachlosen. Er nickt geduldig und versucht resigniert, seine Zeile wieder zu finden. Als er einmal den Platz verlässt, schaue ich auf das Buch. Es ist die Autobiographie von Richard Krebs, einem deutschen Kommunisten, der im Krieg Spion für die Sowjetunion war, den es auch in die USA verschlug, einer, der in die Mühlen der damaligen Mächte geraten war. Das Buch ist in den fünfziger Jahren erschienen. Den Namen kenne ich nur durch Zufall: eine Freundin bereitet über ihn eine Sendung vor.

Das Radio tönt über dem Stimmengewirr im Raum, wo einige Dutzend Leute das winterkalte Schmutzwetter überstehen und auf das Mittagessen warten. Sie lesen, legen den Kopf auf den Tisch und schlafen, trinken Kaffee und tauschen sich aus, wo Essen geboten wird, wo eine Schlafgelegenheit ist, wo es Kleidung gibt. Schwarze Pfützen bilden sich auf dem Kachelboden. Unzählige Geschichten werden in diesem Raum erzählt. Ob sie stimmen, fragt niemand. Nach dem Lockenkopf halte ich zwei Monate lang vergeblich Ausschau.

Christa zeigt mir die Arbeit, wir zupfen ausgekochte Hühner und Gänse auseinander, von denen die Brühe für die Suppe abgegossen ist. Die bleichen Tierleiber sind heiß, unsere Hände werden rot und bis zu den Knöcheln fettig. Christa gehört zum festen Stamm der Helfer und kommt jede Woche an zwei Tagen. Man kann hier sicher auf sie rechnen. An Tischen und Bänken werden Brötchen geschmiert, Mohrrüben und Zwiebeln geschnitten. Manche tun es in Schweigen versunken, andere plaudern über die Tische hinweg. Irgendwann beginnt Christa, von ihrer Tochter zu erzählen, die nicht mehr lebt.

Das Mädchen war mit neun Jahren querschnittsgelähmt. In der DDR gab es zu jener Zeit keine kleinen Rollstühle. Jemand besorgte einen Kinderrollstuhl aus der Schweiz. Christa hat immer wieder die ungewöhnlichste Hilfe mobilisieren können. Vielleicht gelang es ihr, weil etwas Mildes, Leichtes, Vertrautes von ihr ausgeht. Wenn sie kommt, freuen sich die Leute.

Nie habe sie, sagt sie, einen so erschöpften Menschen gesehen

Ihre Tochter wurde mit 16 Jahren taub. Sie war stets bei vollem Bewusstsein und konnte sprechen, bis zuletzt. Sie nahm dieses Schicksal mit der unfassbaren Geduld an, die solche Kinder aufbringen. In Gießen war ein Spezialist für neurochirurgische Operationen bekannt. Dorthin wurde sie aufgrund eines medizinischen Abkommens zwischen der DDR und der BRD geschickt. Doch der Professor erschrak bei der Untersuchung, er wagte die OP nicht. Nur in New York kannte er einen Chirurgen, dem er das zutraute.

Wie soll ich denn nach Amerika kommen?, fragte Christa verzweifelt. Der Professor setzte eine Großaktion in Gang: Die Lufthansa übernahm den Flug, die DDR übernahm die OP-Kosten, Bonn verschaffte ihr ein Visum, Mutter und Tochter flogen nach New York. Zur ersten Untersuchung in der Klinik bat man einen dortigen Arzt zum Übersetzen, der sträubte sich anfangs: Seine Familie sei von den Nazis umgebracht worden, warum solle er für eine Deutsche etwas tun? Sie beschwor ihn: Was kann ich denn dafür. Aus der ersten langen Operation erwachte das Mädchen mit gelähmten Händen. Christa schrie. Der Arzt setzte die Operation am selben Abend fort, noch einmal acht Stunden. Er fand einen weiteren Tumor. Sie wartete im Aufenthaltsraum. Endlich kam er. Nie habe sie, sagt sie, einen so erschöpften Menschen gesehen. Sie fielen sich in die Arme.

