Zwischen Pathos und Ironie

Polen im Sommer 2006 Alte Freunde, neue Denkmäler, die Geschichte und ihr neues Gesicht. Momentaufnahmen in Warschau und Berlin

Im schönen Ski-Ort Zakopane, ganz im Süden Polens, wurde ein Denkmal für einen gewissen Jozef Kuras´ mit dem Kampfnamen "Ogien" (Feuer) eingeweiht. Seine Kampftruppe hat nach dem Krieg bis ins Jahr 1950 in der Region, nahe der slowakischen Grenze, als "Partisanen für die Unabhängigkeit Polens und die Freiheit des Menschen gegen die sowjetischen Okkupanten" gekämpft. Das lese ich in der Zeitung Trybuna am 14./15.8.2006. Kuras´ Truppe tötete Kommunisten, Leute, die mit den neuen Behörden zusammenarbeiteten, Juden und dort als Minderheit lebende Slowaken, von denen dann 6.500 flüchteten. Gegen ihre Ehrung haben Abgeordnete aus Zakopane, jüdische Kämpfer der Heimatarmee Armia Krajowa, slowakische Historiker seit Jahren protestiert. Die Enthüllung des Denkmals nahm Präsident Lech Kaczynski vor. Welcher Geist herrscht in Polen?

Dampfendes Rührei im Speisewagen

In einem meiner alten Polen-Reise-Tagebücher finde ich am 14. August 1989 die Zug-Notiz: Der Mais steht noch, auf den gemähten Feldern liegen verstreut die gepressten Strohballen. Sonnenblumenfelder, struppige Brache, Baumgruppen, Alleen, die von den Gleisen wegführen. Unverputzte Häuser zwischen Gärten und Feldern, Bauernfleiß, der keinen Wohlstand bringt ... Dasselbe könnte ich in diesem August wieder schreiben. Von Berlin sind es nur 80 Kilometer bis zur Oder, Tausende Polen arbeiten - meist schwarz - in Berlin, Polen ist nebenan. Dennoch war ich seit jenem Sommer vor 17 Jahren nicht mehr dort, vorher oft, hatte auch die Sprache gelernt.

In diesem August begegnet mir das "Andere" schon an der Haustür, die Taxifahrerin fragt aufgeräumt: Geht´s in´ Urlaub? Nach Warschau, sage ich. Schweigen, dann wechselt ihr Ton zur Skepsis: Sie besuchen da sicher jemanden? - Ich war früher oft dort, möchte sehen, was sich verändert hat. Die Erwartung bürstet sie ab: Da hat sich bestimmt nichts verändert. Da nicht. Nee, mit den ganzen Polen, Sie werden es ja sehen, und machen kann man da sowieso nichts. Das Ressentiment will sie gar nicht verbergen, umgeht allerdings geübt politisch unkorrekte Wörter. Das Vermeiden unstatthafter Begriffe ohne Änderung der Meinung ist, so glaube ich, eine deutsche Kunst.

Im Zug beginnt Polen wirklich, noch bevor die Grenze erreicht ist. Im Abteil zwei junge Männer, ein blickloser amerikanischer Globetrotter und ein höflicher Pole, der meine Tasche ins Gepäcknetz hebt. Der Speisewagen WARS leicht altmodisch, mit Tischen, Stühlen, Deckchen und einer Kellnerin, die etwas von einer verarmten Adligen hat: so korrekt, eigentlich vornehm und doch von einer Müdigkeit, die sich schon lange in ihr angesammelt haben muss. Alle Gäste bestellen Rührei, das kommt locker, dampfend, frisch bereitet. In deutschen ICE-Speisewagen gibt es nur noch vorgebratenes, in der Mikrowelle aufgewärmtes Rührei.

