Wie mächtig der Traum ist

Julia und Lukas Wer denkt, merkt schnell, wo die Fehler in der Gesellschaft sind

Das Mädchen mit den Rasta-Haaren geht wie eine Tänzerin um die Tische. Es balanciert seine Haare. Die Schürze reicht bis zum Boden. Vielleicht ist deshalb das Gehen wie ein Gleiten. Fast ein Schweben. Das Schürzentuch eng um die schmale Gestalt gewickelt, es reichte für zwei von ihrer Art.

Woher kommt sie?

Im Eiscafé Isabelle arbeitet die Welt: Italien, Persien, Spanien, Äthiopien. Das Mädchen ist blond, das Deutsch perfekt. Das Mädchen könnte aus einem Dorf sein, es hat etwas Festes trotz der Leichtigkeit und schaut die Leute an, ohne sich zu zieren. Einmal hockt es sich zu einem kleinen Jungen nieder fragt ihn etwas und wartet lange auf die verweigerte Antwort. Die Augen bleiben ohne Ablenkung auf den Jungen gerichtet. Und plötzlich antwortet er und streckt sich. Unter ihrem Blick streicht er sich selbst über seinen kleinen Körper. Er fängt an zu erzählen.

Nicht zu schnell fragen.

Warten, was sich von allein zeigt.

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Ich biete sie ihr an, habe zwei Exemplare.

Später sagt sie, sie sei eine Station zu weit gefahren beim Lesen. Sie ist erregt von der Entdeckung der Zeitung. Die anders ist. Die ihr passt. Dann sagt sie: Wir planen eine Veranstaltung zur sozialen Dreigliederung. Als spräche sie ein Rätsel aus. Als wäre sie von Dunkelheit umgeben.

Wir - das sind mein Freund Lukas und ich. Und ein Freund, das heißt - ein Mann, der - aber das ist eine lange Geschichte.

Ich heiße Julia.

Sie erzählt, denn sie erträgt es nicht, die Tatsachen wie Fetzen auszustreuen. Sie muss die Zusammenhänge sichtbar machen. Als Anfang der Geschichte wählt sie den Kurs des Philosophielehrers. Ein halbes Jahr vorm Abitur setzte er das Thema Utopie: Wirtschaft - Staat - Kultur. Sie durften ihre Idee entwickeln, ihre Utopie musste logisch sein, nicht realistisch. Er gab ihnen aus seiner Bibliothek Ökotopia von Ernst Callenbach und Futurum II von B.F. Skinner. Sie schrieben, stritten. Der Lehrer hörte ihnen zu wie sonst niemand.

Eine der Gruppen, in die sie sich teilten, beschrieb einen Ordnungsstaat, mit Todesstrafe. Julia und Lukas hingegen entwarfen eine Gesellschaft der Gleichberechtigten. Ihre Regulative wären Gerechtigkeit und wirkliche Freiwilligkeit.

Und dann gingen sie zusammen nach Berlin, das war vor einem Jahr.

Woher aber kommst du, Julia?

Aus Krasnojarsk, ja, aus Sibirien. Als sie kam, war sie zehn. Deutsch sprach sie nicht. Brunsbüttel, wo die Elbe in die Nordsee fließt, wurde ihr Ort, wie auch für Lukas, der mit neun aus Bydgoszcz in Polen einwanderte. Beide Spätaussiedlerkinder.

Auf dem Schulhof redeten die beiden manchmal miteinander, spielten Volleyball. Im zehnten Schuljahr kam er plötzlich in ihre Klasse. Setzte sich neben sie. Das änderte alles, sagt sie: endlich jemand, der sie kannte. Denn die anderen kannten sie nicht, sie war bis dahin stumm und ausgeschlossen.

Sie zog sich verrückt an, provozierte, fing an zu reden, war nun anwesend. Und Lukas sagt: In meinem Hirn sind Millionen Synapsen aufgesprungen. Durch Julias Fragen, ihre Begeisterung für das Lernen. Bis dahin hat er sich als Klassenclown durch die Schule gerettet: Ich habe die Lehrer zur Weißglut getrieben und die Schüler unterhalten.

Hast du etwa in Krasnojarsk davon schon gehört?

Lukas: Wer denkt, merkt schnell, wo die Fehler in der Gesellschaft sind. Alles auf dieser Erde funktioniert in ähnlichen Systemen, wenn man dahinter gekommen ist, welche Mechanismen das sind, kann man viele Zwänge überwinden, aber es gibt diesen Schmerz. Der führt zu Depressionen oder zu extremen Taten.

Julia: Der Gedanke, dass man zu klein ist, um grundlegende Sachen verändern zu können, macht krank. Wenn man in die Geschichte blickt - wie oft Menschen schon versucht haben, etwas zu ändern. Auch die Studentenbewegung 1968. Warum musste die in der RAF enden, fragen wir uns. Dabei können wir verstehen, warum sie Bomben geworfen haben, wir haben dieselben Gedanken, denn man redet und redet, und es ändert nichts. Es war damals Verzweiflung.