So erzählt Christa ihre Geschichte im hohen Geräuschpegel des Raums, bei wachsenden rosa Fleischbergen, über denen wir die Köpfe zueinander neigen. Der New Yorker Chirurg hat das Leben der Tochter für acht Jahre gerettet. Anfang 1989 ist sie mit 23 gestorben. So eigenartig für Christa, dass die Geschichte ihrer Tochter ausgerechnet 1989 ein Ende fand. Denn da begann ein ganz anderes Leben: Entlassung aus der Werbeabteilung der Reichsbahn, Angebot der Frührente, das sie resigniert annahm, der Wunsch, dennoch etwas Nützliches zu tun, eine Odyssee bei der Suche nach einem geeigneten Ort und endlich die Wollankstraße. Die war es. Die Helferinnen und Helfer, zwei Mönche, eine Nonne des Franziskanerordens, die Köchin, der engste Kreis von Obdachlosen, die inzwischen zu den ständigen Helfern gehören, sporadisch eine Sozialarbeiterin, sie alle gehören zu der verantwortlichen Gruppe, fast ohne Hierarchie. Sie sind auch befreundet und nennen sich mit leichter Selbstironie Familie.

In dem Raum, wo wir Fleisch, Gemüse, Brötchen vorbereiten, werden wie auf ein Signal hin die Kisten, Wannen und Bretter weggeräumt, die Tische gewischt, der Boden gefegt. Zwölf Uhr mittags, vor dem großen Sturm, essen die Helfer. Rund 20 Personen sammeln sich aus den verschiedenen Räumen des Komplexes. "Komm Herr Jesus und sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. - Gelobt sei der Herr Jesus Christus." Eine andere Stimme beendet das Gebet: "In Ewigkeit. Amen." Es bekreuzigen sich nur die Franziskaner, Simone aus Augsburg, die ein soziales Jahr hier absolviert, und Albert, einer der ehemaligen Obdachlosen. In einer halben Stunde werden sie bis zu 500 Essen austeilen, die Plastikschalen und Töpfe abwaschen und sich zum Schluss noch einmal zu einem Kaffee zusammensetzen. So geht es sechs Tage in der Woche. An jedem Nachmittag werden die Geräte und Räume auf einen Nullpunkt zurückgeführt. Die Arbeit eines Tages ist stets vollkommen abgeschlossen. Es wird sehr still.

An der unwirtlichsten Ecke steht der Lockenkopf. Er steht im roten Licht der Abendsonne an einem U-Bahnausgang vor einer Baustellenwand. Die dicke Daunenjacke fehlt. Sein Name ist Klaus, erfahre ich jetzt. Was er damals gelesen hat? Ach ja, über den Richard-Sorge-Typ. Eine Punkerin kommt heran und teilt mit ihm ihre vier Mark, die sie erbettelt hat. Da ich nun dabei stehe, ohne doch dazu zu gehören, bekommt sie große Lust, von sich zu erzählen. Zu der Fremden, die für Momente akzeptiert ist, spricht sie von den verlorenen Freundschaften und ihrer vagen Idee von einem wahrhaftigen Leben. Da wird sie weggerufen. Und als wollte er die entstandene Lücke füllen, erzählt Klaus seine Geschichte.

Er kann auch sitzend schlafen, zumindest "abnicken"

Klaus macht Platte, ist obdachlos ohne jede Rückversicherung, kriegt auch keine Sozialhilfe, weil er seinen Ausweis längst verloren hat. Die Nacht zum Sonntag hat er in der S-Bahn überstanden. Richtung Schönefeld und zurück. Die Nächte verbringt er meist an öffentlichen Orten, er kann auch sitzend schlafen, zumindest "abnicken". Vermutlich kann er sich auf einem Sitz zusammenrollen, so zierlich, wie er ist. Das Gesicht ist breit, der Mund, die Augen sind wie von einem Kind hineingezeichnet. Wie mag alles angefangen haben? Nach dem Abi -, erwähnt er. Da ist ein Anfang: Nach dem Abitur ist er erst mal drei Jahre "zur Fahne, zur Armee gegangen". Die Begriffe zeigen: er kommt aus dem Osten, wie etwa die Hälfte der Gäste in der Suppenküche. Nach der Armeezeit wollte er in Leipzig forensische Psychologie studieren, Gerichtspsychologie, erklärt er mir. Aber es gab nur 30 Studienplätze. So fing er in Berlin-Köpenick als Plaste-Schiffbauer an.