Für manche deutschen Polen-Reisenden sind die Masuren, die polnische Ostseeküste oder Krakau zu ihrem Geheimtipp geworden. Vielleicht haben sie auch über Vermittler ein Haus gekauft, ein Mitreisender sagt, manche Gegenden seien längst "in deutscher Hand". In den Siebzigern war Polen für Reisende - aus Ost und West! - ein ganz besonderes Ziel. Von der DDR aus ging es zwischen 1973 und 1980 ohne Visum, Polen zog Ostdeutsche wegen der kulturellen Offenheit und auch der Weite mächtig an. Die BRD-Türen gingen Ende 1972 auf, als endlich die Ostverträge durch waren, die faktisch die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs besiegelten. Jugendgruppen, Volkshochschulen, Aktion Sühnezeichen und andere kirchliche Gruppen bereiteten sich auf Besuche intensiv vor, setzten sich mit Geschichte, mit Krieg und Faschismus auseinander und liebten bald Polen für sein schweres historisches Schicksal, seine umgänglichen, witzigen Menschen, die wieder aufgebauten Altstädte, für das besondere Flair, die Filme, Plakate, Dichter und die unberührte Natur. Auch geflüchtete und ausgesiedelte Familien fuhren in ihre Heimatorte, es kam zu unzähligen menschlich anständigen Begegnungen, zu Beweisen von Großherzigkeit, die damals fast eine politische Dimension hatten. Manche genossen auch die unverhohlenen antisowjetischen Ressentiments in Polen, die ihr Weltbild so angenehm bestätigten. Westdeutsche labten sich an Beweisen, dass sie wegen ihrer guten D-Mark als Gäste den Ostdeutschen vorgezogen wurden. Und doch kam es auf Zeltplätzen, in Kneipen, auf sommerlichen Plätzen immer wieder zu den besonderen Dreier-Begegnungen: ost-westdeutsch-polnisch. Spuren, die davon geblieben sein müssen, sind kaum noch lesbar.

Die Grenzkontrolle zieht in Oliv durch die Wagen, Deutsche und Polen gemeinsam, die polnische Beamtin schiebt die Pässe durch ein Sichtgerät, das sie wie einen Bauchladen vor sich trägt. Dann die erste Stadt, Rzepin, und tatsächlich, die Fassaden sind grau wie immer, es ist nicht alles neu verputzt und renoviert. Doch als ich nach sechs Stunden aus dem Warschauer Hauptbahnhof trete, sehe ich rund um den Kulturpalast, das sowjetische Geschenk, eine Phalanx neuer, gläserner Hochhäuser aufragen.

Korrigierte Reliefs in Stein und Bronze

Jurek, Jahrgang 1940, führt mich durch die Altstadt Warschaus, wo sich die kühnen und verzweifelten Aufständischen 1944 verschanzten und von den deutschen Truppen vernichtet wurden. Er weiß über die Kämpfe alles. Eigentlich wollen wir einfach spazieren gehen, die Sonne ist aufgetaucht. Noch gehen wir gelassen durch das Unigelände, er zeigt mir die Stelle im Hof, wo er einst als Student mit anderen von der schönen Assistentin des künftigen Professors aufgelesen wurde. Wir betrachten eine neu angebrachte Bronzetafel, auf der Kämpfer der Polnischen Heimatarmee gewürdigt werden, der Armia Krajowa. "Sie durfte unter den Kommunisten nicht genannt werden", klärt er mich auf. Gefeiert wurde sie tatsächlich nicht, auf den vielen damals angebrachten Gedenktafeln hieß es "polnische Patrioten". Jetzt verteilen sich die korrigierten Reliefs in Stein und Bronze über die ganze Stadt. Ob Kämpfer und Opfer der Volksarmee, Armia Ludowa, die mit der Sowjetunion verbündet war, und anderer politischer Orientierungen noch vorkommen? Einmal sehe ich eine der alten Steintafeln: "Hier haben die Hitleristen (hitlerowcy) 34 Geiseln erschossen." Wie dankbar waren in den siebziger Jahren Besucher, dass nicht überall pauschal stand "die Deutschen haben ..."