Lukas: Immerhin haben die Achtundsechziger den Grundstein für unsere Generation gelegt. Sie haben bewirkt, dass wir uns viel freier bewegen können. Damals haben sie gegen die Väter rebelliert, das war Feindschaft, heute gehen die Älteren mit, oft gehen sie viel weiter und sind freier als die Jüngeren.

Julia: Wir sind mit dieser Vergangenheit aufgewachsen, auch mit der Musik, den Vietnam-Demonstrationen.

Hast du etwa in Krasnojarsk davon schon gehört? frage ich nun doch. Julia: Nein, damals habe ich nur davon geträumt, nach Deutschland zu gehen. Ich weiß gut, wie mächtig der Traum vom westlichen Leben ist, er existiert auf der ganzen Welt. Es wird den Menschen - ich weiß nicht, wie das funktioniert - eingepflanzt: das ist der Traum, das ist der Wunsch, danach sollt ihr streben, das ist das absolut Gute. Es gibt ja überall Menschen, die in Not leben, die benachteiligt sind, die wenig Selbstbewusstsein haben und ihr Leben nicht für richtig und gut halten. Und immer wird ihnen dieser Traum von Amerika und Westeuropa vor Augen gehalten, das Paradies, die schöne Welt. Es wundert mich nicht, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Deutschland zu kommen. Als bei mir mit acht oder neun Jahren die ersten Konflikte mit anderen Menschen auftraten, da war es immer so befreiend für mich, zu denken, ich werde nach Deutschland ziehen. Ich wartete auf den großen Moment, in dem sich alles für mich erfüllen würde. Die ersten Monate habe ich hier wie im Schlaf zugebracht

Lukas betrachtete, als er nach Deutschland kam, ausgiebig den kurz geschnittenen Rasen in den Vorgärten. Im Fernsehen lief allabendlich eine Werbung, eine tiefe Stimme sprach: Deutschland ist schön. Das drang in ihn ein, denn er kam ohne Vorbereitung, ohne Sehnsucht. Erst am letzten Abend hat er erfahren, dass sie ausreisen würden. Sag Oma und Opa auf Wiedersehen! Dann brachte ein Verwandter sie im Auto nach Hamburg. Dort kamen sie für ein paar Monate in eine Massenunterkunft für Flüchtlinge und Aussiedler auf einem Containerschiff. Seine Eltern sah er erstmals in höchster Unsicherheit.

Der erste Sommer, in dem ich nicht nach Russland gefahren bin

Berlin geriet durch eine Klassenfahrt in ihr Blickfeld. Lukas: Wir sind im Prenzlauer Berg gewesen, haben die Kulturbrauerei gesehen, die interessanten Leute dort. Julia setzt fort: Ihre Offenheit, die Freundlichkeit, sofort kam dieses Gefühl, hier gehöre ich her. Hier fühle ich mich zu Hause, obwohl ich es vorher nie gesehen habe. Es war sonnenklar, ich möchte in keiner anderen Stadt studieren und leben. Lukas: Wir mussten noch vier Jahre bis zum Abitur warten. Dann kamen wir im Winter an, mussten eine Wohnung suchen und mir verging die Lust an Berlin. Was für eine riesengroße, hässliche Stadt. Julia: Und es gab keine Jobs. Ich habe schlimme Arbeiten gemacht, richtige fiese Ausbeutung. Bis zum Eiscafé. Da bin ich den ganzen Sommer geblieben. Das war eine echte Erfahrung, die Arbeit in der Gastronomie, die Leute in Kreuzberg. Es war der erste Sommer, in dem ich nicht mit der Familie nach Russland gefahren bin.

Lukas: Langsam kann ich mich mit Berlin abfinden, weil ich interessante Zirkel gefunden habe. Vor allem durch die Agentur für Alternativen. Julia: Für mich ist Berlin, auch Krasnojarsk, sogar Brunsbüttel, ein Zuhause, es gibt nicht nur eines, der ganze Globus kann es eigentlich sein. Lukas: So fühle ich nicht. Auch wenn ich die Lebenssituationen akzeptiere, will ich nicht aufhören, zu hinterfragen, dafür brauche ich Distanz. In der westlichen Welt, wo so vieles falsch läuft, will ich mich nirgends zugehörig fühlen. Und wenn ich in andere Länder gehe, ist es vielleicht aus Begeisterung für ländliches Leben oder in Asien für Erkenntnisse einer Zivilisation, die schon viel früher mehr wusste als der Westen jemals wissen wird. Ich würde gern dorthin ziehen, aber ich weiß, auch da würde ich nicht dieses Gefühl haben, hier bin ich zu Hause.

Für das angestrebte Studium der Kommunikation muss Lukas ein Praktikum nachweisen. Im Internet stößt er auf ein Angebot der Agentur für Alternativen. Dort melden sich 20 Praktikanten, alle werden genommen. Der Agenturgründer, Sebastian Schöck, ist ein charismatischer Träumer. So beschreiben ihn beide. Er entwickelt viele Ideen, am liebsten würde er nur von ihnen leben. Er will kein Chef sein. Jeder darf sich mit seinen Fähigkeiten einbringen, ohne Vorgaben. Den meisten fällt nichts ein, sie springen ab.