Daran erinnert er sich gern. Einmal haben sie bei der Leipziger Messe das Surfbrett einer bayerischen Firma genau untersucht und durchgesetzt, dass es bei ihnen nachgebaut wurde. Er erklärt ausführlich die Materialien, welche die DDR selbst herstellen konnte und welche sie importieren musste. Ihre ersten Surfbretter probierten sie selbst auf dem Müggelsee aus. Aber sie konnten gar nicht surfen. Wenn sie umstürzten, wussten sie nicht, ob es an den Surfbrettern oder ihrer Unfähigkeit lag. Wegen der giftigen Farben hat er aufgehört. "Auf die Gesundheit muss man achten", erklärt er. "Ich mache, solange ich gesund bin, weiter Platte. Wenn ich mal krank werde, gucke ich mich nach einer Bleibe um."

Klaus ging vom Schiffbau zum Containertransport der Reichsbahn. Im Rostocker Hafen wurden Früchte aus Kuba eingeladen oder teure rare Farbfernseher aus Skandinavien. Es wimmelte von Polizisten, die die Containerzüge zu bewachen hatten. Man musste höllisch wegen der Zielbahnhöfe aufpassen, sagt er. Einmal ging eine große Ladung nach Bulgarien statt in die Sowjetunion, und er sollte Schadensersatz zahlen, natürlich nur eine leere Drohung, winkt er ab. Er war auch sechs Jahre und einen Monat im Gefängnis, auf drei Mal verteilt, erwähnt er nebenbei. Warum der Knast? Hier in der Wollankstraße fragt man nicht, warum. Hier waren viele im Knast, in der DDR und im Westen.

Er habe sich Deutschland angesehen, redet Klaus weiter. Am meisten den Norden. Seltsamer Weise zieht es hier viele Männer in den Norden. Skandinavien nennen sie oft als ihren Traum. Klaus war mit zwei anderen zu Fuß unterwegs, drei Leute sei die beste Zahl. Sie sind am Tag so 15 bis 20 Kilometer gelaufen, von Amt zu Amt. Er wundert sich, dass ich nicht gleich verstehe: "Na, Sozialamt! Da stehn dir doch pro Tag 17 Mark 50 zu. Reicht für Zigaretten, Bier, Essen. Aber die kriegste immer nur an einem anderen Ort. Einen Ausweis musst du haben." Er hat jetzt keinen mehr. Ein großer Teil der Leute hier lebt ohne Ausweis: Verlust der Papiere und die Abneigung gegen Ämter, das macht sie endgültig zu den Außenseitern, die sich in jene Welt der Obdachlosen begeben und dort das Überleben lernen. Der Übergang kann offenbar schnell gehen, in wenigen Monaten. Wie er selbst in die Obdachlosigkeit geraten ist, hat Klaus in den vielen Anekdoten schlau verborgen. Das Weggelassene fällt erst später auf.

Und dann ist er wieder mit einem Buch in der Wärmestube. Diesmal ist es Aitmatows Lied der Wölfin, eine alte Sonderausgabe des Kürbiskern, vor vielen Jahren übersetzt von meinem Studienkollegen Friedrich Hitzer. Die vergessenen Bücher zirkulieren hier und finden glücklich noch einmal ihre Leser, die sich aus Pappkartons mit Krimis, Trivialromanen, Biografien, Geschichtsbüchern ihre Fundstücke herausholen und ihnen durch ihr Interesse wieder Leben einhauchen.

Da wandern Menschen zu Fuß, mit Fahrrädern, Bussen und Bahnen in einem eigenen Tempo und Rhythmus durch die weitverzweigte Stadtlandschaft. Wenn sie an einem Punkt in den Blick geraten, lösen sie Unbehagen und auch schlechtes Gewissen aus. Ihre rätselhafte Existenzweise jenseits der befestigten Ufer eines etablierten Lebens beunruhigt. Für Sekunden öffnet ihr Anblick einen Spalt für die Urangst, ins Unbekannte weggeschwemmt zu werden. Ihre Wege bilden imaginäre Linien, die niemand in den Grundriss der Riesenstadt einzeichnet. Auf der Suche nach Nahrung ziehen sie umher wie die frühen Menschen von Wasserstelle zu Wasserstelle. Statt durch Wälder und Steppen bewegen sie sich nun durch die Straßen der Städte. Da sammeln sie sich zu den immer gleichen Stunden an bestimmten Stellen, um wieder auseinander zu gehen zu ihren verstreuten Schlafplätzen. Es geschieht vollkommen offen, und bleibt doch ungesehen.

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