Wir laufen die Prachtstraße mit dem irritierenden Namen Krakauer Vorstadt, Krakowskie Przedmescie, auf die Altstadt zu, vorbei an einer Parade der Denkmäler, dem neuen von Kardinal Wyszynski und den alten des Romanciers Boleslaw Prus, Chopins, des Fürsten Poniatowski, eines Statthalters des Zaren und des Nationaldichters Adam Mickiewicz. Immer verraten sie einen historischen Bruch, eine nationale Euphorie, das Zugeständnis eines Fremdherrschers. An der barocken Kirche Siòstr Wizytek mit Rokoko-Interieur erzählt Jurek, dass hier heute gern "snobistische" Hochzeiten begangen werden, fast scheint er froh, dass er etwas sagen kann, worin kein Pathos verborgen ist. Am berühmten Hotel Bristol betrachten wir kopfschüttelnd ein neues Schild: das alte, noble Hotel ist verkauft und trägt den Namen einer Kette. Auf einer perfekten Werbetafel werden Jobs auf Baustellen in Irland angeboten: ein junger Mann im Overall, Blick in die Zukunft gerichtet, dazu die Adresse eines Hotels, in dem man sich melden könne. Es sollen schon 200.000 junge Polen dort arbeiten.

Wir sehen durch eine breite Querstraße das neue Pilsudski-Denkmal auf dem Pilsudski-Platz, der früher lange Saski-, dann Hitler-, dann Sieges-Platz hieß. Jetzt also ist es der Name des Staatsgründer des nach dem Ersten Weltkrieg wiedererstandenen Polen, des autoritären, antikommunistischen, der für die Volksrepublik Polen immer eine Verlegenheit darstellte. Unser Gang wird allmählich eiliger, Jurek hat zu viel zu erzählen, die Geschichte nimmt ihn in Besitz, die polnische und die eigene. Er hat 1980/81 im Untergrund das Radio von Solidarnosc betrieben, 18 Monate lang, wurde 1983 verhaftet, kam dank einer allgemeinen Amnestie bald wieder frei und ist mit seiner Familie nach Kanada ausgereist, dort lebten sie 15 Jahre, er arbeitete beim kanadischen Rundfunk und für polnische Exil-Zeitungen, aber bald auch wieder für Zeitungen in Polen. Er reiste her, ihn trieb die Sehnsucht.

Am Ende stehen wir vor einem ungeheuren Denkmal für die Aufständischen, übergroße realistische Bronzefiguren. Das Konzept stammt aus den Jahren 1970/71, erzählt Jurek, auch Datum eines Umbruchs, "aber die Kommunisten haben die Realisierung unterbunden". 1981 seien sie schon zu schwach gewesen, um es weiterhin zu verhindern, der Bau begann und wurde in den Neunzigern abgeschlossen. Der sonst Ironie und Spott liebende Jurek ist so im Bann der Geschichte, dass er mir auch noch die Figuren erklärt, die so leicht verständlich sind: zwei symbolgeladene Szenen - der Kampf und die Tragödie.

Ausstellung der Teilwahrheiten

Die Zwillinge an der Spitze des Staates sind meinen Freunden peinlich, aber direkte politische Befragung ist ihnen wiederum lästig. Auch früher war es so: knappe, flüchtig scheinende Bemerkungen sollten reichen. Sie durften auch doppelbödig sein. Dass etwas offen blieb, hielten sie gut aus. Die Kunst des Aphorismus war schließlich fast eine polnische Kunst. Die sogenannte "lustracja", die Revision oder Inspektion der Leute auf eine Zusammenarbeit mit dem polnischen Geheimdienst SB hin, die nun so verspätet von der neuen, rechten Regierung nach dem Vorbild der Stasi-Aufarbeitung in Deutschland in Gang gesetzt wird, bringt von Anfang an Unheil: Gerüchte, Verleumdungen, schreierische Demaskierungen, die sich in nichts auflösen, Erregung, groteske Verdächtigungen. Sie hat auch konkrete Folgen: in Berlin gibt es seit einigen Tagen einen neuen polnischen Botschafter, weil aus den Akten des bisherigen ein SB-Kontakt ans Tageslicht geholt wurde. Die Lustracja soll den Patriotismus stärken, wahrscheinlich dient sie eher als Karrierekarussell. Oder es geht einfach darum, die Gesellschaft in Unruhe zu versetzen, zu beschäftigen, zu entsolidarisieren, weich zu klopfen für ein muffiges, selbstbezügliches politisches Klima.