Bis auf Lukas. Er hat mit Julia Schöcks Film People have the power angeschaut: über die Selbstverwaltung der Menschen nach dem Prinzip der soziale Dreigliederung von Rudolf Steiner. Da sahen sie die von ihnen selbst entworfene Utopie wieder. Ohne je den Namen Steiner gehört zu haben, waren sie zum gleichen Gesellschaftsbild gekommen wie er. Wenn auch mit anderen Worten. Vielleicht ist es schon tausend Mal erfunden worden? Denn wenn die Gesellschaft für alle Menschen lebbar sein soll, für alle nach ihren Möglichkeiten, dann kommt man, so vermuten beide, immer zu den selben Schlüssen.

Sie wollen keinen Guru, keine Schule, keinen Religionsersatz. Jeder Mensch hat den eigenen Weg zu finden und zu gehen, meinen sie. Noch in Brunsbüttel haben sie sich mit Buddhismus beschäftigt. Im buddhistischen Zentrum Hamburg haben sie meditiert. Das war gut, alle gingen glücklich nach Hause und fragten nicht mehr weiter. Von Nietzsche haben sie mitgenommen, dass man immer weiter fragen muss. Ihr Lesen ist produktiv, sie holen sich den für sie wichtigen Gedanken heraus. Und übernehmen ihn in ihr Denken.

Lukas kann in der Agentur Filme schneiden. Zehn kurze Videos und ein längeres von 20 Minuten liegen vor. Grundlage des langen Films ist das Gedicht eines Freundes, die Musik stammt zum Teil von der englischen Undergroundband Radiohead, ein Codename der Verständigung für junge Leute. Musik ist zentral. Die Grundstimmung ist melancholisch. Und manchmal ist da der Wunsch, sich aufzulösen.

Der Wunsch, wie durch einen Zauberstab zu verschwinden

Ich habe auch solche Tage, sagt Julia, als ich ungläubig nachfrage. Nichts geht weiter. Man findet alles, was auf dieser Erde geschieht, schlimm und sieht sich völlig unfähig, daran auch nur das Geringste zu ändern. Ich denke manchmal: So kann ich nicht weiterleben. Das geht einfach nicht. Ich will es nicht, ich lehne es ab, es zerstört mich. Ich sehe nur zwei Wege vor mir - entweder mich anpassen oder komplett rausfallen. Und in diesem riesigen Konflikt kommt die Sehnsucht hoch, sich aufzulösen. Selbstmord wäre ja so ein Schritt. Aber für jemanden, der gern lebt, der gern hier ist und das Leben liebt, ist der Schritt unmöglich, wäre paradox. Deswegen gibt es den Wunsch, wie durch einen Zauberstab zu verschwinden.

Julia will Schauspielerin werden. An der Universität der Künste bewirbt sie sich vergebens. Irgendwie ist die Aufnahmekommission mit ihr nicht einverstanden, es kommt zu einem Wortwechsel, fast einem Streit. Sie wird im Herbst an einer privaten Schauspielschule beginnen, denn warten will sie nicht. Dafür jobbt sie so viel und spart. In ihrer Utopie spielt der Gedanke eine Rolle, keine Lebenszeit durch abwegige Schulprogramme und sonstige Umwege zu verlieren. Alle sollen ihre Talente früh entwickeln dürfen.

Nachdem Lukas als letzter Praktikant mit Sebastian Schöck allein bleibt und Gefühle der Vergeblichkeit die Räume der Agentur für Alternativen durchziehen, beschließen Julia und Lukas, eine Veranstaltung zu organisieren, in der das ganze Programm von Schöck, vor allem seine Filme, vorgestellt werden. Irgendetwas werde passieren, erwarten sie. Neue Kontakte, neue Impulse, vielleicht ein großes Staunen über die plausible Idee der sozialen Dreigliederung. Sie besorgen den Raum, stellen eine Werbe-CD her, suchen Kontakte zu Medien, entwerfen Flyer und ein DIN A 3 Plakat, schwarz-weiß, ein wenig verwirrend. Schöck stellt mit neuer Zuversicht seinen Film Die Überwindung des Nationalismus - Freiheit der Völker oder Freiheit des Einzelnen? fertig.

Zwei Wochen vor der Veranstaltung stürzen Zweifel Julia in ein schwarzes Loch. Gerade da stößt sie bei Rudolf Steiner auf eine Stelle über den Selbstzweifel, der ähnlich wie ein Alptraum über einen komme durch das Würgen von Luzifer. Sie sieht darin eine Schwächung, die zum Verzicht aufs Handeln führt, zum Rückzug aus der Verantwortung, so sieht sie es. Und sie merzt ihre Zweifel aus. Ein bisschen esoterisch, ja? bemerkt sie lächelnd und hebt ihre Schultern. Wer stört sich daran?

Die Veranstaltung der Agentur für Alternativen mit Filmen und einer Inszenierung von Julia Gorr findet am heutigen Freitag, dem 5. September 2003, von 19 bis 23 Uhr, im Haus der Demokratie, Berlin, Greifswalder Straße 4, statt.

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