In dieser Zeit marschieren 30.000 israelische Soldaten in den Südlibanon ein, nach Wochen des Bombardements, aber seltsamer Weise finde ich dazu in der Gazeta Wyborcza nur hinten auf den Auslandsseiten in recht knapper Form Informationen, in den TV-Nachrichten eher am Rande. Mehr Platz gibt es für einen Artikel über manipulierte Fotos von Opfern im Libanon in einem Ton, als wären damit alle Berichte in Zweifel zu ziehen. Und als in London die Gruppe der verdächtigen Attentäter hochgeht, sind die Schlagzeilen für drei Tage gesichert. Die Medien, aber auch ihre Konsumenten, greifen danach, erregen sich. Der israelische Krieg hingegen scheint sie in die Klemme zu bringen, sie wollen ihn nicht offen rechtfertigen, aber sehen sich auf USA-Seite, wollen nicht Abstand nehmen, weichen aus, halten das Thema klein.

Aus Deutschland kommt die Nachricht von der Eröffnung der Ausstellung des Bundes der Vertriebenen "Erzwungene Wege". Dass der Warschauer Oberbürgermeister demonstrativ seinen Besuch in Berlin absagt, wird in Zeitungen zwar als unsinnig kritisiert. Aber es gibt nicht nur die offizielle Empörung. Ich werde danach an verschiedenen Orten gefragt und höre den Groll heraus: Nimmt es denn nie ein Ende mit der Stimmungsmache der Vertriebenenverbände? Wollen sie uns Polen die Schuld zuschieben für ihre Flucht und ihr Nachkriegsschicksal?

Nach der Rückkehr fühle ich mich verpflichtet, diese Ausstellung anzuschauen. Viele Besucher, sie studieren ernst die Tafeln oder hören aufgezeichnete Berichte mit Kopfhörern an. Bekanntlich wird nicht allein die Vertreibung der Deutschen behandelt, sondern jeweils in Kurzform eine ganze Reihe der schrecklichen und gewalttätigen Bevölkerungsumschichtungen, Genozide, Fluchtbewegungen im 20. Jahrhundert. Die Veranstalter, deren Hauptmotiv 50 Jahre lang der für sie nicht hinnehmbare Verlust der "deutschen Ostgebiete" war, haben nun verblüffender Weise die Idee des ethnisch reinen Staates verantwortlich gemacht. Das wirkt so blass-gelehrt-neutral, ist nicht falsch, aber nur eine Oberflächendefinition, die keinen Anstoß erregen soll. Es klingt heuchlerisch. Wie auch früher immer, wenn die Vertriebenenpolitiker ihre demokratische Gesinnung beweisen wollten, halten sie der Welt ihre Erklärung von 1950 hin: keine Grenzveränderung mit Gewalt. Ihre Plakate mit deutschen Landkarten "Dreigeteilt - niemals!", die die Bundesrepublik jahrzehntelang begleiteten, sollen vergessen werden. Ob sie von der CDU/CSU jeweils instrumentalisiert wurden, wenn es opportun schien, gegen die Oder-Neiße-Grenze Stimmung zu machen - auch 1972 gegen die Ost-Verträge, selbst noch gegen die endgültigen Grenzverträge im Jahr 1989/90 - oder ob sie selbst dieses Gewicht auf die politische Waagschale brachten, ist unklar. Sie waren einfach ein Element des Kalten Krieges.

Die Vertriebenenpolitiker sind gelernte deutsche Sprachjongleure geblieben, die wissen, was gesagt werden darf, was nicht. Diesmal ist es ein Balance-Akt. Sie wollen Akzeptanz für ihr geplantes Museum der Vertreibung. Haben aber zugleich der polnischen Regierung den juristischen Kampf um Entschädigungen angesagt. Ihre Mitglieder wiederum sind von der Ausstellung überfordert: sie finden dort nicht wie gewohnt ihr Leid in voller Geltung. Es ist hier so nüchtern und verfremdet dargestellt. Das beklagen sie im Besucherbuch. Aber sie könnten wieder Trost finden, es gibt Zeichen für eine Richtungsänderung in der deutschen Erinnerungskultur, die ihnen gefallen dürfte. Die unangenehme Vorstellung taucht auf, dass sich polnische und deutsche "Patrioten" in gegenseitiger Abneigung und zugleich im politischen Einverständnis über die Oder zuwinken.

Beiträge zu den manipulierten Fotos von Opfern im Libanon und zur Ausstellung "Erzwungene Wege" des Bundes der Vertriebenen siehe jeweils Freitag 33/06.


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